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Kampf um die Geschichte
Ich kam 2010 nach Berlin, nachdem ich vorher zwei Jahrzehnte in Köln gelebt hatte. Ursprünglich stamme ich aus dem Ruhrgebiet, was beides nicht nur räumlich weit weg vom Osten Deutschlands ist. Unsere Familie hatte in der DDR keine Verwandtschaft, auch sonst gab es keine Verbindungen. Mir war dieses Land ferner als England, Spanien oder die USA , und es hatte mich ehrlich gesagt auch nicht sonderlich interessiert. Nur in Ostberlin war ich einmal gewesen, am 31. Mai 1986. Ich war zu Besuch bei Freunden in Kreuzberg gewesen, und als ich mitbekam, dass an jenem Tag das Endspiel im FDGB -Pokal, dem Pokalwettbewerb der DDR , ausgetragen wurde, wollte ich das unbedingt sehen. Der 1. FC  Union Berlin spielte gegen den 1. FC  Lokomotive Leipzig. Also fuhr ich mit der S-Bahn zur Friedrichstraße, wo man als Westbürger für einen Tag nach Ostberlin einreisen konnte, wenn man 15 DM in 15 Ostmark umtauschte. Ich irrte vormittags gemeinsam mit einem Freund durch die Innenstadt, vom Alexanderplatz aus machten wir uns dann mittags auf zum Stadion der Weltjugend. Es ist inzwischen abgerissen, heute steht dort das riesige Gebäude des Bundesnachrichtendienstes, zehn Fußminuten von der Wohnung entfernt, in der ich lebe.
Ich habe keine besonders präzisen Erinnerungen mehr an den Tag, weiß aber noch, dass ich vieles befremdlich fand und mich unwohl fühlte. Berlin war auf der Westseite der Mauer eine graue Stadt, die ich nicht mochte. Mit Kreuzberg, dem Abenteuerspielplatz für alle, die ein anderes, wildes Leben ausprobieren wollten, konnte ich wenig anfangen. Es kam mir dort immer zu hart und humorlos vor. Ostberlin aber erschien mir auf andere Weise noch härter und humorloser. Vor allem aber bewegte ich mich in dem Gefühl durch die Stadt, dass ich an einem Ort war, dessen Spielregeln ich nicht kannte .
Ich wunderte mich, wie einfach es war, Karten direkt am Stadion zu kaufen, obwohl das Finale ausverkauft war. Uns wurden die Tickets quasi aufgedrängt, sobald die Verkäufer mitbekamen, dass wir Westgeld hatten. Letztlich bezahlten wir nur zehn D-Mark pro Karte. Das Stadion lag nicht weit von der Mauer, der Grenzübergang Invalidenstraße an der Sandkrugbrücke, über die man heute zum Hauptbahnhof fährt, war nur ein paar Hundert Meter entfernt. Es war viel Polizei ums Stadion, vielleicht auch, um die Zuschauer daran zu hindern, den Grenzübergang einfach zu überrennen. Unübersehbar war auch die große Zahl ziviler Polizisten, und an den Eingängen sowie im Stadion trugen die Ordner weinrote Trainingsanzüge mit dem geschwungenen »D« für Dynamo. Ich war erstaunt darüber, denn ich hatte gelesen, dass die Unioner den BFC Dynamo hassten, aus lokaler Rivalität. Außerdem wurde Dynamo von Stasichef Erich Mielke prominent protegiert.
Unsere Plätze waren in der Nähe des Fanblocks von Union Berlin, dessen Anhänger ich als das in Erinnerung habe, was man damals im Westen als »freakig« bezeichnete. Langhaarige Typen mit Schnäuzern oder Bärten, in Parkas und mit selbst gestrickten rot-weißen Schals. Einige trugen Kutten, ähnlich wie Fans bei uns, neben den Normalbürgern fielen sie aber stärker auf als die Fußballfans in der Bundesrepublik. Union hatte in dem Spiel nie eine Chance und verlor letztlich mit 1:5. Zum Ende des Spiels legten sich einige Union-Fans mit den Ordnern in den weinroten Trainingsanzügen an, nachdem ein Fan versucht hatte, über den Zaun in den Innenraum zu klettern.
Mit diesem Besuch wurde ich zufällig Zeuge eines der wenigen sportlichen Höhepunkte in der Geschichte des 1. FC  Union Berlin. Seinen einzigen Titel, den FDGB -Pokal, gewann er 1968. Letztlich erzählte dieser Klub die Wegmarken seiner Geschichte aber sowieso nicht über große Siege und berühmte Spieler. Die Geschichte ist jedoch auf andere Weise wichtig, was man schon erfährt, wenn bei Heimspielen wenige Minuten vor dem Anpfiff das Vereinslied gespielt wird.
Es beginnt ungewöhnlicherweise mit einem gesprochenen Vorspann, vorgetragen im Märchenonkel-Ton: »Es war in den Goldenen Zwanzigern, so erzählt die Legende, als in Zeiten eines ungleichen Kampfes ein Schlachtruf ertönte, ein Schlachtruf wie Donnerhall, der all jenen, so erzählt die Legende weiter, die ihn in diesem Augenblick zum ersten Mal hörten, das Blut in den Adern zum Sieden brachte. Niemand konnte damals ahnen, dass er Zeuge eines historischen Moments geworden ist. Noch heute, Jahrzehnte danach, in scheinbar aussichtslosen Kämpfen erschallt er laut von den Rängen, so wie damals, als der Durchhaltewillen der Schlosserjungs aus Oberschöneweide ins Unermessliche stieg. Eine Legende nahm ihren Lauf, ein Mythos begann zu leben, und er wird niemals niemals vergessen: Eisern Union!« Dann setzt die Musik ein.
Mit historischer Wirklichkeit hat das allerdings nichts zu tun, der Text ist der Prolog eines Theaterstücks, das »Und niemals vergessen – Eisern Union!« heißt und 2006 uraufgeführt wurde. Die Geschichte von aussichtslosen Kämpfen und eisernen Schlosserjungen beschwört weniger eine reale Vereinshistorie als ein bestimmtes Gefühl.
Als ich 2010 nach Berlin zog, stellte ich schnell fest, dass mich Ostberlin nicht nur mehr interessierte als Westberlin, sondern dass ich es auch mehr mochte. Das lag einerseits daran, dass der Osten anders war als alles, was ich kannte. Ostberlin ist ein Produkt sozialistischer Stadtplanung, dadurch Moskau ähnlicher als irgendeiner Stadt in der alten Bundesrepublik, schon das faszinierte mich. Zudem hatte ich vage immer noch den Eindruck, dass die Spielregeln im Osten andere waren. Nur fand ich das nun nicht mehr unangenehm, sondern es weckte mein Interesse. Die meisten Menschen hier waren in einem anderen Land als der BRD aufgewachsen, in einem anderen Gesellschaftssystem, mit anderen Ideen, mit anderen Werten und Erfahrungen. Obwohl die DDR schon seit zwei Jahrzehnten nicht mehr existierte, als ich in die Stadt kam, war all das hier weiterhin von Bedeutung.
An der Alten Försterei spürte ich das besonders. Dirk Zingler hatte bei unserem Gespräch im Forsthaus gesagt, dass Unioner gerne unter sich blieben. Sie verhielten sich dem Rest der Welt gegenüber nicht ablehnend oder feindlich, bewahrten aber eine gewisse Distanz – mit innerlich verschränkten Armen. So als wollten sie sagen: »So ganz wirst du uns hier nie verstehen.« Ausgesprochen wurde das nicht, es war aber ein kaum merklich mitlaufender Subtext, eine leise Skepsis gegenüber denen, die nicht die gleichen Erfahrungen gemacht hatten wie sie. Es war kein Zufall, dass bei dem Vereinslied eine Zeile immer besonders laut mitgesungen wurde: »Wer lässt sich nicht vom Westen kaufen? – Eisern Union! Eisern Union!«
Zugleich gab es bei Union Berlin etwas, das mir zutiefst vertraut war. In Köpenick und in Oberschöneweide, wo der Klub 1906 gegründet worden war, hatte die Schwerindustrie schon früh eine große Bedeutung. Das kannte ich aus dem Ruhrgebiet. In meiner Heimat waren es Zechen und Stahlwerke, die das Leben der Menschen bestimmten. Die Bergleute und Stahlwerker hatten auch die Fußballvereine im Revier gegründet und liebten sie mit großer Inbrunst und Anhänglichkeit. In Oberschöneweide und Köpenick hatte es keine Zechen und Stahlwerke gegeben, dafür aber Kraftwerke, Kabelwerke oder Fabriken für Elektrogeräte. Und wenn Union auch nicht von Schlosserjungs gegründet worden war, sondern von Schülern, war er stets der Verein für die Industriearbeiter im Südosten Berlins gewesen.
Diese Welt war aber längst so untergegangen wie die Schwerindustrie im Ruhrgebiet. »Tief im Westen, wo die Sonne verstaubt, ist es besser, viel besser, als man glaubt«, singt Herbert Grönemeyer in dem Lied, das vor jedem Heimspiel im Stadion des VfL Bochum zu hören ist, dem Klub, dessen Anhänger ich seit viereinhalb Jahrzehnten bin. Heute ist die Sonne über der Ruhr nicht mehr verstaubt und der Himmel blau. Überhaupt ist vieles besser, als jenseits des Ruhrgebiets angenommen wird. Aber die Erinnerungen an die verstaubte Sonne tröstet auch über den Phantomschmerz angesichts einer untergegangenen Welt hinweg. Auch Union, so kam es mir vor, verband die Menschen mit einer untergegangenen Welt, doch hier war es nicht nur jene des Industriezeitalters, sondern mehr noch die der Deutschen Demokratischen Republik .
Geschichte war hier enorm wichtig, und bei Union wachte darüber Gerald Karpa, obwohl er das von sich weisen würde. An seiner Tür war er als »Klubchronist« ausgewiesen und nicht als Vereinshistoriker, was Karpa wie Hochstapelei vorgekommen wäre. »Das möchte ich schon deutlich machen: Ich bin kein Historiker«, sagte er, als ich ihn in seinem Büro besuchte. Es lag in der ersten Etage eines Containergebäudes direkt neben dem Stadion. Als es die Haupttribüne noch nicht gab, waren hier die Kabinen der Profis untergebracht gewesen. Heute war im Erdgeschoss der Fanshop, darüber in der ersten Etage das Marketing und das Ticketoffice. Karpas Büro lag am Ende des Ganges, dahinter kam nur noch ein Balkon, von wo aus man einen Teil des Spielfelds im Stadion sehen konnte, und die Fensterfront, hinter der sich der Kraftraum für die Spieler befand, den Karpa jedoch noch nie betreten hatte.
In der DDR hatte Karpa eine Ausbildung zum Facharbeiter für Eisenbahntechnik gemacht, dann aber auf Erzieher umgeschult, um beruflich noch einmal umzusatteln. Bevor der Klub ihn Ende 2013 anstellte, arbeitete Karpa beim Radio und machte dort auch Beiträge über Union, aber weniger über die aktuelle sportliche Situation, sondern über das Drumherum und gelegentlich über die Geschichte des Klubs. Selbst wenn Karpa noch so sehr darauf bestand, kein Fachhistoriker zu sein, merkte man ihm schnell an, dass er die Mentalität eines solchen hatte. Umgeben von Dokumenten aller Art, von Stadionzeitungen, Nippes und alten Pokalen, legte Karpa in allem, was er sagte, Wert auf historische Genauigkeit. Er bereitete sich auf den noch unbestimmten Tag vor, an dem der Klub eine Reihe von Um- und Neubauten durchgeführt hatte und das Forsthaus zum Vereinsmuseum werden konnte.
Die Geschichte des 1. FC  Union ist im Vergleich zu der anderer Klubs reichlich unübersichtlich, geht über fünf Gesellschaftssysteme und schlägt zwischendurch seltsame Haken. Wo der FC Bayern München im Jahr 1900 gegründet wurde und seitdem so heißt, gibt es bei Union mehrere Neu- und Wiedergründungen und eine Teilung. Gegründet wurde der Verein 1906 als SC Olympia Oberschöneweide und erreichte als SC Union Oberschöneweide 1923 das Endspiel um die Deutsche Meisterschaft, das gegen den Hamburger SV aber glatt verloren ging.
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde es dann kompliziert. Zunächst wurde der Verein in SG Oberschöneweide umbenannt, bevor er 1948 seinen alten Namen zurückbekam. Damals spielte Union häufig nicht An der Alten Försterei, sondern im Poststadion in Moabit, also im Westteil der Stadt. Im britischen Sektor von Berlin konnte er nämlich Eintrittsgelder in D-Mark erheben. Nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen setzten sich 1950 auch viele Spieler in den Westteil der Stadt ab und gründeten dort den SC Union 06 Berlin. Nun gab es Union also zweimal, und eine Zeit lang galt der Verein im Westen als das »richtige« Union, weil viele altbekannte Spieler sein Trikot trugen. Anhänger aus dem Osten fuhren in großer Zahl zu den Spielen in den Westen, zu denen an großen Tagen 20000 oder 30000 Zuschauer kamen.
Dagegen führte Union in Ostberlin ein weniger beachtetes Leben. 1951 traten die besten Spieler von Union der BSG Motor Oberschöneweide bei, die SG Union Oberschöneweide blieb bis 1972 nur als kleiner Verein bestehen. 1954 wurde der SC Motor Berlin gegründet, wohin die besten Fußballer von Motor Oberschöneweide weiterwechselten. Dieser neue Klub fusionierte mit einigen kleineren Betriebssportgemeinschaften drei Jahre später zum TSC Oberschöneweide, bis er 1963 mit dem SC Rotation und dem SC Einheit zum neu gegründeten TSC Berlin fusionierte. Die Fußballer pendelten in all den Jahren zwischen der zweit- und dritthöchsten DDR -Spielklasse, kein einziges Mal wurden fünfstellige Zuschauerzahlen erreicht. 1966 wurde der DDR -Fußball dann erneut reformiert, und die Fußballer des TSC Berlin wurden zum neu gegründeten 1. FC  Union Berlin. In den neuen Klubs, wie sie damals auch in Leipzig, Magdeburg, Jena oder Rostock entstanden, wurden die besten Spieler versammelt, um das Niveau des Fußballs zu heben, der in der DDR im internationalen Vergleich hinterherhinkte .
Diese Klubs waren jedoch keine Vereine, weil es in der DDR keine gab. Der Verein ist eine zutiefst deutsche Einrichtung, die im 19. Jahrhundert entstand. Dort trafen sich Menschen zunächst vor allem aus politischen und weltanschaulichen Überzeugungen und später auch, um etwas in organisierter Form gemeinsam zu unternehmen. Zu singen etwa, zu wandern oder eben Fußball zu spielen. Über die Geschicke eines Vereins entscheiden die Mitglieder, die sich einen Vorstand wählen, der seine Aufgaben in aller Regel ehrenamtlich erledigt.
In der DDR gab es keine Vereinsfreiheit, es konnte also nicht jeder einen Verein gründen, der Lust dazu hatte. Um sich vom bürgerlichen Sport abzugrenzen, hießen die Vereine »Vereinigungen«. Diese Sportvereinigungen hatten Träger, die für die finanzielle und logistische Unterstützung sorgten. Bei den »Dynamo« genannten Klubs, etwa dem BFC Dynamo oder Dynamo Dresden, sorgten dafür das Innenministerium, die Polizei oder die Staatssicherheit, bei »Vorwärts« die Nationale Volksarmee. Der Europapokalsieger 1. FC  Magdeburg oder der FC Carl Zeiss Jena hatten als Träger große Unternehmen wie das Stahlkombinat Ernst Thälmann oder das Kombinat Carl Zeiss. Die Vorläufer des 1. FC  Union Berlin seit 1948 entsprangen zwar der DDR -Gewerkschaftsbewegung, aber die Neugründung selbst wurde vom Deutschen Turn- und Sportbund und der SED auf den Weg gebracht. Union war im Gegensatz zu Dynamo und Vorwärts also ein zivil organisierter Klub, und das war für das Selbstbild sehr wichtig.
Klubchronist Karpa wurde 1979 Anhänger des 1. FC  Union, als er 14 Jahre alt war. Als er zum ersten Mal zum Stadion fuhr, um sich ein Spiel anzuschauen, mit der S-Bahn von Friedrichshain nach Köpenick, wusste er nicht einmal, wohin er musste. Also folgte Karpa vom Bahnhof Köpenick einfach zwei Jungs mit rot-weißen Schals, um dann festzustellen, dass sein erster Besuch missglückt war. Das Freundschaftsspiel gegen die tschechoslowakische Mannschaft aus Teplice fiel aus, weil der Platz vereist war.
Seit über vier Jahrzehnten geht Karpa inzwischen zu Union, und man könnte vermuten, dass er einen romantischen Blick auf die Geschichte des Vereins hat, in der es um ungleiche Kämpfe, tapfere Schlosserjungen und einen Klub geht, der sich nicht korrumpieren ließ. Doch sosehr er Union liebte, so entschlossen verweigerte er sich der Mythisierung. »Es fiel damals auf, dass überdurchschnittlich viele Leute mit langen Haaren und in Shell-Parkas im Stadion waren«, erzählte er mir. Also genau der Stil, den ich beim Pokalendspiel 1986 gesehen hatte. Dass daraus im Nachhinein jedoch eine Oppositionsbewegung gemacht wird, erzürnte Karpa: »In den letzten Jahren wurde geschrieben: ›Das Stadion war der Hort der Andersdenkenden‹. Und einmal hieß es sogar: ›Die Spiele von Union gegen den BFC waren die Montagsdemo der 80er-Jahre.‹ Es ist zwar sehr schön, sich 30 Jahre nach dem Mauerfall auf die Seite der Sieger zu stellen, aber es diskreditiert die Arbeit der echten Opposition. Ich möchte Bärbel Bohley nicht mit Fußballfans vergleichen, die nach Dresden fahren und mit der Stasi zu tun bekommen, weil sie betrunken randalierten.«
Der Vergleich mit einer Bürgerrechtlerin wie Bärbel Bohley mochte unpassend sein, aber gab es in der Rivalität zum BFC Dynamo nicht ein oppositionelles Moment? Der Serienmeister aus Berlin, der den DDR -Titel zwischen 1979 und 1988 zehnmal in Serie gewann, war das fußballerische Aushängeschild des Landes. Doch die gern erzählte Geschichte der systematischen Benachteiligung des 1. FC  Union gegenüber dem BFC Dynamo tat Karpa ab. Dynamo hätte eine gute Nachwuchsausbildung und zudem Zugriff auf viel mehr Talente im Land gehabt als andere. »Aber als Verlierer der Geschichte kann sich der BFC heute nicht mehr wehren.«
Um die subtile Systemkritik der Union-Fans zu illustrieren, wurde gerne vom Sprechchor »Die Mauer muss weg« erzählt, wenn die eigene Mannschaft einen Freistoß bekam und die gegnerischen Spieler eine Mauer aufstellten. 2012 bekam Karpa von »Horch und Guck«, einer Zeitschrift zur kritischen Aufarbeitung der SED -Diktatur, den Auftrag, dem Phänomen nachzugehen. Er selber konnte sich nicht erinnern, den Slogan mal gehört zu haben, und fand letztlich niemanden, bei dem das so war. »Was aber nicht heißt, dass ich es ausschließen will.« Interessanterweise erzählte mir dann aber Christian Arbeit, dass er überzeugt war, diesen Sprechchor An der Alten Försterei gehört zu haben. Die Sache würde noch zu klären sein.
Sprechchor hin oder her, für Karpa war die Fankultur der Vorwendezeit weniger Ausdruck politischer Opposition als von Jugendkultur. Die Konflikte unterschieden sich nicht sehr von denen, die Gleichaltrige im Westen hatten. Als Karpa seine Haare lang wachsen ließ, protestierte seine Mutter bizarrerweise dagegen, indem sie seine Socken nicht mehr wusch. »Sie wollte nicht, dass die Nachbarn über uns redeten«. Zum Look der Langhaarigen gehörten Jesuslatschen, Fleischerhemden und sogenannte Tramperschuhe, die eigentlich Kletterschuhe für Arbeiter waren, die auf Strommasten mussten. »Das alles war schick, eine Modefrage, und die Mädchen fanden es auch besser«, sagte Karpa.
Die Nachwendezeit sah er ebenfalls weniger als traumatisches Geschehen, obwohl Union erst einmal in der Drittklassigkeit verschwand. »So tief war das Loch nicht, in das wir gefallen sind. Es gab Sponsoren, wir hatten viel Geld, haben aber über unsere Verhältnisse gewirtschaftet«, sagte Karpa. Vielleicht war er mit dieser Einschätzung zu streng, denn nach dem Fall der Mauer mussten sich alle Ostklubs neu erfinden. Das war schwierig, weil viele Verantwortliche in den Vereinen nicht wussten, wie Profifußball nach kapitalistischen Spielregeln funktioniert. Außerdem hatten viele Fans zunächst andere Sorgen, als sich um ihre Fußballklubs zu kümmern, sie mussten ihr eigenes Leben neu ordnen. Die Jahre nach der Wende sind jedenfalls ein dunkles Kapitel des deutschen Fußballs. In kürzester Zeit wechselten fast alle guten Spieler in den Westen, Hilfe beim Start in die neue Zeit bekamen die Vereine kaum, auch vor dubiosen Geschäftemachern wurden sie nicht geschützt. Teilweise haben sie sich bis heute nicht davon erholt.
Als die Ligen in West und Ost 1991 zusammengelegt wurden, kamen nur zwei Klubs aus dem Osten in die gesamtdeutsche Bundesliga: Dynamo Dresden und Hansa Rostock. Dresden stieg nach vier Jahren ab und kehrte nie wieder zurück, Hansa kam auf insgesamt zwölf Bundesligajahre. Der VfB Leipzig als Nachfolgeklub des 1. FC  Lokomotive Leipzig spielte eine traurige Saison erstklassig. Überraschend hielt sich Energie Cottbus, im DDR -Fußball ewiger Nebendarsteller, immerhin sechs Jahre lang in der höchsten Spielklasse. Das war es aber schon mit den ehemaligen DDR -Klubs in der Bundesliga.
Union schaffte 1994 sportlich den Aufstieg in die Zweite Bundesliga, erhielt aber keine Lizenz, weil die Finanzen nicht stimmten. 2001 stieg der Klub endlich in die Zweite Liga auf, erreichte das DFB -Pokalfinale und durfte im folgenden Jahr im UEFA -Pokal antreten, stieg aber 2004 und 2005 gleich zweimal hintereinander ab und war plötzlich nur noch Viertligist. Doch dieser Tief- war auch der Wendepunkt, denn nun begann die moderne Geschichte von Union.