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Nervöses System
Als ich Dirk Zingler vor dem Spiel gegen Leipzig auf seiner Runde durchs Stadion begleitete und er Hand um Hand schüttelte, hatte ich ihn gefragt, wie oft er im Herbst und Winter eigentlich krank wurde. Er hatte nur gelacht. Drei Tage später ging es mir selber nicht gut. Ich hatte mich schon am Tag nach dem Spiel nicht so toll gefühlt, konnte aber wegen eines Termins sowieso nicht zum Training kommen. So ganz unlieb war mir das nicht gewesen, denn mir ging immer wieder im Kopf herum, was mir ein Bundesligatrainer gesagt hatte, als ich ihm von dem Projekt erzählte, Union durch die Saison zu begleiten: »Es wird darauf ankommen, dass niemand das Gefühl bekommt, Sie bringen Pech.« Insofern war es gut gewesen, am ersten Spieltag beim Präsidenten und am Tag danach nicht bei der Mannschaft gewesen zu sein, vielleicht hätten Spieler und Trainer mich so mit der Niederlage in Verbindung gebracht. Aber ich durfte natürlich auch nicht für realen Schaden sorgen.
Auf der Tür zur Kabine war ein weißer Zettel aufgeklebt, auf dem stand: »Bitte alle Hände desinfizieren.« Er irritierte mich jeden Morgen, wie viel Hände hatte ich denn? Sollte ich alle zwei, vier oder zehn Hände desinfizieren? Zumindest trug meine sprachliche Pedanterie – ich überlegte sogar, den Zettel zu korrigieren – dazu bei, dass ich jedes Mal meine Hände desinfizierte, wenn ich die Kabine betrat. Ich wollte auf keinen Fall der Pechvogel sein, der aus Unachtsamkeit eine Bundesligamannschaft lahmlegte.
Schon als ich am Mittwochmorgen nach dem Spiel gegen Leipzig aufgestanden war, fühlte ich mich abgeschlagen wie lange nicht. Gegen die Kopfschmerzen nahm ich eine Tablette und fuhr nach Köpenick. In der morgendlichen Besprechung des Trainerteams verkündete Fischer, dass er das Trainingsprogramm umschmeißen wolle. »Es geht um die Basics, wir müssen wieder an den Grundlagen des Spiels arbeiten«, sagte er. Damit meinte er aber nicht nur Training und Spiel. Er war genervt, wie sehr das ganze Ballyhoo der vergangenen Woche alle abgelenkt hatte. Inzwischen hatte er noch mitbekommen, dass ein Spieler eine gute Stunde vor Anpfiff des Leipzig-Spiels in der Kabine an seinem Handy herumgespielt hatte, was verboten war. Ein anderer hatte Teammanagerin Susi Kopplin damit behelligt, noch Eintrittskarten für einen Freund zu hinterlegen. »Wir müssen jetzt konsequent sein. Es geht nicht darum, dass ihr in der Kabine patrouilliert. Ihr müsst keine Polizei sein. Aber wir haben Regeln, und wenn die verletzt werden, muss ich davon wissen.« Dann schaute er Spielanalytiker Adrian Wittmann an: »Und das gilt für dich genauso, auch du gehörst zum Trainerteam.«
Außerdem hatte sein Ärger über Torhüter Gikiewicz, der der verspätete Kartenhinterleger gewesen war, einen ersten Sättigungspunkt erreicht. »Rafa geht es nur um sich selbst, er spricht aber über alles. Ich rede noch heute mit ihm, weil sonst die Gefahr besteht, dass ich explodiere.« Alle im Raum schauten stumm geradeaus und vermieden den Blickkontakt. Fischer war nicht laut geworden, aber für seine Verhältnisse war das ein Gefühlsausbruch.
Danach ging ich mit Markus Hoffman auf den Platz, um ihm beim Aufbau für das Training zu helfen, also Stangen auf den Platz zu tragen und die sogenannten Mannequins, Plastikfiguren mit den Umrissen eines Menschen, die man in den Rasen stecken konnte. Ich fragte ihn, wie er die Situation beurteilen würde. Fischer hatte den Spielern in der morgendlichen Videositzung eklatante, eigentlich leicht zu vermeidende Fehler gezeigt. Krasse Stellungsfehler oder dass sie vergessen hatten, beim Freistoß den Schützen im Auge zu behalten. Hoffmann zog die Schultern hoch: »Überforderung.« Der Gegner war so stark gewesen, dass die Spieler zwischendurch vergaßen, was sie eigentlich konnten. Aber Hoffmann sagte auch: »Wer Regeln jenseits des Platzes nicht befolgt, befolgt sie auch auf dem Platz nicht.«
Dann kamen die Spieler auf den Rasen, und plötzlich konnte ich nicht mehr. Es war, als hätte jemand den Stöpsel gezogen, alle Energie entwich mir. Ich beugte mich vor, richtete mich wieder auf, blies die Backen auf, pustete. Kalter Schweiß trat mir auf die Stirn. Unauffällig schlich ich vom Platz und ging zurück in die Kabine, wo mich Max Perschk, der die Physiotherapie leitete, besorgt anschaute. Ich musste mich auf eine Behandlungsliege legen, und er maß meinen Blutdruck. Der war so niedrig, dass Perschk vermutete, ich könne einen Herzinfarkt oder gar Schlaganfall haben. Er rief daraufhin den Mannschaftsarzt an, der vorschlug, mich in die Notaufnahme des Krankenhauses in Köpenick bringen zu lassen. Als der Rettungswagen 20 Minuten später am Stadion vorfuhr, ging es mir so viel besser, dass mir die Sanitäter die Fahrt ins Krankenhaus regelrecht ausredeten und mich wieder vor die Tür setzten. Ich aß noch einen Energieriegel, fuhr nach Hause und legte mich ins Bett. Vermutlich hatte ich an meinem Tag mit Zingler eine Hand zu viel geschüttelt.
Ich war froh, dass ich morgens beim Betreten der Kabine meine Hände desinfiziert hatte. Jeden Morgen schüttelten sich hier alle die Hände, klatschten sich ab oder gaben sich Fistbumps. Ich sorgte mich trotzdem, nach der Klatsche zum Saisonauftakt und vor dem ersten Auswärtsspiel der Saison beim FC Augsburg vielleicht eine Schneise der viralen Verwüstung geschlagen zu haben. Dass etliche Schlüsselspieler ausfallen würden und ich als Ursache ausgemacht würde.
Aber es wurde niemand krank, nur verpasste ich die Reise zum ersten Auswärtsspiel nach Augsburg. Also sah ich am Fernseher, dass die Rückkehr zu den Basics funktionierte. Der FC Augsburg ging nach einer Stunde in Führung, aber im ersten Auswärtsspiel seiner Bundesligageschichte glich Union in der 80. Minute aus. Fischer hatte da beide Stürmer ausgewechselt, und das neue Duo sorgte für den Ausgleich. Publikumsliebling Sebastian Polter schob zu Sebastian Andersson, der völlig frei stand. Obwohl drei Minuten später Innenverteidiger Schlotterbeck vom Platz flog, hätte es kurz vor Schluss noch einen Elfmeter für Union geben müssen. Aber der Schiedsrichter pfiff das Foul an Polter nicht. Nach dem chaotischen Auftritt gegen Leipzig hatte die Mannschaft ordentlich gespielt, das erste Tor geschossen und den ersten Punkt geholt.
Als ich dienstags, inzwischen wieder gesund, in die Kabine kam, war die Stimmung dennoch angespannt. Einige Spieler, die in Augsburg nicht gespielt hatten, hatten Fischer um ein Gespräch gebeten. Außerdem konnte der Trainer zwei junge Spieler nicht mit auf den Platz nehmen, sie blieben im Kraftraum. Es gab nämlich nur 30 Pulsuhren für 32 Spieler.
Eine Fußballmannschaft besteht aus elf Spielern, neun Spieler dürfen auf der Bank sitzen und dreimal darf gewechselt werden. Das bedeutete, dass zwölf Spieler nicht mit nach Augsburg gefahren und das Spiel so wie ich auf dem Sofa angeschaut hatten. Insgesamt 18 Spieler waren nicht zum Einsatz gekommen, also mehr als die Hälfte. Dass der Kader so groß war, lag daran, dass Zingler grundsätzlich beschlossen hatte, keinen Spieler zu einem Vereinswechsel zu drängen, der entscheidend zum Aufstieg beigetragen hatte: »Wir wollen nicht die wegschicken, mit denen wir bei der Aufstiegsfeier betrunken im Graben gelegen haben.« Es wurde den Spielern allerdings mitgeteilt, dass sie Konkurrenz bekommen und ihre Einsatzzeiten absehbar sinken würden. Der ein oder andere hatte das schon in der Vorbereitung bemerken müssen, und so hoffte Zingler, dass Spieler vor dem Start der Saison noch um einen Vereinswechsel bitten würden. »Wir füllen oben ein und schütteln unten raus«, sagte Zingler. Nur: Das Rausschütteln funktionierte nicht so richtig.
Elf neue Spieler waren verpflichtet worden, und nun standen acht Innenverteidiger im Kader, von denen nur zwei würden spielen können. Es gab vier Spieler für die rechte Offensive und drei für die linke, von denen jeweils nur einer würde spielen können. In der letzten Woche, in der noch Wechsel möglich waren, wurde Lars Dietz, einer der acht Innenverteidiger, an den Drittligisten Viktoria Köln ausgeliehen. Der Nachwuchsspieler Cihan Kahraman ging zum Viertligisten Berliner AK . Kurz vor Transferschluss war auch Akaki Gogia nach zwei Jahren bei Union nahegelegt worden, sich einen anderen Verein zu suchen. Aber er blieb, und so würde Fischer zumindest bis zur Winterpause mit einem gewaltig überdimensionierten Kader arbeiten müssen und mit vielen unzufriedenen Spielern.
In diese Grundstimmung hinein hatten sich Mittelstürmer Andersson und der dänische Offensivspieler Marcus Ingvartsen bei Athletiktrainer Krüger gemeldet, weil sie sich nicht richtig ausgelastet fühlten. Sie glaubten, nicht genug trainiert zu haben. »Jetzt fangen wir noch an, über die Belastungssteuerung zu reden. Ruhe im Stall!«, sagte Fischer in der Morgensitzung der Trainer. Als er die Spieler auf dem Platz versammelte, sagte er: »Heute habt ihr die Gelegenheit, euch bei mir auszukotzen. Aber diskutiert nicht untereinander, sondern kommt zu mir. Ich will kein …« Mit der rechten Hand machte er die über alle Sprachgrenzen verständliche Geste für Gequatsche.
Ich hatte, während Fischer sprach, ein paar Schritte entfernt gestanden und beobachten können, wie Sebastian Andersson aus dem Kreis trat und betont desinteressiert woanders hinschaute. Ich hatte angenommen, dass der Schwede stolz darüber war, das erste Tor in der Bundesligageschichte des 1. FC  Union geschossen zu haben. Aber die Annahme hätte falscher nicht sein können. Er war selbst vier Tage später noch sauer, weil er nicht von Anfang an gespielt hatte. Nein, er war nicht nur sauer, Andersson war wütend. Als Fischer einen Pass von ihm mit den Worten »Not bad« kommentierte, machte Andersson eine Bemerkung, die ich nicht verstand, die aber trotzdem unmissverständlich seine Verachtung ausdrückte. »Der hat einen Dachschaden«, sagte Fischer, als er vom Platz ging, klang aber nicht sonderlich aufgebracht.
Als einige Spieler nach dem Training im Kraftraum Übungen absolvierten, fragte mich Jakob Busk: »Na, ist dein Buch schon fertig?«
»Nach dem zweiten Spieltag?«, fragte ich zurück.
»Besser wird es nicht«, sagte Felix Kroos.
Doch es wurde durchaus noch besser, denn vor dem zweiten Training des Tages konnte eine Schlägerei gerade noch verhindert werden. Torhüter Gikiewicz hatte Stürmer Abdullahi so lange mit dem Finger in die Seite gepikst und an den Ohrläppchen geschnipst, bis der ihm eine knallen wollte. Ich hatte es nicht selbst gesehen, und letztlich hatten andere Spieler das Schlimmste noch verhindern können. Als ich Fischer fragte, wie er mit dem Vorfall umgehen würde, sagte er: »Das regeln die untereinander.« Und für mich überraschend vergnügt stellte er fest: »Jetzt kommt Stimmung in die Bude.«
Meinte er das ernst oder war das purer Sarkasmus? Bestand diese Fußballmannschaft aus beleidigten Leberwürsten, die sich bei nächster Gelegenheit an die Wäsche gingen, und der Trainer fand das auch noch komisch? Eines war mir nach nur drei Wochen klar: Eine Fußballmannschaft war ein nervöses System mit Kräften, die schnell auseinanderstreben konnten, wenn es nicht lief. Und die immer wieder eingefangen werden mussten. Am besten bevor die Nervosität den Verein erfasste oder durch die Berichterstattung verstärkt wurde.
»Um deinen Job beneide ich dich nicht«, sagte ich zu Fischer, als wir den Trainingsplatz verließen.
Fischer blieb stehen, wandte sich zu mir und sagte: »Aber ich würde mich darum beneiden.«