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Hinter der Tür
Von Christian Arbeit wurde ich mit einem kleinen Plastikchip ausgestattet, den ich an meinem Schlüsselbund befestigte. Damit hatte ich Zutritt zum Stadion und zum Kabinentrakt. Ich kannte bereits die Rezeption in der Haupttribüne und den Vorraum, wo an Spieltagen die sogenannte Mixed Zone aufgebaut wurde und Journalisten die Spieler befragten. Im Presseraum, in den der Klub nach Spielen und einmal unter der Woche zu Pressekonferenzen einlud, war ich ebenfalls schon häufiger gewesen. Doch die Kabine der Profimannschaft, diesen für alle Außenstehenden mythischen Raum, hatte ich noch nie betreten. Sie war hinter einer weißen Tür, an der nichts darauf hinwies, was sich dahinter befand. Um sie zu öffnen, musste man den Plastikchip an ein weißes Plastikrechteck mit einem leuchtenden roten Punkt halten, dann leuchtete er grün, und man konnte die Tür aufziehen.
Erst einmal kümmerte sich Susi um mich. Vor ihrem Zimmer stand hochkant »Susi« an der Wand, als sei das eine Funktionsbezeichnung. Die anderen waren »Trainer«, »Scouting« oder »Waschküche«, aber Susanne Kopplin war nicht nur Zeugwartin, sondern alles Mögliche. Als Teammanagerin war sie für alle versprengten Seelen in diesen Räumen zuständig, ob sie als Neuzugänge eine Wohnung brauchten, einen Kitaplatz oder eben für einen wie mich, der plötzlich noch mit Rudelkleidung ausgestattet werden musste. Sie hatte in der DDR Elektromontiererin für Fernsehelektronik gelernt, obwohl sie eigentlich lieber Maurerin geworden wäre, schulte nach der Wende auf Tischlerin um und zog einen Sohn groß, der Fußballprofi wurde – unter anderem bei Union Berlin. Auf der weißen Tafel in ihrem fensterlosen Büro neben der Umkleidekabine hatte ein Spieler mit blauem Filzstift »Susi meine Sonne« geschrieben und eine Sonne daneben gemalt. Unter den Spielern war das die Mehrheitsmeinung, wie ich herausfinden sollte .
»Dann komm mal mit«, sagte Susi zu mir, und ich trottete hinter ihr her zum Wäschelager. Dort bekam ich ein rot-weiß-schwarzes Poloshirt, ein grau-schwarzes Trainingshemd, eine kurze Sporthose und eine lange Trainingshose (alles in Schwarz). »Was hast du für eine Schuhgröße?«, fragte sie und gab mir dann ein passendes Paar himbeerroter Joggingschuhe. Damit hatte ich die Grundausstattung an Dienstkleidung, denn in der Kabine lief niemand in Zivil herum. Es gab auch eine Art von Ordnung, wann man was zu tragen hatte. So gehörte es sich etwa nicht, auf dem Trainingsplatz die sogenannte »Ausgehhose« anzuziehen, die sich von der Trainingshose dadurch unterschied, dass sie locker, nicht wurstpellenartig am Körper saß und aus anderem Material war. Es gab für Spieler andere Shirts als fürs Trainerteam, aber eigentlich sollte ich bis zum letzten Tag nie ganz kapieren, wann eigentlich wer was anzuziehen hatte, im Zweifelsfall hatte ich das Falsche an.
Ich nahm meine neuen Sachen mit in die kleine, fensterlose Kabine der Trainer und zog mich um. Leider war kein Spind mehr frei, also legte ich meine Klamotten auf ein weißes Regal, wo die Trainingshemden, Jacken, Shorts und etliches mehr mit den jeweiligen Kürzeln der Trainer lagen. UF für Urs Fischer, MH für seinen Co-Trainer Markus Hoffmann, aber BS für den anderen Assistenten Sebastian Bönig. Vielleicht waren seine Initialen vertauscht, weil er aus Bayern stammte, der Bönig Sebastian.
Als ich das gegenüberliegende Trainerzimmer betrat, wurde ich mit demonstrativer Selbstverständlichkeit begrüßt. Urs Fischer teilte sich mit seinen beiden Co-Trainern einen Raum, nebenan saßen Athletiktrainer Martin Krüger, Spielanalytiker Adrian Wittmann und Torwarttrainer Michael Gspurning, wie Hoffmann ein Österreicher. Zur morgendlichen Besprechung um halb neun kam noch Rehatrainer Christopher Busse dazu. »Wie ihr wisst, wird Herr Biermann uns durch die Saison begleiten, um ein Buch zu schreiben. Er wird erst mal hier bei uns sitzen«, sagte Fischer, und dann ging es auch schon los. Busse hatte einen kleinen Zettel mitgebracht, auf dem die Namen der Spieler standen, die nicht würden trainieren können. »Kroos, Ryerson (Reha) und Hübner fehlen«, las er vor. »Und Schmiedebach hat immer noch leichten Husten.« Fischer saß am Schreibtisch, nickte, strich die Namen derer, die nicht mittrainieren konnten, und zählte die verbliebenen Spieler durch.
Um neun Uhr wurde ich der Mannschaft vorgestellt, und von hinten machte ich mich anschließend mit der Sitzordnung im Besprechungszimmer vertraut, die sich in den kommenden Monaten kaum verändern sollte. Mittendrin in der zweiten Reihe bildeten Subotic, Gentner und Parensen ein Kraftzentrum der Erfahrenen. Weiter außen an der Wand saß Mittelstürmer Sebastian Andersson. Neben ihm war ein Platz frei, und das sollte auch so bleiben. Torwart Rafał Gikiewicz saß ganz vorne, dem Trainer am nächsten. Mannschaftskapitän Christopher Trimmel saß in der dritten Reihe ganz rechts, weil er auf dem Tische neben sich seinen Kaffee abstellen konnte. Robert Andrich, neu vom Zweitligisten Heidenheim gekommen, hatte einen Einzelplatz an dem in die hintere linke Ecke geschobenen Tisch. Die Neuzugänge Anthony Ujah, der Nigerianer war aus Mainz gekommen, und der Holländer Sheraldo Becker, aus Den Haag nach Berlin gewechselt, hockten vor ihm links an der Wand hintereinander, damit Ujah ihm auf Englisch zuflüstern konnte, was Fischer sagte. Mittelfeldspieler Felix Kroos und Torwart Jakob Busk saßen gesondert, direkt neben dem rollenden Pult, das Spielanalytiker Wittmann zur Besprechung in den Raum gefahren hatte. Er hatte sein Laptop mit dem Beamer verbunden, der unter der Decke hing.
Urs Fischer saß vor der Mannschaft mit einem Laserpointer in der Hand, um in den vorgeführten Spielszenen auf das deuten zu können, was ihm wichtig war. Der Rest des Trainerteams saß hinten auf den beiden braunen Ledersofas, wo ich Platz gefunden hatte. Der Raum hatte keine Fenster, an den beige gestrichenen Wänden hingen Fotos von Kaffeemaschinen, von Gewürzen und Landschaften am Meer. Sie sahen aus wie ausgedruckte Bildschirmschoner. Die Grünpflanzen auf den Tischen und neben meinem Sofa waren aus Plastik. Das Ganze wirkte wie der Frühstücksraum eines Zweisternehotels.
Nach der Besprechung stellten die Trainer die Tische und Stühle wieder so auf, dass hier mittags gegessen werden konnte, der Besprechungs- war auch der Essraum. Die Spieler machten sich inzwischen fürs Training fertig. Weil ich nicht richtig wusste, was ich nun tun sollte, schaute ich mich um, und mir fiel ein Plakat auf, das an verschiedenen Stellen im Kabinentrakt aufgehängt worden war. Darauf stand:
Unsere Saisonziele 2019/20
40+
Stimmung in der Kabine
Überzeugung zu gewinnen
Freude und Spaß
Von Spiel zu Spiel denken
Trainingsniveau hochhalten
Saisonstart
»40+« stand dafür, mehr als 40 Punkte zu holen. Mit 40 Punkten war noch nie eine Mannschaft aus der Bundesliga abgestiegen. Union war ein klarer Abstiegskandidat, in fast jedem Expertentipp und in fast jeder Vorschau auf die langsam nahende Saison landeten sie auf einem der letzten beiden Plätze. Nur Mitaufsteiger SC Paderborn konnte noch weniger Geld für seine Mannschaft ausgeben, alle anderen Bundesligisten oft ein Vielfaches. 16 der 17 Konkurrenten in der neuen Spielklasse konnten sich also besser bezahlte Spieler leisten, mehr Betreuer, bessere Trainingsbedingungen, komfortablere Reisen und was sonst noch eine Rolle spielen mochte, um sportlich erfolgreich zu sein. Um trotzdem mindestens drei Teams hinter sich zu lassen, musste in diesen Räumen etwas ganz Besonderes geschehen: ein Fußballwunder.
Inzwischen hatten sich die Spieler im hinteren Teil der Kabine in zwei Bereichen verteilt. Einer war mit grünem Kunstrasen ausgelegt, der andere war der Kraftraum, in dem neben Hanteln und diversen Kraftmaschinen in zwei Reihen Spinningräder standen. Die Spieler hatten überall Gymnastikmatten auf dem Boden verteilt und begannen die »Prevention«, eine Folge von gymnastischen Übungen, Dehnungen, Streckungen, die sie weitgehend wortlos und ohne große Begeisterung absolvierten, von Athletiktrainer Krüger mit fester Stimme angesagt. »Prevention« hieß das Programm deshalb, weil hier präventiv dafür gesorgt werden sollte, dass es möglichst wenig Muskelverletzungen gibt.
Als sie damit fertig waren und die Matten weggeräumt hatten, gingen sie zum Trainingsplatz. Ihr Weg führte hinter der Fantribüne entlang, die an einen Wald grenzte. Die Spieler machten sich warm, und ich setzte mich auf eine Bank in den Schatten. Ich schaute hinüber zum Wald und zum Stadion, wo man Handwerker arbeiten hörte. Auf den Plätzen der Jugendmannschaften, die durch einen Zaun und Sichtschutz getrennt waren, war es still. Ein wunderbarer, nicht zu heißer Sommermorgen, hier würde es mir gefallen können.
Am nächsten Tag fand im Stadion ein geheimes Testspiel gegen den spanischen Erstligisten Celta de Vigo statt. Beide Mannschaften hatten so viele Spieler, die sie alle einsetzen wollten, dass sie sich darauf geeinigt hatten, zusätzlich zum offiziellen Spiel am nächsten Tag ein weiteres anzusetzen. Nach 65 Minuten der ersten Partie setzte aber ein gewaltiger Sommerregen den Platz so unter Wasser, dass nicht weitergespielt werden konnte. Die Spieler beider Mannschaften warteten erst noch auf der Treppe, die von den Kabinen zum Platz führte, darauf, dass es weiterging, aber selbst als die Sonne wieder hervorkam, standen noch zu viele Pfützen auf dem Platz.
Anschließend fuhren alle zu einer Party für Vereinssponsoren in einer ehemaligen Maschinenhalle im Süden von Berlin. Der Vereinspräsident hielt eine Rede, und dabei wurde schnell klar, dass Zingler sich mit Union nicht in der Rolle des niedlichen Außenseiters einrichten wollte. »Wir sind gekommen, um zu bleiben. Unsere nächste Etappe ist es, unseren Platz in der Bundesliga zu halten.« Zu den Spielern sagte er: »Unterhaltet euch mit den Sponsoren, die zahlen zum Teil eure Gehälter.« Alle lachten, und dann verteilten sich die Spieler, Trainer und Mitarbeiter des Betreuerteams an die Tische der Sponsoren.
Ich landete dort, wo Urs Fischer saß. Er unterhielt sich bereitwillig mit den Geschäftsleuten, die aber eher wie Fans wirkten. Sie waren spürbar aufgeregt, dass sie mit dem Trainer reden konnten, der ihre Mannschaft in die Bundesliga geführt hatte. Einer von ihnen sagte zu Fischer, dass es gar nicht so schlimm sei, wenn Union direkt wieder absteigen würde, und das traf die Stimmung. All diese Leute, die teilweise schon über Jahre Werbebanden im Stadion gemietet, Logen oder Businessseats gebucht hatten, schwankten zwischen Überwältigung und Zweckpessimismus. Angesichts der Location staunten sie ein Wahnsinn-wie-groß-das-hier-ist, aber zugleich gab es ein Hoffentlich-verheben-wir-uns-nicht. Es herrschte die Vorfreude von Verrückt-wir-sind-in-der-Bundesliga und zugleich ein Ist-das-überhaupt-eine-gute-Sache-plötzlich-bei-den-Großen-zu-sein. Die neuen Spieler, vor allem aber Gentner und Subotic, wurden leicht irritiert und scheu bestaunt. Zu Union kamen normalerweise keine Spieler, die man aus dem Fernsehen kannte.
Es war wie bei meinem Gespräch mit Zingler in dessen Büro. Alle waren unheimlich stolz darauf, dass ihr Klub nun gegen Bayern und Dortmund, gegen Schalke und Mönchengladbach spielen durfte. Aber es schwang auch eine gewisse Sorge mit, dass in der großen weiten Fußballwelt etwas kaputtgehen könnte.
Am nächsten Tag war ich irritiert, als Urs Fischer nach dem zweiten Spiel gegen Vigo pfeifend ins Trainerzimmer kam, wobei Pfeifen das Geräusch, das er machte, nicht genau beschreibt. Er zischte eine unbestimmte Melodie vor sich hin, wie er es auch schon in der Halbzeitpause gemacht hatte. Da führte Celta de Vigo im letzten Test vor Saisonstart mit 1:0, am Ende gewannen die Spanier mit 3:0. Mir wurde nicht klar, ob Fischer wirklich gute Laune hatte oder nur so tat und dieses Pfeifen das Vorspiel zu einem Wutausbruch war. Die Trainer kamen, dann Oliver Ruhnert, der Geschäftsführer Profifußball. Er sagte aber nichts und war nach wenigen Momenten wieder verschwunden .
»Wer glaubt, dass solche Fehler in der Bundesliga nicht bestraft werden, der glaubt auch an den Weihnachtsmann«, sagte Fischer. Erstaunlicherweise erwuchs daraus ein Gespräch darüber, wessen Kinder noch an den Weihnachtsmann glaubten, wie gut verkleidet Miet-Weihnachtsmänner waren und dass sich hinter der Kostümierung gelegentlich Frauen verbargen. Aber die Gaga-Konversation hatte wohl die Funktion, Zeit zum Nachdenken zu verschaffen, was falschgelaufen war. »Jetzt hast du das Resultat, das dich auf den Boden runterholt«, sagte Fischer. Er schien wirklich zufrieden zu sein.
Von den vorangegangenen sechs Testspielen hatte Union vier gewonnen und zweimal unentschieden gespielt. Auch in der Aufstiegssaison, erinnerte Bönig die anderen, hatte Union den letzten Test mit 0:3 verloren. Hoffmann, der mit Fischer schon beim FC Basel zusammengearbeitet hatte, war fast schon begeistert von der Niederlage: »Wir haben in Basel zweimal in der Vorbereitung alle Spiele verloren und sind einmal mit acht und einmal mit neun Siegen in die Saison gestartet.« Die erste Niederlage der Vorbereitung, darin waren sich alle einig, würde ihre Arbeit in der Woche vor dem Saisonstart einfacher machen.
Fischer ging in die Kabine hinüber und wiederholte vor den Spielern das, was er schon im Trainerzimmer gesagt hatte, nur vom Weihnachtsmann war dort nicht die Rede. Dann wünschte er allen ein schönes Wochenende, sie sollten sich eine gute Zeit machen. Als er aus der Kabine zurückkam, musste er noch kurz zu einem Sponsorentermin, und Hoffmann bot an, in der Zwischenzeit Bratwürstchen am Stand vor dem Stadion zu holen. Als er zurückkam, war Fischer wieder da, und Adrian Wittmann hatte inzwischen seinen Computer an den Fernsehbildschirm angeschlossen und das Spiel gegen Vigo aufgerufen, das er selber aufgezeichnet hatte. Fischer setzte sich an den Besprechungstisch, stellte seine Cola ab, aß seine Bratwurst und sagte: »Herrlich!«
Dann zeigte Wittmann Szenen aus dem Spiel gegen die Spanier, zuerst die Gegentore. Wer hatte beim ersten welche Fehler gemacht? Wer hätte wo stehen müssen? Zum zweiten Gegentor sagte niemand was, zu offensichtlich war der Torwartfehler. Und beim dritten, dem nach der Ecke, ließ Fischer die Szene mehrfach abspielen. Dann war klar: Mittelstürmer Sebastian Polter hatte seinen Gegenspieler verloren. Nach und nach gingen sie die Szenen durch, ab und zu sagte Fischer: »Gut, gut, gut.« Mit anderen war er weniger zufrieden, aber die Leistung war keine Katastrophe gewesen, das Ergebnis gab das Spiel nicht wieder. Der Countdown zum Saisonstart konnte beginnen.