104. Kapitel

»Aber für Ihren großen Plan brauchten Sie zuerst einmal Geld«, presste Sabine unter Schmerzen hervor. Irgendwie musste sie Degenhard am Reden halten.

»Stimmt. Conrad hatte die interessante Idee mit den Urlaubsworkshops. Und ich verfügte über internationale Kontakte zu jungen Leuten aus der radikalen linken Szene, die die Gestaltung ihrer Zukunft selbst in die Hand nehmen wollten und nur auf eine Gelegenheit gewartet haben, um endlich etwas Sinnvolles zu tun.«

»Gemeinsam haben Sie dann die nächste Generation der RAF ins Leben gerufen.«

»Conrad war der geistige Vater unserer Philosophie. Auch er hatte noch ein paar alte Kontakte, und gemeinsam fanden wir rasch viele neue, junge Sympathisanten, die bereit waren, alles aufzugeben, um diesen radikalen Weg des Umsturzes bis zum bitteren Ende mit uns zu gehen. Sie glauben ja gar nicht, wie viele nicht mehr länger wie vollgefressene Schafe im Dämmerschlaf tatenlos vor sich hin leben wollen.«

»Und nebenbei haben sie ein paar kapitalistische Geldsäcke um ihr Vermögen erleichtert …«

»Ja, um damit die Bewegung zu finanzieren«, unterbrach er sie.

»Oder um selbst reich zu werden?«, fragte sie gehässig.

»Sie haben ja keine Ahnung, wovon Sie reden, und nicht den geringsten Einblick, wohin diese Welt steuert, wenn der Kurs nicht schleunigst korrigiert wird«, fuhr er sie an. »Dicke Bankkonten, Diamanten, Wertpapiere und Goldreserven nutzen niemandem etwas, wenn der Planet vor die Hunde geht, weil unser kapitalistischer Wahnsinn uns alle direkt an den Rand der Zerstörung führt. Das gesamte politische System inklusive seiner korrupten Instanzen muss gestürzt werden, damit alle in diesem Land endlich aufwachen«, brüllte er.

»Und das viele Leid, das Sie dabei verursachen?«, fragte sie. »Wahrscheinlich nur ein notwendiges Bauernopfer, nicht wahr?«

»Richtig erkannt – genauso wie Ihr Tod.« Er beruhigte sich wieder. »So, genug philosophiert. Uns ist doch ohnehin beiden klar, dass Sie mich genauso wenig überzeugen können, wie ich Sie. Sie verstehen es einfach nicht – wie so viele Ihrer Mitbürger.«

»Also bin ich einfach zu dumm, habe eine zu geringe Auffassungsgabe – und kann deswegen ganz einfach geopfert werden? So wie die vielen Menschen, die bei Ihren Anschlägen ums Leben kommen?«

Degenhard ließ sich auf keine weitere Diskussion mehr ein. »Ich habe Ihre Fragen zur Genüge beantwortet. Kommen wir zum Punkt: Wo ist das Notizbuch?«

»Warum existiert dieses Buch überhaupt?«

Degenhard ignorierte auch diese Frage. »Wo ist es, verdammt nochmal?« Er kniete sich neben sie und presste ihr mit aller Kraft den Schalldämpfer in die Wunde am Oberschenkel.

Sabine stöhnte zwischen zusammengebissenen Zähnen auf und begann zu hyperventilieren. »Warum gibt es … das Buch?«

»Woher soll ich das wissen?«, brüllte Degenhard. »Conrad war paranoid und chronisch misstrauisch. Offenbar wollte er sich absichern. Immerhin war ich inzwischen der zweite Mann nach dem Innenminister, mit dem er eine riskante Verbindung eingegangen war.« Speichel flog von seinem Mund. »Falls ihn irgendjemand eines Tages verraten hätte, hätte er uns alle mit sich reißen können. Wo ist es? Meine Geduld ist am Ende.«

Er war jetzt so nahe, dass sie nach seiner Schusshand hätte greifen können. Doch sein Finger lag am Abzug und die Gefahr war zu groß, dass er ihr im Reflex ein zweites Mal ins Bein schoss. »Sie werden das Buch nicht finden«, keuchte sie stattdessen. »Sneijder hat es, und er wird Sie damit fertigmachen.«

Endlich nahm Degenhard die Waffe von der Wunde, aber Sabines Erleichterung über den nachlassenden Schmerz war nur kurz. Denn er erhob sich, trat einen Schritt zurück und legte auf sie an. »Wenn das so ist, kann ich Sie ja mit ruhigem Gewissen exekutieren.«

Sabine nahm einen tiefen Atemzug und riss die Augen auf, als sie sah, wie sich sein Finger erneut um den Abzug legte. Ihre Zeit war abgelaufen. Sie fokussierte den Lauf der Pistole, um ihren letzten Moment ganz bewusst wahrzunehmen, als sie plötzlich einen beißenden Geruch wahrnahm – frischen, feuchten Beton. Spielen meine Sinne verrückt?

»Was …?«, röchelte sie.

Degenhard streckte den Arm durch. »Sie stehen der Bewegung im Weg.«

»Nein, tut sie nicht«, erklang eine Stimme von der Tür her.