103. Kapitel

Der Gedanke an das rote Notizbuch verlieh Sneijder neuen Mut. Er unterdrückte den Impuls einzuatmen, tastete mit den intakten Fingern über die Holzverschalung und wollte sich gerade erneut hochstemmen, als er eine gerippte Eisenstange neben der Holzplanke ertastete. Etwa einen Zentimeter dick und wohl eines der Überbleibsel der Metallgittermatte, die die Bauarbeiter zur Verstärkung des Fundaments in den Beton gelegt hatten.

Er umklammerte die Stange, bekam sie jedoch nicht frei, da er teilweise mit seinem Oberkörper darauf lag und sich selbst blockierte. Der Atemreflex kam erneut, doch bevor es zu schlimm wurde und er den Beton durch Mund und Nase einsaugte, zerrte Lea ihn wieder am Kragen heraus. Er spuckte, prustete und atmete gierig ein.

»Letzte Chance, Arschloch! Wo ist der Brief?«

»Ich habe ihn …«, keuchte Sneijder, »… ich habe ihn …«

»Wo?«

»Einen Moment … ich bekomme … keine Luft.«

Sie zerrte ihn ganz aus dem Morast und drehte ihn auf den Rücken. »Wo – Ist – Der – Brief?«

Mit der verletzten Hand wischte er sich den Beton aus dem Gesicht und öffnete die Augen. Es brannte wie Säure, aber immerhin sah er Leas Gesicht verschwommen vor sich.

»Wo?«, schrie sie.

»Im Handschuhfach meines Wagens«, log er. Und in dem Moment, als sie sich aufrichtete, holte er mit der Stange aus und schlug ihr das Eisen von unten gegen die Schläfe.

Sie taumelte zur Seite, fiel hin und hielt sich den Kopf. Allerdings hatte er nicht kräftig genug zugeschlagen, denn während er sich ganz aufrappelte, kam auch sie wieder auf die Beine.

Doch er war eine Sekunde schneller als sie. Schon wollte er mit der Stange erneut auf sie einschlagen, als ihr Regenmantel vom Wind erfasst wurde und aufklaffte. Kurzerhand umklammerte er das Eisen und rammte es ihr, so fest er konnte, mit Schwung von unten unter das Schlüsselbein ins Fleisch.

Sie stolperte schreiend zurück, und er setzte gleich nach, stieß die Stange tiefer in sie hinein und drängte sie so weit zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Mischmaschine krachte. Er spürte, wie die Stange mit einem Ruck ihren Körper durchstach und sich irgendwo hinter ihr in der Mischmaschine verkeilte.

Wie aufgespießt hing sie am Motor der Maschine, griff wimmernd und mit zitternden Fingern nach der Stange und wollte sie sich aus dem Leib ziehen. Aber Sneijder zog einen Kabelbinder aus der Hosentasche, packte ihre Hand und fesselte sie an das Gestänge der Maschine. Die höllischen Schmerzen in seinen Fingern ignorierte er mit zusammengebissenen Zähnen.

Lea zerrte an ihrem Arm, schlug um sich und schrie wie eine Furie. Unbeeindruckt packte er ihre andere Hand und fesselte sie mit einem zweiten Kabelbinder ans andere Ende des Motors. Nun hing sie wie ein Käfer am Rücken auf der Maschine. Unter ihrer Schulter ragte der Rest der Stange heraus.

»Sie verdammter Mistkerl!«, spie sie aus. »Sie mieses Arschloch!«

»Sie wollten die ganz harte Tour«, keuchte er.

Dann hörte er nicht länger hin, was sie schrie, sondern schlüpfte mit langsamen, schmerzhaften Bewegungen aus dem Sakko. Dann wischte er sich mit der sauberen Innenseite Gesicht und Hände ab, um sich so gut wie möglich von dem ätzenden Beton zu befreien.

Sein Hemd war ebenfalls mit der grauen Masse bekleckert und wurde jetzt zusätzlich noch vom Nieselregen durchnässt. »Schade«, murmelte er und warf das Sakko achtlos in die Regenpfütze neben den Ziegeln. Dann sah er auf. Sie schimpfte immer noch.

»Halten Sie endlich den Mund«, murmelte er genervt.

Sie verstummte für einen Augenblick.

»Wissen Sie«, begann er. »Ich fand Sie trotz alldem, was Sie auf Mallorca getan haben, irgendwie sympathisch. Wirklich. Und das kommt nur verflucht selten vor, das können Sie mir glauben.« Er biss die Zähne zusammen und zerrte an den beiden abstehenden gebrochenen Fingern, um sie gerade zu richten. Der Schmerz fuhr ihm durch den Körper, kurz wurde ihm schwarz vor Augen, und er musste sich an den Ziegeln abstützen.

Keuchend atmete er mehrmals aus. »Ich wollte Ihnen, gegen alle Regeln der Vernunft, eine faire Chance geben. Aber Sie … Sie haben es verbockt.«

Sie begann wieder zu schreien.

Er fingerte das Handy aus der Hosentasche, wählte 112 und ließ sich mit der Innsbrucker Kripo verbinden. Während er wartete, stand er im Regen, den Kopf im Nacken, und wischte sich immer wieder erneut den Beton aus dem Gesicht. Nachdem er endlich eine junge Dame dran hatte, erzählte er ihr, wo er war und worum es ging, und wurde mit einem Kommissar Leonhardt vom LKA Innsbruck verbunden.

»Maarten S. Sneijder, Bundeskriminalamt Wiesbaden. Ich bin gerade in Kufstein«, sagte er und nannte dem Kollegen Leas Adresse. Deren Geschrei verstummte, und er sah aus dem Augenwinkel, wie sie ihn fassungslos anstarrte.

»Im Fundament neben dem Haus werden Sie die Leiche der vermissten Vicky Fuchs finden.« Dann gab er Leas Personenbeschreibung durch. »Auf Lea Fuchs’ Konto gehen auch noch zwei weitere Tote. Teresa Piña und Gernot Wulff. Setzen Sie sich mit Comisario Quintana auf Mallorca in Verbindung, der erklärt Ihnen alles Weitere. Sie finden Lea Fuchs übrigens auf ihrem Grundstück neben dem Fundament an eine Mischmaschine gefesselt. Einen Notarzt braucht sie nicht. Es geht ihr gut. Sie steht auf die harte Tour.«

»Was? Aber ich …«, stammelte Leonhardt, der bis jetzt kommentarlos zugehört hatte. »Beantworten Sie mir zuerst einmal …«

»Keine Zeit«, unterbrach Sneijder ihn. »Beeilen Sie sich.« Er legte auf und steckte das Handy in die Hosentasche.

»Bundeskriminalamt?«, keuchte Lea ungläubig.

Sneijder gab keine Antwort. Er hatte sich bereits abgewandt und wollte zum Auto gehen, als er daran dachte, dass sich in den Taschen seines Sakkos sowohl sein Ausweis als auch Brieftasche und Akupunkturnadelset befanden. »Ach, Scheiße«, knurrte er und drehte sich wieder um.

»Machen Sie mich los?«, fragte Lea.

»Das hätten Sie wohl gern.«

»Die Stange … Sie müssen mir Erste Hilfe …«

»Einen verdomden mesthoop muss ich.« Er bückte sich, holte sein Sakko aus der Pfütze, schüttelte es aus und legte es sich über den Arm. Er konnte sich nicht daran erinnern, sich jemals so dreckig, erschöpft und zerschlagen gefühlt zu haben wie jetzt gerade. Und das nach der Begegnung mit nur einer einzigen Frau.

Während Lea ihm etwas nachrief, was er jedoch großzügig ignorierte, ging er zum oberen Ausgang des Grundstücks, schlüpfte durch die Gartentür zwischen den Hecken und ging zum Auto.

Sein Mietwagen stand immer noch einsam und allein auf der Anhöhe, jetzt nur mit offener Tür und eingeschlagener Scheibe. Anscheinend hatte niemand etwas von dem Kampf mitbekommen und war hergekommen, um zu sehen, was los war.

Ächzend bückte er sich, fingerte die Glock unter dem Auto hervor und steckte sie ins Schulterholster. Dann wischte er die Scherben vom Sitz, warf das Sakko auf den Beifahrersitz und ließ sich stöhnend ins Auto sacken. Das rote Notizbuch, das er zuvor fallen gelassen hatte, lag im Fußraum des Beifahrersitzes.

Mühsam bückte er sich danach, faltete es zusammen und stopfte es, ohne die rechte Hand zu sehr zu strapazieren, in die Hosentasche. In der Nase und den gebrochenen Fingern pulsierte der Schmerz. Dann zog er die Tür zu, startete den Wagen und fuhr los. Auf den Gurt verzichtete er, auch wenn ihn das ständige Gebimmel des Bordcomputers nervte.

Während der Wind durch das kaputte Seitenfenster blies und einzelne winzige Scherben herumwirbelte, merkte Sneijder, wie das Hemd langsam steif wurde. Außerdem spannte der Beton auf seiner Haut, brannte auf seinem Gesicht und vor allem in den Augen.

Er lenkte vorsichtig mit dem rechten Handballen, fingerte mit der anderen das Handy aus der Hosentasche und wählte Drohmeiers Nummer.

Der hob sofort ab. »Sneijder, was gibt’s? Sagen Sie um Himmels willen, dass Sie erfolgreich waren.«

»Ja«, krächzte er. »Ich habe das rote Buch.«

»Zum Glück. War sicher nur ein Klacks, oder?«

»Ja, sicher … wie immer.«

»Wer ist Ruth-Allegra Francke?«

»Sie waren ganz nah dran. Es ist Degenhard …« Dann ließ Sneijder die Hand mit dem Telefon erschöpft sinken und konzentrierte sich auf die Straße.