Schwyzerdütsch im Maschinenraum
Auf dem Schreibtisch von Urs Fischer standen unter dem Bildschirm seines Computers drei Weihnachtsmänner und ein Osterhase aus Schokolade, außerdem ein gehäkelter Hahn, der vielleicht auch eine Ente war. Davor lagen zwei Smartphones, die während der Arbeit so lange auf lautlos gestellt waren, bis die Spieler gegangen waren. Es gab auch ein Festnetztelefon, das Fischer sogar gelegentlich benutzte. Rechts neben ihm lagen, sauber geordnet, durchsichtige Folien auf dem Schreibtisch. Ihr Inhalt war auf der Vorderseite mit schwarzem Filzstift vermerkt: »Trainingsplan«, »Trainingslager« oder »Pendenzen«. Pendenzen werden im schweizerischen Deutsch unerledigte Angelegenheiten genannt. Außerdem klebte Fischer Post-its auf den Schreibtisch, auf denen er notierte, was er noch erledigen oder mit den Mitarbeitern des Staff besprechen wollte. An einigen Tagen klebten mehr als ein halbes Dutzend vor ihm. Fischer, das war unübersehbar, arbeitete die Dinge systematisch ab.
Fischer sprach sehr laut, man hörte ihn sogar durch die geschlossene Tür. Er schrie aber nicht, seine Lautstärke war kein Ausdruck von Aufregung, er redete einfach IN GROSSBUCHSTABEN
. Unions Trainer hatte noch nie im Ausland gearbeitet, bevor er im Sommer 2018 nach Berlin gekommen war, und er merkte immer wieder an, dass er sich auf Deutsch nicht so gut ausdrücken konnte wie auf Schwyzerdütsch, seiner Muttersprache. Sein Lieblingswort war »schlussendlich«. An manchen Tagen hängte er »schlussendlich« an das Ende von jedem Satz, wie einen Punkt oder ein Ausrufezeichen. Bereits in seiner ersten Saison in Berlin war das Wort zu seinem Markenzeichen geworden. Irgendwann lagen Bierdeckel auf dem Büroschrank hinter seinem Schreibtisch, die ein Union-Stammtisch entworfen hatte, auf denen stand: »Und niemals vergessen * Schlussendlich«
.
Fischer nahm seinen Arbeitsplatz morgens gegen sieben Uhr ein. Allgemeiner Dienstbeginn war um acht, und die Stunde von sieben bis acht war für ihn die schönste des Tages. »Da ist mein Puls noch auf 50«, sagte er. Niemand störte ihn. Das Trainerzimmer, so wurde mir relativ schnell klar, war der Maschinenraum der Kabinenwelt. Hier wurden alle sportlichen Entscheidungen vorbereitet und getroffen. Hierhin kamen die Spieler und auch mal Mitglieder des Staff, um Einzelgespräche zu führen, wenn es Konflikte zu lösen gab.
Ich hatte in den ersten Tagen an dem Tisch gesessen, um den morgens das Trainerteam zusammenkam, aber relativ schnell war das Fischer auf die Nerven gegangen. Was im Maschinenraum besprochen wurde, war oft nicht für die ganze Mannschaft gedacht und manchmal nicht einmal für das gesamte Trainerteam. Der Cheftrainer brauchte diesen Raum für sich, also zog ich in den Besprechungsraum um.
Fischer hatte graue Haare, die er mit Wachs hochstellte. Im Verlauf der Saison bekam der Berliner Tierpark einen Nordamerikanischen Baumstachler, ein Nagetier, das zur Gruppe der Stachelschweinverwandten gehört. Eine Boulevardzeitung ließ daraufhin seine Leser über den Namen abstimmen, sie entschieden sich für »Urs«. Das lag an der Ähnlichkeit, aber das Publikum mochte den Trainer auch. Fischer hatte für den größten Erfolg der Vereinsgeschichte gesorgt und in einem Interview gesagt: »Union lebt ähnliche Werte, wie ich sie auch lebe.« Er meinte damit vor allem Nahbarkeit und das Bodenständige, und das war nicht einfach so dahingesagt, wie ich in den kommenden Monaten erleben konnte.
Fischer war in Zürich geboren und aufgewachsen, seine Frau und seine beiden Töchter lebten noch dort. Er sah sie nur selten, ein- oder zweimal im Monat flog er nach Hause, wenn der Terminplan es zuließ. Er war ein Mann auf Montage, der fast seine gesamte Zeit in die Arbeit steckte. Abends schaute er zur Entspannung Serien an, und an freien Tagen ging er mit Markus Hoffmann angeln. Meistens fuhren sie an einen der kleinen Flüsse im Berliner
Umland zum Fliegenfischen, einer der anspruchsvollsten Formen des Angelns.
Über sein Privatleben sprach er kaum, und auch über seine Herkunft gab er eher knapp Auskunft. Sein Vater hatte in Zürich über 30 Jahre lang im Rechnungswesen einer Bank gearbeitet, die Familie seiner Mutter kam aus Italien. Schon im Alter von sieben Jahren hatte er angefangen, beim FC
Zürich Fußball zu spielen, nachdem ihn ein Mitschüler gefragt hatte, ob er mitkommen wollte. Er durchlief alle Jugendmannschaften, es gab damals aber noch keine Akademie, kein Sportgymnasium oder Nachwuchsleistungszentrum.
Obwohl sein Talent unübersehbar war und er auch in die Schweizer Jugendnationalmannschaften eingeladen wurde, war es Anfang der 1980er-Jahre noch selbstverständlich, nicht nur auf Fußball zu setzen. Mit 16 Jahren begann er eine kaufmännische Ausbildung in einer Bank und setzte sie in einer zweiten fort, wo er Arbeit und Training besser miteinander koordinieren konnte. Jedes halbe Jahr durchlief er dort eine neue Abteilung, von der Kasse über die Wertstellungsabteilung zur Abteilung für Fremdwährungen. »Das Schöne war: Du hattest eine Aufgabe und wurdest in die Verantwortung genommen«, erzählte er mir.
Allerdings war die Belastung groß, Fehlzeiten wegen des Fußballs musste er nacharbeiten. Die Abschlussarbeit zur Kaufmannsprüfung war auf drei Stunden angesetzt, Fischer aber musste nach zwei Stunden fertig sein, um wieder rechtzeitig auf dem Trainingsplatz zu stehen. Auch nach abgeschlossener Ausbildung wurde es nicht einfacher. Sein erster Profivertrag beim FC
Zürich sah als Bezahlung nur die Leasingrate von 150 Franken für sein Auto vor. Also hatte er noch eine halbe Stelle bei der Bank und kam morgens um halb sieben ins Büro. Um neun Uhr fuhr er ins Stadion zum Training, anschließend kehrte er zur Arbeit zurück, fuhr später zum Nachmittagstraining und wieder zurück ins Büro. »Irgendwann hatte ich das Gefühl, dass sowohl der Beruf als auch der Fußball litten.«
Als ich Fischer fragte, was für ein Spieler er gewesen war, gab er
eine Antwort, die mich verblüffte. »Ein intelligenter«, sagte er, wo ich »ein solider« oder »ein verlässlicher« erwartet hätte, weil das zum Image des bodenständigen Arbeiters passte, das alle von ihm hatten und das er bereitwillig pflegte. Dass er mehr zu bieten hatte als Fleiß und Engagement, verbarg er gerne. Doch nun sagte er: »Fußballverständnis und das Antizipieren sind mir in die Wiege gelegt worden.« Das frühzeitige Erkennen von Situationen auf dem Platz war auf der Position des Innenverteidigers wichtig, auf der Fischer stets gespielt hatte. Bei ihm war es sogar noch wichtiger, weil er nicht einmal 1,80 Meter groß war.
In seiner langen Profikarriere, die fast zwei Jahrzehnte dauerte, bis zu seinem 37. Lebensjahr, war er fast immer Leader seiner Mannschaften gewesen. Kein Spieler hatte häufiger in der schweizerischen Nationalliga A gespielt, der höchsten Spielklasse des Landes, und die meiste Zeit war er Kapitän seiner Mannschaften. Seine 431 Spiele absolvierte er bei nur zwei Klubs, erst drei Jahre lang beim FC
Zürich, dann sieben Jahre beim FC
St. Gallen und noch einmal acht Jahre in Zürich. Den einzigen Titel, den er in dieser Zeit gewann, war der Landespokal, viermal wurde er auch in der Nationalmannschaft eingesetzt.
»Meine Mitspieler und Trainer mussten einiges erdulden, ich konnte schon sehr unangenehm sein«, sagte er und beschrieb sich als ehrgeizigen Spieler von der Sorte, die kein Trainingsspiel verlieren konnte. Dieses beißende Gewinnenwollen gab Erfolgen auch einen anderen Wert: »Ich glaube, der Ehrgeiz führt dazu, Erfolge anders zu genießen.« Fischer zeichnete aber trotz der Selbstbeschreibung als »intelligenter Spieler« und dem Hinweis auf seinen brennenden Ehrgeiz kein besonders verklärtes Bild von sich als Fußballprofi. »Wir sind auch schon um die Häuser gezogen«, sagte er. Manchmal schien durch, dass ihm seine Spieler leidtaten, weil sie ein weitgehend asketisches und vernünftiges Leben führen mussten, um im heutigen Profifußball bestehen zu können. Es gefiel ihm insgeheim, wenn er mitbekam, dass mal einer über die Stränge geschlagen hatte. Als Fischer im Trainerzimmer über sich erzählte, schüttelte er plötzlich den Kopf und sagte unvermittelt:
»Es ist ein Wahnsinn, wie ich als Spieler war.« Wie er das genau meinte, wollte er aber nicht sagen.
Seine Karriere als Trainer baute Fischer so geduldig und mit Weitsicht auf, dass es nicht zum Bild passte, das Fischer von sich als Spieler gezeichnet hatte. Zunächst übernahm er die U14-Mannschaft des FC
Zürich, um relativ geschützt lernen und Fehler machen zu können. »Als ich zum ersten Mal vor diesen 13- oder 14-jährigen Jungs stand, habe ich mir fast in die Hose gemacht.« Nach einem Jahr wechselte er zum U16-Team und kam mit den pubertierenden Jungs überhaupt nicht zurecht: »Das war eine Katastrophe, die haben mir den Nerv geraubt.« Danach trainierte er fünf Jahre lang die zweite Mannschaft des FC
Zürich, bevor er die Profis übernahm.
Nach Berlin brachte Fischer die Erfahrung von sechs Spielzeiten als Profitrainer in der höchsten Spielklasse und rund 300 Spielen mit. Beim FC
Zürich, dann beim schweizerischen Provinzverein FC
Thun und schließlich beim größten Klub des Landes, dem FC
Basel, hatte er jeweils zwei Jahre gearbeitet, in Thun noch eine Halbserie länger. Nach jeder Station hatte er ein Jahr Pause gemacht. In Zürich arbeitete er mit einer fußballerisch guten, in Thun mit einer kämpferisch starken Mannschaft, »schlussendlich kam es aufs Gleiche raus«. Mit dem FC
Basel gewann er zweimal die Schweizer Meisterschaft und einmal den Pokal, er führte die Mannschaft ins Achtelfinale der Europa League und spielte mit ihr in der Champions League.
Fischer trug eine Brille mit schwarzem Gestell, durch die er sein Gegenüber auf ungewöhnliche Weise anschaute, wenn man mit ihm sprach. Er nahm den Kopf ein ganz kleines Stück zurück, als wäre das nötig, um den Blick scharf zu stellen. Aber dadurch verschaffte er sich auch Abstand vom Gegenüber. Er hielt die Welt überhaupt auf Abstand zu sich, was nicht bedeutete, dass er nicht freundlich war. Die Spieler duzten ihn nicht, aber sie siezten ihn auch nicht, sondern sprachen ihn mit »Trainer« an. Fischer kumpelte nicht herum, fraternisierte mit niemandem, sondern legte vor allem Wert darauf, zu allen korrekt
zu sein. Er leistete sich keine Launen, und ich sollte einige Zeit brauchen, bis ich unterscheiden konnte, wann er guter Dinge war und wann nicht.