Sabine sah im Scheinwerferkegel das erste Hinweisschild, das den Grenzübergang Kiefersfelden in fünf Kilometern ankündigte. Kurz danach begann bereits der Stau. Sie bremste so abrupt ab, dass der Wagen auf der nassen Fahrbahn ins Schlingern kam. LKW auf der ersten, PKW auf der zweiten Spur. Sicher gab es wegen der Anschläge massive Polizeikontrollen. Mit etwas Pech war die Grenze sogar völlig dichtgemacht worden.
Während Sneijder mit Drohmeier telefonierte, deutete er zur Rettungsgasse. Ohne zu zögern lenkte Sabine den Wagen in die schmale freie Spur und überholte zügig die stehenden LKW und im Schritttempo dahinrollenden Autos.
Einige der anderen Fahrzeuge hupten, woraufhin Sabine unbeeindruckt die Warnblinkanlage einschaltete und weiterfuhr. Nach fünf Kilometern erreichten sie den deutschen Grenzposten. Die LKW wurden auf einem Rastplatz zur Überprüfung in ein großes Zelt gewunken. Sabine querte rücksichtslos die Spur und drängelte sich mit dem Mietwagen vor den nächsten PKW, der sich dem Schlagbaum näherte. Drei deutsche Grenzbeamte mit Regenmäntel, Schirmkappen und Maschinenpistolen näherten sich dem Wagen.
Sabine rollte mit dem Auto bis zum überdachten Schlagbaum und ließ das Fenster herunter.
»Die Münchner Herrschaften haben es wohl sehr eilig«, stellte der Grenzpolizist gelassen fest.
»Erstens bin ich eine Frau«, sagte Sabine in noch relativ freundlichem Ton, »und zweitens ist nicht gesagt, dass wir Münchner sind, nur weil wir ein Münchner Kennzeichen haben.« Wie zur Erklärung deutete sie zum Sixt-Schild auf dem Armaturenbrett.
»Und woher kommt die eilige Dame? Direkt vom Hockenheimring?«, fragte der Mann, während einer der Kollegen die Taschenlampe aufs Nummernschild richtete und über das Funkgerät das Kennzeichen überprüfte.
Bevor Sabine etwas antworten konnte, beendete Sneijder sein Telefonat, beugte sich zu ihr und blickte aus ihrem Fenster. »Wir haben keine Zeit für Süßholzgeraspel und Smalltalk!« Er zeigte seinen Dienstausweis. »Bundeskriminalamt Wiesbaden. Wir sind im Einsatz und müssen dienstlich nach Österreich. Und, nein! Wir können Ihnen nicht verraten, worum es geht, auch wenn Sie noch so nett danach fragen. Also Waffen runter, zur Seite treten und Balken hoch!«
Doch der Mann blieb stehen und der Schlagbaum blieb unten. Nun zeigte auch Sabine ihren Dienstausweis her. Der Beamte leuchtete mit der Taschenlampe zuerst auf den Ausweis, danach in ihr Gesicht und ließ den Strahl über ihre kugelsichere Weste und das Schulterholster mit der Glock gleiten, das sie darüber angelegt hatte. Unaufgefordert zeigte Sabine ihm auch noch die Genehmigung des BKA, dass sie bei Ermittlungen ihre Dienstwaffe auch beim Überschreiten von Staatsgrenzen mitführen durfte.
»Danke, ich muss noch einen Blick in Ihren …«
Sabine tippte bereits auf den Knopf, der den Kofferraumdeckel mit einem Klacken aufspringen ließ.
»Mann, beeilen Sie sich!«, knurrte Sneijder und betrachtete im Rückspiegel die Kollegen, die gemächlich am Auto vorbeigingen, um dann mit der Taschenlampe auf den Rücksitz und in den Kofferraum zu leuchten. Sogar die Unterseite des Wagens wurde mit einem Spiegel kontrolliert.
Nun klopfte auch noch einer der Grenzpolizisten an Sneijders Seitenscheibe, wartete, bis er sie heruntergelassen hatte, schob die MP zur Seite, leuchtete ihm ins Gesicht und danach auf sein vom Schulterholster ausgebeultes Sakko. »Haben Sie auch eine Genehmigung für Ihre Dienstwaffe dabei?«
»Brauch ich nicht, die Glock funktioniert auch ohne Genehmigung«, sagte Sneijder.
»Sehr amüsant … darf ich sie sehen?«, bat der Beamte mit humorlosem Gesichtsausdruck.
»Habe ich mich vorhin unverständlich ausgedrückt?« Genervt kramte Sneijder das zerfledderte Dokument aus der Brieftasche, hielt es dem Polizisten mitsamt seinem Ausweis unter die Nase und blickte dabei demonstrativ auf die Uhr. »Ich frage mich ernsthaft, ob Sie und Ihre Kollegen Teil der Lösung oder Teil des Problems sind … oder nur Teil der Landschaft.«
Der Mann reagierte nicht darauf, nahm ihm stattdessen einfach den Ausweis ab und betrachtete ihn. »Hab schon viel von Ihnen gehört, Erster Kriminalhauptkommissar Sneijder.« Nun begutachtete er auch die Genehmigung und gab schließlich beides wieder zurück. »Dachte nicht, dass ich Sie einmal persönlich treffen würde. Sie machen Ihrem Ruf alle Ehre.«
»So?«
»Dass Sie immer im Mittelpunkt stehen müssen.«
»Muss ich nicht, sitzen ist auch okay.« Sneijder steckte den Ausweis weg. »Kleiner Tipp, stellen Sie sich neben dem Vordach in den Regen, vielleicht blühen Sie ja auf – aber vorher machen Sie endlich den verdammten Balken hoch!« Er wartete die Antwort nicht ab, sondern ließ die Scheibe wieder hinauf.
Der Kofferraumdeckel wurde zugeworfen, der Grenzbalken glitt nach oben, und der Grenzbeamte beugte sich zu Sabine herunter. »Alles okay, ich wünsche Ihnen …«
»Fahren Sie!«, drängte Sneijder.
Sabine trat aufs Gas und ließ, während sie beschleunigte, die Seitenscheibe hochfahren. Hinter sich hörte sie das laute, frustrierte Gehupe der anderen Wartenden.
Die nächste Ausfahrt war bereits Kufstein. Sabine lenkte den Wagen von der Autobahn und folgte der Anweisung ihres Navis. Normalerweise hätte sie Sneijder wegen seines scharfen Tons und der Beleidigungen Vorwürfe gemacht – sie konnte einfach nicht anders, und die Hoffnung, dass er sich irgendwann mal ändern würde, starb schließlich zuletzt –, doch da sie wegen des Flugs nach München und des miesen Wetters knapp zwei Stunden verloren hatten, standen sie extrem unter Zeitdruck. Außerdem hatte die Polizeikontrolle sie gerade selbst ziemlich genervt. Also schwieg sie.
Während sie durch die Stadt fuhren, summte Sneijders Handy. »Eine Nachricht von Marc«, kommentierte er knapp. Dann wurde seine Stimme emotionaler. »Godverdomme , die RAF hat vor wenigen Minuten ein Bekennerschreiben und ein Manifest mit Zielen und Forderungen veröffentlicht. Haben alle Zeitungen, Radio- und Fernsehstationen gleichzeitig erhalten.«
»Und?«
»Marc schickt mir gerade einen Scan davon.« Während er wartete, starrte er wie gebannt auf das Display. »Es ist die Kampfschrift, die wir bereits aus dem Darknet kennen. Jetzt allerdings komplett ohne fehlende Teile … Und Ihre Vermutung war völlig richtig«, sagte er nach einer Weile. Dann drehte er sich zu ihr und las vor.
Wir – die vierte Generation der RAF – gehen davon aus, dass wir nach den bisherigen Anschlägen in den größten Städten Deutschlands Ihre volle Aufmerksamkeit haben. Wir fordern den sofortigen Rücktritt der Regierung und die Auflösung des Deutschen Bundestags. Politiker sämtlicher Parteien müssen mit sofortiger Wirkung ihr Amt niederlegen. Eine Interimsregierung mit Expertenkabinett und Fachbeirat soll damit beginnen, innerhalb der nächsten fünf Jahre sämtliche Rüstungsausgaben zu stoppen und den Ausstieg aus allen fossilen Brennstoffen umzusetzen.
Der detailliert ausgearbeitete Maßnahmenplan dazu liegt bereits seit über zehn Jahren unbeachtet in den Schubladen des Parlaments unter Verschluss.
Für den Fall, dass die kapitalistische, reaktionäre, konservative und faschistische Regierung jedoch weiterhin das Volk belügt, weiter aufrüstet und den Planeten ohne Kehrtwende immer weiter zerstört, werden täglich weitere Maßnahmen folgen, bis wir diesen Umsturz gewaltsam herbeigeführt haben.
Unsere Forderungen sind nicht verhandelbar.
Dieser Weg ist alternativlos.
Denn der deutsche Staat muss wissen, dass er sich durch seine Lügen und Aktionen der letzten Jahrzehnte einen erbitterten Feind geschaffen hat: Das eigene Volk!
Solange deutsche Konzerne die Dritte Welt ausbeuten, den Klimawandel befeuern und der deutsche Polizeistaat mit seiner faschistischen Exekutive die Freiheiten der Bürger unterdrückt, so lange werden wir diesen Staat mit bewaffnetem Widerstand bekämpfen.
Wir werden das Gewaltmonopol dieser Regierung, ihre heuchlerische Verfassung, ihre korrupten Politiker, ihre verlogene Propaganda, ihre rechtsextreme Richtung und ihr kapitalistisches System der Zerstörung mit geballter, nie dagewesener Waffengewalt zum Umsturz bringen und den Weg für eine neue Demokratie freimachen.
Andere Länder werden unserem Beispiel folgen.
Kommando Silke Eisert
– R4F –
»O Mann!« Sneijder verstummte und ließ das Handy sinken.
Sabine stieß die angehaltene Luft geräuschvoll aus. »Puuuh … damit passt alles, was sie bisher getan haben, zusammen und ergibt einen Sinn.«
»Auch Kara Petzolds Ermordung, die im Windenergiekonzern siebenhundert Leute kündigen wollte.«
»Und der Bankier der KfW, der sich bei der Förderung von Klimaschutzprojekten quergelegt hat«, ergänzte Sabine.
Sneijder nickte. »Dieser Kurs, den die fahren, ist extrem radikal.«
»Trotzdem fürchte ich, dass sie viele Anhänger finden werden.«
»Meinen Sie wirklich, dass es Teile in der Bevölkerung gibt, die so gewaltbereit sind, dass sie sogar den harten Kern des RAF-Führungskaders bei der Umsetzung seiner Ziele unterstützen würden?«
»Möglicherweise sind es gar nicht so wenige, die der Meinung sind, dass die RAF auf dem richtigen Weg ist …«, murmelte Sabine.
Er warf ihr einen überraschten Blick zu. »Ist das auch Ihre Meinung?«
»Ich sage nur, dass sie eigentlich ein wirklich wichtiges Ziel anpeilen. Allerdings mit den völlig falschen Mitteln.« Sie machte eine Pause. »Sie sehen das anders?«
Sneijder schwieg. Sie wusste, sie würde keine Antwort von ihm erhalten. Er hatte sich noch nie politisch geäußert – und würde das sicher auch in Zukunft nicht tun. Seine persönliche Politik und die einzige Ideologie, die für ihn zählte, war es, Mörder zur Strecke zu bringen. Egal welcher politischer Couleur.
Schweigend fuhren sie weiter durch den Ort. Trotz der immer noch schwarzen Gewitterwolken, die ab und zu von Blitz und Donner begleitet wurden, hatte der Regen nachgelassen. Im Moment nieselte es nur noch.
Sneijder kniff die Augen zusammen und blickte wenig begeistert aus dem Fenster. Dann nahm er Vickys Briefkuvert vom Armaturenbrett und steckte es in die Innentasche seines Sakkos.
Sabine bremste ab und hielt vor einem Einfamilienhaus. »Wir sind da.«