94. Kapitel

Die tiefhängenden schwarzen Wolken einer Gewitterfront verdunkelten den Himmel, von der üblichen Abenddämmerung war nichts zu sehen. Sabine steuerte den Mietwagen zügig über eine pitschnasse Fahrbahn, während die Wischerblätter im strömenden Regen auf Hochtouren arbeiteten, es hin und wieder donnerte und die Scheinwerfer des entgegenkommenden Verkehrs sie blendeten. Immerhin würden sie bald die deutsch-österreichische Grenze erreichen, hinter der gleich Kufstein lag.

In den letzten Stunden war alles ganz anders gekommen, als sie geplant hatten. Jeglicher Flugverkehr von Deutschland ins Ausland war aus Sicherheitsgründen eingestellt worden. Stattdessen hatten sie das Glück gehabt, noch zwei Plätze für einen Lufthansa-Flug von Frankfurt nach München zu ergattern, wo sie sich einen Mietwagen genommen hatten. Damit fuhren sie seit gut einer Stunde in südliche Richtung.

Wegen der neuen Anschläge in Stuttgart, Köln und Dortmund, von denen sie kurz nach Sneijders Telefonat mit Vicky erfahren hatten, waren Teile des Bahnverkehrs zum Erliegen gekommen. Die Bomben hatten eine Politikerin in ihrem Auto in der Tiefgarage eines Bahnhofs getötet, die Server-Hauptzentrale eines Versicherungsriesen in Schutt und Asche gelegt und die oberste Etage des Bürogebäudes eines Erdgaskonzerns getroffen, bei dem der Public-Relations-Manager ums Leben gekommen war. Niemand wusste, was als Nächstes passieren würde.

Aber inzwischen gab es bereits weitere Nachrichten. Sneijder, der neben Sabine auf dem Beifahrersitz saß, las gleichzeitig den Infoticker auf seinem Handy und tippte auf dem Sendersuchlauf des Autoradios herum, um eine der zahlreichen Sondersendungen hereinzubekommen.

» … die jüngsten Ziele waren ein Verlags- und Medienhaus in Leipzig und ein privater TV-Sender in Hannover« , drang die Stimme des Nachrichtensprechers aus den Lautsprechern, » beide Anschläge konnten jedoch – so der Polizeipressesprecher – in letzter Sekunde verhindert werden.«

»Zum Glück …« Sabine ließ die angespannten Schultern sinken.

»Die Spezialeinsatzkräfte haben jeweils neunzig Kilogramm C4-Plastiksprengstoff sichergestellt und entschärft«, ergänzte Sneijder, während er übers Handy wischte. »Verlag und TV-Sender wurden geräumt, die Leute evakuiert. Wären die Bomben hochgegangen, wären mehrere Dutzend Menschen ums Leben gekommen.« Er seufzte. »Was veranlasst die Terroristen dazu, einen privaten Sender zu sprengen?«

»Welchen denn?«

» Niedersachsen Konkret.«

»Aha«, murmelte Sabine mit trockener Kehle.

»Was heißt aha

»Na ja, der Sender ist für seine reaktionäre Berichterstattung bekannt und befeuert mit seinen Reportagen jede Menge Verschwörungstheorien … behauptet Marc zumindest«, erklärte sie.

»Wenn das so weitergeht, wird in Kürze die Hölle los sein.«

Ist sie das nicht schon? , dachte sie. »Gab es noch weitere geplante Anschläge, die verhindert werden konnten?«

Sneijder scrollte weiter auf seinem Handy. »Nein, bis jetzt nicht. Drohmeier ist deswegen gerade mit dem BND in Kontakt.«

»Und noch immer lässt sich kein durchgehendes Schema bei den Zielen erkennen«, überlegte Sabine und ließ die bisherigen Anschläge im Geiste Revue passieren. »Staatsnaher Betrieb, der siebenhundert Leute kündigt, Bankier der Kreditanstalt für Wiederaufbau, Manager der Rüstungsindustrie, zwei Politiker, eine Ölfirma, ein Erdgaskonzern, eine Versicherung, ein Verlag und ein TV-Sender. Was wollen die? Wo ist da der gemeinsame Nenner?«

»Womöglich gibt es den gar nicht«, vermutete Sneijder. »Vielleicht wollen sie einfach nur Anarchie und Chaos stiften. Und die Willkürlichkeit der Ziele macht es schwieriger, ihren nächsten Schritt vorherzusagen.«

»Glauben Sie das wirklich?«

Er hob die Schultern. »Eigentlich nicht, aber im Moment fällt mir keine andere Antwort darauf ein.«

Sabine konzentrierte sich eine Zeitlang schweigend auf den Verkehr. Nur noch ein paar Kilometer bis zum Grenzübergang in Kiefersfelden. Sie dachte an die vielen Toten und all das Leid, das die Anschläge verursacht hatten. An all die trauernden Angehörigen. Trotz ihres gefährlichen Berufes war es für Sabine unvorstellbar, dass Marc etwas zustoßen würde. Oder ihrer Familie in München. Fast beneidete sie Sneijder, der bis auf seinen Basset Vincent niemanden hatte, der ihm nahestand und um den er wirklich trauern würde.

»Darf ich Sie etwas Privates fragen?« Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Sneijder das Handy weglegte und aufsah.

»Hm?«, murrte er nur.

»Bei unserem Speed-Dating in Augsburg haben Sie mir von Ihrem ehemaligen Lebensgefährten erzählt … Arne Roth.« Sie machte eine Pause. »Sie sagten, er sei an einer Immunschwäche gestorben. Wie lange waren Sie zusammen?«

Sneijder antwortete nicht.

»Haben Sie damals bei ihm in Genf ge…?«

»Das erzähle ich Ihnen ein anderes Mal – nicht jetzt«, unterbrach er sie.

»Zu privat?«

»Nein, zu wenig Zeit, um es Ihnen in allen Details begreiflich zu machen.«

»Es ist okay, wenn Sie nicht darüber sprechen wollen, ich …«

»Außerdem will ich das hören.« Er deutete zum Radio, in dem gerade die Zwanzig-Uhr-Nachrichten eines österreichischen Senders liefen.

» Das Attentat auf die deutsche NPD-Politikerin Astrid Wespenthal-Römer schockiert unser Nachbarland. Erst kürzlich stand die Politikerin wegen ihrer umstrittenen Autobiografie in den Schlagzeilen. Ob ihre Ermordung mit den Aussagen in ihrem Buch zusammenhängt, lässt sich im Moment noch nicht sagen. Kommen wir jetzt zu den Regionalnachrichten. Innsbruck – zwei Jugendliche …«

Sneijder drehte den Ton leiser.

»Sie müssten auch einmal Ihre Memoiren schreiben«, scherzte Sabine. »Wird sicher ein Renner. Vanilletee, Marihuana und Cluster-Kopfschmerzen. Ein Leben am Abgrund – in drei knappen und präzisen Sätzen. « Sie drehte den Kopf und blickte zu ihm.

»Gute Idee«, sagte er nachdenklich. Anscheinend meinte er das wirklich ernst. »Dann könnte ich mein eigenes Buch bei Haital klauen und hätte gleichzeitig …«

»Moment mal …«, unterbrach sie ihn. Ihr war soeben ein Gedanke gekommen, der sie schlagartig wieder ernst werden ließ. »Wissen Sie, in welchem Verlag Wespenthal-Römers Buch erschienen ist?«

Er sah sie kurz nachdenklich an. »Nein …« Dann tippte er auf seinem Handy herum. »Ich weiß nur, dass es damals vor einem Jahr einen großen Medienrummel darum gegeben hat … ah, hier steht es. Im Kölpel-Verlag mit Sitz in …«

»Leipzig«, kam sie ihm zuvor. »Das ist das Medienhaus, das beinahe in die Luft geflogen ist, richtig?«

»Stimmt.«

»Worin ging es in diesem Buch?«

»Soweit ich mich erinnere, verharmloste sie darin den Klimawandel und propagierte Kohle, Öl und Erdgas als unbedenkliche Energiequellen. Scheint, wenn ich das hier richtig sehe …«, er scrollte auf seinem Handy nach unten, »… nicht die einzige Veröffentlichung des Verlags zu diesem Thema zu sein.«

Sabine kaute an der Unterlippe. »Googeln Sie mal den Namen des Bankiers, der bei der KfW gearbeitet hat, im Zusammenhang mit Umwelt- und Klimaschutzprojekten.«

Sneijder tippte auf seinem Handy herum. »Sie hatten den richtigen Riecher …«, sagte er nach einer Weile. »Der Mann hat sich gegen die Förderung erneuerbarer Energiequellen ausgesprochen und stattdessen dreistellige Millionendarlehen für den Ausbau von Kohletechnologien bewilligt.«

Sabine dachte nach. »Und bei wem ist dieser Hamburger Ölkonzern versichert, der in den Greenwashing-Skandal verwickelt war?«

Sneijder tippte erneut auf seinem Handy herum. »Bei der Stuttgarter Zweigstelle des internationalen Versicherungsriesen Medeen  & Lloyd

»Und wo ist der Erdgaskonzern versichert, dessen Bürogebäude heute in die Luft geflogen ist?«

» Medeen & Lloyd« , sagte Sneijder nach einer Weile. »Die heute selbst Ziel eines Bombenanschlags wurden.« Er suchte weiter auf seinem Handy. »Die Versicherung ist übrigens auch an einer Großbank beteiligt, die dick im Ölgeschäft drinnen ist.«

»Und die fliegt vielleicht als Nächstes in die Luft.«

Sneijder nickte. »Langsam führen alle Fäden zu einem roten Strang zusammen.«

Sabine lief eine Gänsehaut über den Rücken. Dieser neuen, jungen RAF-Generation ging es nicht generell um den Kampf gegen einen faschistischen Polizeistaat, wie sie in dem Pamphlet geschrieben hatte, sondern konkret um jene ewiggestrige rechts-konservative Strömung, die mit ihren Ansichten und Handlungen den Planeten schonungslos ausbeutete und dabei zerstörte.

»Diese Leute aus dem Jetset und der High Society mit all ihren Limousinen, Villen, Jachten und Privatflugzeugen, die von den RAF-Mitgliedern in den letzten fünf Jahren bestohlen wurden«, sinnierte Sneijder, »tragen aus Sicht der Terroristen durch ihren ausufernden Lebensstil garantiert eine erhebliche Mitschuld am Klimawandel.« Anscheinend war er gerade zur selben Schlussfolgerung gekommen wie sie.

»Und das erbeutete Vermögen fließt direkt in die Bewegung«, ergänzte Sabine. »Es gibt also doch einen konkreten Plan.«

Sneijder nickte. »Die RAF ist nicht mehr die ausschließlich politisch motivierte kommunistische Terrorgruppe der 70er Jahre, sondern eine moderne linke RAF der 2020er Jahre mit globalen Zielen …«

»… die gleichzeitig rücksichtsloser denn je über Leichen geht«, ergänzte Sabine.

Sneijder nickte. Dann rief er Marc an, der sich inzwischen mit Miyu am BKA-Standort Meckenheim im Büro der Cybercrime-Abteilung einquartiert hatte. Als er abhob, ließ Sneijder ihn gar nicht erst zu Wort kommen, sondern berichtete ihm ohne Einleitung über den möglicherweise bevorstehenden Anschlag auf die Großbank. Dann redete er schnell weiter: »Sobald die RAF ein Bekennerschreiben veröffentlicht hat, möchte ich umgehend darüber informiert werden.«

» Da musst du nicht mehr lange warten …« , drang Marcs Stimme verzweifelt aus dem Handy. » Die RAF ist soeben an die Öffentlichkeit getreten.«

»Was wollen sie?«

» Kann ich noch nicht sagen. Ich melde mich, sobald ich mehr weiß.«

Sneijder ließ das Handy sinken. »Jetzt ist die Kacke am Dampfen.«