101. Kapitel

Die Seitenscheibe barst mit einem Riesenknall, Splitter regneten auf Sneijder herunter, und kaum hatte er den im Reflex hochgerissenen Arm wieder unten, um zu sehen, was da passiert war, traf ihn etwas Hartes im Gesicht.

Seine Nase brach mit einem schrecklichen Knacken, und ein Schwall Blut ergoss sich über Mund, Kinn und Hemd.

» Verdomme …« , keuchte er. Hastig wollte er die Waffe aus dem Holster ziehen, da wurde auch schon die Tür aufgerissen. Mit einer Hand wurde er am Kragen gepackt und aus dem Auto gezerrt. Hart fiel er zu Boden, konnte aber vorher noch die Waffe herausreißen.

Da sah er im schwachen Schein der Straßenlaterne das Metallblatt einer Schaufel auf sich zukommen. Der Hieb traf seine Finger, die Glock fiel ihm aus der Hand und rutschte unter den Wagen. Trotz der Schmerzen wollte er sich aufrappeln, aber ein weiterer Schlag, den er nur ansatzweise mit der flachen Hand abwehren konnte, traf ihn seitlich am Kopf. Dann ein weiterer mitten ins Gesicht, diesmal mit der vollen Breitseite des Schaufelblatts. Deine Nase ist jetzt komplett hinüber , kam ihm absurderweise in den Sinn, während sich alles um ihn zu drehen begann. Er war kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren. Dieses Miststück!

Benommen bekam er mit, wie er von zwei erstaunlich kräftigen Händen gepackt und ums Auto herum, über den Randstein und zwischen die Hecken auf Leas Grundstück gezerrt wurde. Er war völlig wehrlos, rang nur verzweifelt nach Luft und versuchte nicht am eigenen Blut zu ersticken.

Nachdem er mehrere Meter über die matschige Wiese geschleift worden war, blendete ihn plötzlich das Licht der Lampe mit dem Bewegungsmelder. Er lag neben der Baustelle.

»Was haben Sie vor?«, keuchte er.

Statt ihm zu antworten, ließ Lea ihn einfach los. Unsanft fiel er mit dem Rücken in den Matsch. Nachdem er nun beide Arme frei hatte, wischte er sich sogleich das Blut von der Nase, spuckte aus und atmete gierig ein, während ihm ein stechender Schmerz durch die rechte Hand fuhr. Durch den Schlag mit der Schaufel waren zwei Finger gebrochen, die unnatürlich wegstanden. Zusätzlich spürte er diverse Schnittwunden im Gesicht, die von den Scherben stammen mussten. Mit dröhnendem Schädel sah er sich um.

Lea war allein. Sie hatte ihn ohne fremde Hilfe ausgeknockt und hierhergeschleppt. Diese Frau war ein Monster. »Was wollen Sie?«, röchelte er nasal. Verdammtes Miststück! »Sie haben doch keine Ahnung, worum es hier geht.«

»Interessiert mich einen Scheiß!«, fuhr sie ihn an.

»Hören Sie mir zu, ich …«

»Nein, Sie hören mir zu, Sie verficktes Arschloch!«, unterbrach sie ihn schnaufend und keuchend. »Es gibt zwei Möglichkeiten … die harte Tour … oder die ganz harte Tour. Ihre Entscheidung.«

»Was geht schneller?«, röchelte Sneijder.

»Die ganz harte Tour.«

»Okay, dann bin ich dafür, weil …«

»Einverstanden.« Sie packte ihn am Kragen des Sakkos, zerrte ihn zur Holzverschalung des Fundaments, drehte ihn herum und warf ihn mit dem Kopf voraus in den Beton. Gesicht, Schultern, Hals, Brust und Hände klatschten in die zähe Masse. Zusätzlich drückte Lea seinen Kopf sogleich kräftig hinunter, und er sank ein paar Zentimeter tief ein.

Sneijder spürte den Beton auf den Lippen und in der Nase. Panik ergriff ihn. Beim Versuch einzuatmen würde er unwillkürlich den Beton in die Nase ziehen. Und er war ganz schlecht darin, die Luft anzuhalten.

Also versuchte er mit den Armen die Holzverschalung zu erreichen, um sich daran hochzustemmen, doch die höllischen Schmerzen in den gebrochenen Fingern ließen ihn zurücksinken.

Gerade als der Sauerstoffmangel unerträglich wurde und sich sein Brustkorb bereits im Atemreflex verkrampfte, zerrte Lea ihn am Kragen des Sakkos wieder heraus.

Mit einem schmatzenden Geräusch kam sein Gesicht frei. Er spürte den beißenden Geschmack des Zements auf den Lippen und atmete gierig durch den Mund ein. Die Augen ließ er geschlossen. Nach dem nächsten Atemzug spuckte und hustete er den matschigen Beton aus.

»Ich frage Sie das bloß ein einziges Mal. Ein einziges Mal! Wo ist der Originalbrief? Und wer weiß noch davon?«

Sneijder wischte sich mit dem Oberarm so gut es ging den Beton aus dem Gesicht. »Den hat Kommissar Quintana …«

»Du hast recht, ich glaube ihm auch nicht«, zischte Lea wie im Selbstgespräch, packte erneut mit einem kräftigen Griff seinen Kopf und drückte ihn zurück in den Beton. Diesmal so tief, dass ihm der Matsch in die Ohren lief.

Sneijder wusste, dass die Situation aussichtslos war. Aber wenigstens hatte er noch schnell seine Arme nach hinten reißen können, sodass die Hände nicht mehr wie vorhin im Beton gefangen waren, sondern außerhalb der Verschalung lagen. Mit den Handballen konnte er sich jetzt zumindest ein bisschen abstützen. Allerdings brachte ihm das nicht viel, da Lea ihm jetzt auch noch das Knie in den Rücken drückte, um ihn möglichst weit nach unten zu pressen.

Ihm schwanden die Sinne. Schneller als beim vorherigen Mal. Paradoxerweise musste er ausgerechnet jetzt daran denken, was Lea in ihrem Brief geschrieben hatte. Dass sie an Vicky denken würde, sobald sie in ihrem neuen Büro im Wintergarten saß. Warum gerade da? Plötzlich wusste er, dass Vickys Leiche in diesem neuen Fundament lag. Irgendwo tiefer unten, nicht weit von ihm entfernt.

Und er wusste, dass er genauso enden würde wie Vicky. Tot und einbetoniert, während nur wenige Meter entfernt in seinem Mietwagen die Information lag, die die nächste Terrorwelle verhindern konnte.