100. Kapitel

Sabine starrte in die fein gezeichneten Gesichtszüge des Mannes, die nun, nachdem das Auto vorbeigefahren war, wieder im Schatten lagen. Jetzt wusste sie auch, warum ihr die Stimme bekannt vorgekommen war. Sie hatte diese schon öfters in den Nachrichten gehört.

Vor ihr stand Philip Degenhard, Staatssekretär des Innenministers, und richtete eine Waffe mit Schalldämpfer auf sie.

»Wie sind Sie ins Haus gekommen?«, presste Sabine hervor.

Degenhard lachte etwas amüsiert. »Das ist es, was Sie von allen Fragen am meisten beschäftigt? Echt jetzt?« Er schüttelte ungläubig den Kopf, dann neigte er sich zu ihr herunter und sah sie an. »Das ist ein Mietshaus. Wie jeder Vermieter, so hatte auch dieser einen Reserveschlüssel. Ich habe ihn mir geholt.«

»Lebt der Mann noch?«, ächzte Sabine.

Er ignorierte die Frage. »Was macht das BKA hier?«

Sie gab keine Antwort.

»Wo ist Ihr Kollege?«

»Welcher Kollege?«

»Halten Sie mich nicht für dumm, ich bin über alles informiert.« Degenhard lächelte. »Ich habe kürzlich erfahren, dass ein Profiler namens Maarten Sneijder und seine Kollegin Sabine Nemez eine Spur zu Paul Conrad entdeckt haben.« Er machte eine Pause. »Leider war ich die ganze Woche bei der Sicherheitskonferenz in Den Haag. Während meiner Abwesenheit ist hier so ziemlich alles schiefgegangen, was nur schiefgehen konnte«, kommentierte er seelenruhig.

»Acht der zehn Terroranschläge haben allerdings perfekt funktioniert«, konterte sie zynisch.

»Ja, aber einige andere Dinge waren nicht so geplant. Conrads Identität fliegt auf, sein Haus brennt ab, seine Tochter stirbt, er wird geschnappt, begeht in der U-Haft Selbstmord und dieser BKA-Profiler reist an seiner Stelle nach Mallorca …«

»Könnten Sie mir etwas geben, um mein Bein abzubinden?«, unterbrach Sabine ihn.

»Nein, kann ich nicht – Sie werden diese Nacht sowieso nicht überleben.«

Sabine lehnte den Kopf an den Kamin und versuchte, langsam und regelmäßig zu atmen, um ihren Puls zu senken. Schweiß trat ihr auf die Stirn. »Haben Sie die drei Leute für Mallorca angeheuert?«

»War gar nicht so einfach, unauffällige Helfer für die Bewegung zu finden …« Degenhard neigte den Kopf. »… die nicht vorbestraft und trotzdem in der Lage sind, in Hotelzimmer einzubrechen und illegal Daten zu besorgen. Und dann wird Gernot Wulff die Klippen hinuntergestoßen und seine Leiche von einem Fischkutter gefunden, Teresa Piña in ihrem Hotelapartment ermordet und Vicky Fuchs wird von der Polizei gesucht, weil sie spurlos auf der Insel verschwunden ist. Von alldem habe ich erst heute Vormittag erfahren, als ich in Amsterdam am Flughafen Schiphol in der VIP-Lounge saß. Kann man so viel Pech auf einmal haben?«

»Sie tun mir so leid«, presste Sabine hervor.

Er drehte kurz den Kopf und lauschte, als erneut ein Auto durch die Gasse fuhr. Aber auch das hielt nicht an. Mit einem bitteren Lächeln fuhr er fort. »Und dann lande ich heute um ein Uhr in Frankfurt – und war ziemlich überrascht, als ich von einer mir unbekannten Frau einen Anruf erhielt, die mir sagte, dass Ron D. Pacula ein rotes Notizbuch mit allen Informationen über mich und mein Netzwerk besäße, das er heute um 23.15 Uhr verkaufen möchte. Ausgerechnet hier in Kufstein, bei Vickys Adresse. Allerdings wusste ich zu dem Zeitpunkt schon, dass Conrad seit mehreren Tagen tot war. Dann hat mir die Anruferin einige Daten aus dem angeblichen Buch vorgelesen, um mir zu bestätigen, dass es echt ist.« Er machte eine Pause. »Kam der Anruf von Ihnen, Frau Nemez?«

Wegen der pulsierenden Schmerzen in ihrem Bein, dem Brennen der Schusswunde und dem erheblichen Blutverlust hatte sie sich nur mühsam auf das konzentrieren können, was Degenhard ihr erzählte. Allerdings ahnte sie, dass der Anruf in Wirklichkeit von Lea gekommen sein musste. Bestimmt hatte Lea sich auf diese Weise absichern wollen – was ja auch super geklappt hatte!

Sabine biss die Zähne zusammen, wollte sich auf den Rücken gleiten lassen und das Bein hochlagern, um weniger Blut zu verlieren, doch Degenhard stoppte sie mit dem Wedeln der Waffe. »Vergessen Sie das. Keine Bewegung, Sie bleiben genau so sitzen. Sie werden sowieso sterben. Und Verbluten ist ein angenehmer Tod. Kein großer Schmerz, nur ein leichtes Durstgefühl, Schwäche, Schwindel und ein warmes, wohliges Gefühl, bevor Sie …«

»Mir ist jetzt schon verdammt heiß.«

»Dann sollten wir uns besser beeilen.« Er stützte die Hände auf die Knie und beugte sich zu ihr herunter. »Haben Sie mich angerufen, Frau Nemez? Wollen Sie mich erpressen? Oder will Sneijder mir eine Falle stellen? Was soll das hier?« Er richtete sich auf, breitete die Arme aus. »Sind Sie allein hier?«

»Sind Sie allein hier?«, entgegnete sie.

»Sehr witzig! Gerade heute sind alle meine Leute mit anderen Dingen beschäftigt – abgesehen davon muss man manche Sachen einfach allein erledigen.« Er wurde laut. »Wo ist das Buch?«

Sabine wusste, dass ihm sowieso gar keine andere Wahl bleiben würde, als sie zu töten oder auch einfach nur darauf zu warten, dass sie verblutete. Ihr Glück war, dass er zuvor herausfinden musste, wo Conrads Notizbuch steckte und wer noch davon wusste. Daher war ihre einzige Chance, auf Zeit zu spielen, in der Hoffnung, dass Sneijder rechtzeitig zurückkommen würde, um sie zu retten und Degenhard in den Arsch zu treten.

»Wo ist das rote Notizbuch?«, wiederholte er noch lauter und drängender.

» Quid pro quo« , flüsterte Sabine und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Was soll der Mist?«, fuhr er sie an.

Sie versuchte zu lächeln. »Zuerst erzählen Sie mir, was ich wissen will.«

»Irrtum, so geht das Spiel nicht.« Er legte erneut auf sie an, streckte den Arm durch und zielte auf ihren Kopf. »Wo ist das Buch?«