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Hexenkessel
Der erste Satz im Grundgesetz des 1. FC  Union Berlin, das nirgendwo aufgeschrieben ist, heißt: »Unser Stadionerlebnis ist der Kern unseres Daseins als Unioner.« Ich hatte diesen Satz x-mal gehört. Über die Jahre war er so oft wiederholt, beschworen, diskutiert worden, dass er in alle Unioner-Gehirne eingemeißelt wirkte wie in eine Gesetzestafel aus der Bundeslade. Vor allem Dirk Zingler benutzte diesen Satz wie einen Eichstab, an dem er seine Entscheidungen überprüfen konnte. Der Satz ist nämlich nicht so banal, wie man auf den ersten Blick denken könnte. Also:
UNSER STADIONERLEBNIS IST DER KERN UNSERES DASEINS ALS UNIONER .
Nun würden viele Fußballfans sagen: »Na und, bei uns ist das auch nicht anders.« Auch anderswo stehen oder sitzen gute Freunde oder lose Bekannte seit Jahren zusammen und zelebrieren vereint ihren Stadionbesuch. Man könnte Geräte zur Messung der Lautstärke oder Feldforscher zur Erfassung der Gesänge auf den Rängen in die Alte Försterei schleppen und feststellen, dass anderswo noch mehr unterschiedliche Lieder noch lauter gesungen werden, aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist »Kern unseres Daseins«. Das klingt zunächst arg schwer, so als wären Hegel oder Heidegger zum Fanabend eingeladen worden. In leichte Sprache übersetzt würde er in etwa heißen: »Bei uns Unionern steht das Stadionerlebnis im Mittelpunkt, und alles, was wir machen, muss das berücksichtigen.«
So würden es hingegen nur noch sehr wenige Vereine formulieren. Dazu braucht man sich nur die Ökonomie anzuschauen, denn Klubs erwirtschaften beileibe nicht das meiste Geld in ihrem Stadion, selbst wenn es deutlich größer ist als die Alte Försterei. Das Geld kommt hauptsächlich vom Fernsehen, dann kommt es von Sponsoren und an dritter Stelle von den Fans. Also stehen zumeist nicht jene im Mittelpunkt, die das Stadionerlebnis erschaffen, sondern jene, die das meiste Geld bezahlen.
Bei Union gibt es nichts von dem Gedöns, mit dem man sonst in Stadien traktiert wird. Es fliegen vor dem Spiel keine ferngesteuerten Zeppeline mit Werbeaufdrucken durchs Stadion. Es gibt keine Sponsoren für Ecken, Freistöße oder (wie bei Mainz 05) sogar für den Videobeweis. Es gibt keine Sponsoren für irgendwelche Zuschaueraktionen in der Halbzeitpause. Weil das alles vom Stadionerlebnis, so wie es bei Union definiert wird, ablenken würde. Das hat die Folge, dass ein dadurch unbelästigtes Publikum sich dazu aufgefordert fühlt, zum Stadionerlebnis beizutragen.
Als Fans wollen wir im Stadion bekanntlich am liebsten, dass alle durchdrehen und einem hinterher die Ohren sausen. Wir wollen Ekstase und Drama, traditionell ist in Deutschland dafür Borussia Dortmund zuständig. Ins Westfalenstadion passen 80000 Zuschauer, 24000 davon stehen auf Europas größter Stehtribüne und bilden die legendäre »Gelbe Wand«. Sie wird sogar international bestaunt, von England bis China oder Singapur, wo der Klub ein Büro für den südostasiatischen Markt hat. Man konnte also davon ausgehen, dass die Spieler des BVB intensive Stadionerlebnisse gewohnt waren, aber sie kamen unvorbereitet zum ersten Bundesligaspiel an die Alte Försterei. Meine These, warum der kleine Aufsteiger Union Berlin am dritten Spieltag die große Borussia aus Dortmund schlagen konnte, ist diese: Es lag an der Wahl der Mannschaftshotels – oder zumindest lag es auch daran.
Bevor die Mannschaft von Union in ihr Hotel fuhr, begann der Arbeitstag morgens um neun mit der üblichen Besprechung. Videos zeigten den Spielern, was die vorherigen Gegner Köln oder Augsburg gegen den BVB richtig gemacht hatten. Bilder aus dem eigenen Training belegten, wo die Jungs gut gewesen waren. »Wichtig ist, dass wir heute unser Gesicht zeigen«, sagte Urs Fischer. Dann fragte er: »Was ist unser Gesicht?« Felix Kroos durchbrach das Schweigen: »Dass wir eklig sind, organisiert und als Team auftreten.« – »Richtig«, sagte Fischer. Um zehn waren die Ekligen auf den Trainingsplatz gegangen, 20 Minuten zum sogenannten »Anschwitzen«, um den Körper zu wecken. Um 11.15 Uhr fuhr der Bus zum Tageshotel am Müggelsee.
Ich hatte schon gehört, dass die Spieler das Hotel nicht sonderlich mochten und die Trainer eigentlich auch nicht. Angeblich würde es nicht gut riechen, das WLAN sei schlecht, das Essen und überhaupt alles. Auch ich war erstaunt über die Wahl dieses Hotels, obwohl es nicht schlecht roch, das WLAN in Ordnung war und das Essen einigermaßen. Aber es war ein Ort ohne Charme, mit der leicht kasernenhaften Atmosphäre eines straff geführten Altenheims. Zu DDR -Zeiten hatten sich die Werktätigen hier vom Aufbau des Sozialismus erholen können, die Zufahrt von der Straße bestand noch aus den für den DDR -Straßenbau typischen Betonplatten. Den Müggelsee konnte man nicht so richtig sehen, weil Bäume zwischen ihm und dem Hotel standen.
Mehrfach war es in der Vergangenheit darum gegangen, in ein anderes Hotel umzuziehen, das moderner, schöner und deutlich näher am Stadion lag. Aber der Klub hatte wohl noch einen bestehenden Vertrag und wollte nicht doppelte Hotelkosten bezahlen. Borussia Dortmund hingegen war im Hotel de Rome untergebracht, einem der besten und teuersten Hotels der Stadt, mitten in Berlin, direkt neben der Staatsoper, das so angepriesen wurde: »Die 108 atemberaubenden Zimmer und 37 Suiten des Hotel de Rome sind schlicht und stilvoll und laden dazu ein, an der Geschichte Berlins und seiner pulsierenden Gegenwart teilzuhaben. Mit Akzenten, die die Vergangenheit des Hotels als Bank aufgreifen, verbindet das Design von Olga Polizzi und Tommaso Ziffer auf harmonische Weise Geschichte und Zeitgeist.«
Das Hotel de Rome war zweifelsohne ein Ort für die Reichen und Berühmten. Insofern war Borussia Dortmund dort zu Recht untergebracht, schließlich waren die Spieler beides: reich und berühmt. Jeder kannte sie, weil sie regelmäßige Gäste auf den großen Bühnen des Fußballs waren, in der Champions League und bei den großen Turnieren der Nationalmannschaft. Sie waren Stars und damit soll nicht nahegelegt werden, dass sie abgehoben waren. Bestimmt waren sie ganz okay, aber sie bewegten sich halt in anderen Sphären als die Unioner.
Die Sache mit den Hotels mag wie ein billiger Argumentations-trick klingen: Ihr da oben, wir hier unten. Hungrig gegen satt. Reicher Westen gegen armer Osten. Aber für die Spieler von Borussia Dortmund waren die »atemberaubenden Zimmer« nur eine Station von vielen auf ihrer langen Tour durch die Saison, wo sie gegen Barcelona in der Champions League spielen würden und das ganze Land auf ihre Spiele gegen die Bayern schaute. Für die Unioner in ihrem Dreisternehotel hingegen war es ein Höhepunkt ihres Berufslebens. Es ging gegen den fünffachen deutschen Meister, den nach dem FC Bayern zweitgrößten Klub des Landes, der vor der Saison erklärt hatte, endlich mal wieder den Titel holen zu wollen. Die Mannschaft um den aktuellen Fußballer des Jahres, Marco Reus, den heimgekehrten Weltmeister Mats Hummels und das Supertalent Jadon Sancho.
Beim Mittagessen schaute ich zu Marius Bülter hinüber, dessen Haare wieder mal so verweht aussahen, als sei er durch den Trockner in einer Waschstraße gelaufen. Er hatte rote Backen und die Augen so aufgerissen, als würde vor seinem geistigen Auge gerade Mats Hummels vorbeilaufen. Bülter hatte 15 Monate zuvor noch in den Weiten Ostwestfalens bei einem von einem Möbelhersteller alimentierten Klub namens SV Rödinghausen in der viertklassigen Regionalliga West gespielt und war in der Saison zuvor mit dem 1. FC  Magdeburg aus der Zweiten Liga abgestiegen. Kein Zweifel, er wartete gerade auf das bislang größte Spiel seines Lebens.
Ich vermochte die Stimmung beim Mittagessen nicht zu deuten. Waren alle gut drauf? Optimistisch? Am Trainertisch wurde nicht viel geredet, und wenn, so leise, dass man schon zwei Plätze weiter nicht mehr hörte, worum es ging. Nach dem Essen zogen sich alle auf ihre Zimmer zurück, nur Busfahrer Sven Weinel setzte sich in die Bar und schaute die Zweitligakonferenz. Ich arbeitete erst ein wenig und setzte mich dann zu ihm. Fischer kam und schaute schweigend zu, dann Michael Parensen, und wir schwiegen weiter. Urs Fischer begann auf seinem Smartphone den »Blick« zu lesen, die Website der schweizerischen Boulevardzeitung.
Um drei Uhr trafen wir uns im Raum »Berlin«, und es gab schon wieder was zu essen, das sogenannte light meal bzw. pre-match meal, Spaghetti bolognese. Ich war erstaunt, dass die Spieler schon wieder was reinbekamen, aber sie aßen die Nudeln einfach, damit sie während des Spiels nicht plötzlich Hunger bekamen. Wir machten den üblichen Spaziergang, obwohl Urs Fischer kurz überlegt hatte, ihn ausfallen zu lassen, weil es zu heiß war. Aber der Gang ums Hotel dauerte nur eine Viertelstunde, dann fuhren wir zurück zum Stadion. Niemand redete, alle hatten Kopfhörer auf. Kurz vor der Ankunft blieb der Mannschaftsbus im Verkehr stecken, also stiegen wir an der Straße aus und liefen über die Straßenbahngleise zum Stadion.
Vor dem Spiel hatte jeder Zuschauer ein rotes T-Shirt geschenkt bekommen, auf dem »Das Herz in die eigenen Hände nehmen« stand. Da war wieder das Motiv, das beim ersten Spiel auf dem Rasen gelegen hatte. Auf den roten T-Shirts und aus nächster Nähe fand ich es noch gruseliger. Das Herz, das die Hände hielten, kam mir nun vor, als ob es jemandem herausgerissen worden war, um es in einem geheimnisvollen Ritus zu opfern. Die 20000 in den roten T-Shirts sahen aus, als wären sie hier zu einer irren Splatter-Convention zusammengekommen oder zur Versammlung einer Voodoo-Sekte.
Dazu passte es, dass die Hitze des Abends schwer und feucht über der Alten Försterei lag, als wäre sie aus dem Regenwald am Äquator aufgestiegen. Man hätte sich nicht gewundert, wenn sich im Forst hinter der Waldseitentribüne Lianen um die Baumstämme geschlungen und Trommeln tief im Unterholz den Takt für geheimnisvolle Riten vorgegeben hätten. Aber Trommeln gab es auch hier, einen Ritus und innerlich bebende Gläubige. Das »Stadionerlebnis« nahm Form an.
Ich schaute von ganz oben zu, von der Regieebene, wo die Kameras neben den Kommentatorenplätzen der Fernsehanstalten standen. Ich saß neben Spielanalytiker Adrian Wittmann und Steven Pälchen, der ihm half. Selbst hier, am höchsten Punkt im Stadion, war es schon vor Anpfiff infernalisch laut. Die roten Splatter-Typen auf den Rängen sangen sich warm und gaben bereits alles. Fußball ist bekanntlich der Sport, der es mit der Prozentrechnung nicht so genau nimmt. Beharrlich wird behauptet, dass irgendwer mehr als 100 Prozent geben wolle oder gegeben hätte. Das ist zwar Unfug, aber in dieser Logik gaben die Zuschauer schon vor dem Anpfiff gegen Borussia Dortmund 120 Prozent – oder mehr.
Borussia Dortmund spielte anfangs wie ein Team aus dem Luxushotel, selbstsicher und überlegen, unbeeindruckt von dieser Wall of Noise. Sie hatten ein paar ganz gute Chancen, Unions Führungstreffer durch Marius Bülter nach einer Ecke glichen sie nach zwei Minuten wieder aus. Doch langsam begannen die Umstände in sie hineinzukriechen, die Schwüle, die Trommeln, die Gesänge, die roten Herzen. Und dieser Gegner, der immer schon überall war und sie zum Zweikampf stellte. Der in der Halbzeitpause noch einmal korrigierte, wie Dortmunds Verteidiger angelaufen werden sollten: nicht frontal, sondern von der Seite, wodurch der Spielaufbau zunehmend ins Holpern geriet.
Borussia mochte das nicht, und die Mannschaft begann, auf dem Platz zu schrumpfen, sie wirkte nicht mehr übermächtig. Draußen schrien die Roten um ihr Leben. Es gab keine Phasen, in denen sie schweigend zuschauten, wie das sonst beim Fußball üblich ist. Das Stadion war der sprichwörtliche Hexenkessel, und Borussia Dortmund wurde weichgekocht.
Durch den Vorhang aus Krach erklärte Wittmann mir, dass die beiden Innenverteidiger Marvin Friedrich und Neven Subotic die letzte Linie hochhielten. Sie zogen sich also nicht nah ans eigene Tor zurück, wie man das macht, wenn man unsicher wird oder der Respekt vor dem Gegner übermächtig wird. Immer wieder rückten sie zehn oder 15 Meter weiter vor. (Als ich an einem der folgenden Tage mit Subotic darüber sprach, benutzte er für eine zu tief stehende Abwehrkette den schönen Begriff »gefälschte Sicherheit«. Subotics Muttersprache ist weder Deutsch noch Englisch noch Serbokroatisch, was zu so schönen Wortschöpfungen führen kann. Das Zurückweichen einer Abwehrreihe vermittelt nämlich das Gefühl von Sicherheit, weil der Weg zum Torwart nicht so weit ist. Aber man lässt den Gegner näher ans eigene Tor heran. Darin besteht die Fälschung.)
Wittmanns Erklärungen waren einerseits nett mir gegenüber, andererseits halfen sie ihm, etwas von seiner Aufregung loszuwerden. Mehrfach forderte er Elfmeter und Rote Karten, ich sagte dazu nichts oder wackelte bestenfalls skeptisch mit dem Kopf. Dann wieder sprach er in ein kleines Mikrofon, direkt in den Kopfhörer, der im Ohr von Co-Trainer Markus Hoffmann steckte, unten auf der Trainerbank. Ein Spiralkabel hing daran, wie bei Securityleuten. Und manchmal stand Hoffmann anschließend von seinem Plastikstuhl am Seitenrand auf und zeigte einem Spieler, was er zu tun hatte.
Fünf Minuten nach der Pause schoss Marius Bülter das 2:1, in der 75. Minute folgte Unions drittes Tor, und spätestens da jubelte ich mit, weil »wir« ein Tor geschossen hatten. Nicht als Fan, sondern weil ich mich mehr und mehr zugehörig fühlte. Weil ich mich freute, dass die Arbeit, die sich die Trainer machten, und die Anstrengungen der Spieler belohnt wurden. Ich hatte in den Tagen zuvor immer wieder Übungen gesehen, mit denen Fischer das Spiel über die Flügel trainiert hatte. Wie oft hatte ich ihn »spielen – gehen« rufen hören? Und jetzt spielte Sheraldo Becker und ging, weshalb Robert Andrich ihn wieder anspielen konnte. Der Holländer passte den Ball dann in den Strafraum zu Sebastian Andersson, der ihn ins Tor schob. Das Ding war durch, der erste Sieg des 1. FC  Union Berlin in der Bundesliga. Und das gegen Borussia Dortmund!
Als das Spiel vorbei war, lief ich von der obersten Etage ganz nach unten. Das Treppenhaus war leer, weil noch niemand nach Hause gegangen war. Die Zuschauer standen vor ihren Logen oder auf ihren Tribünenplätzen und feierten einen Sieg, den niemand ernsthaft erwartet hatte. In der Kabine klatschte ich mit dem gesperrten Keven Schlotterbeck ab, er sagte irgendwas von »unglaublich«. Ein paar der anderen Spieler, die es nicht in den Kader geschafft hatten, waren schon da, halb Zaungäste und halb zugehörig. Ich war erstaunt, dass man nichts von dem Jubel draußen hörte. Zu meiner Überraschung stand Urs Fischer mit freiem Oberkörper vor dem Trainerzimmer, mit einem weißen Frotteehandtuch wedelte er sich abwechselnd Luft zu und rieb sich ab. Es war immer noch drückend, aber vor allem schwitzte aus ihm die Aufregung des Spiels heraus.
Auf dem Bildschirm in seinem Zimmer sah man die Mannschaft auf ihrer Ehrenrunde durchs Stadion. Nach und nach kamen die anderen Trainer rein, mehr Abklatschen, aber es wurde kaum etwas gesagt. Alle waren belohnt worden. Sebastian Bönig durch ein Standardtor, Athletiktrainer Martin Krüger durch eine fantastische Laufleistung, Torwarttrainer Michael Gspurning, weil sein Keeper stabil geblieben war. Markus Hoffmann erzählte: »Sheraldo hat mir zugerufen, dass er nicht mehr kann. Ich habe gesagt: Komm, weiter, weiter!« In der ersten Halbzeit hatte man mehrfach sehen können, wie Becker überlegte, ob er den nächsten Sprint zurück wirklich machen müsse. Es war gegen seinen Instinkt. Er war ein Außenstürmer der holländischen Fußballschule, der über die Flügel fliegt, kein deutscher Gegen-den-Ball-Arbeiter. Aber er war gelaufen und gelaufen, bis er einen Krampf bekam, gerne ausgewechselt worden wäre und doch weitergelaufen war.
Fischer hatte sich inzwischen ein frisches Poloshirt übergezogen, das Fenster geöffnet und rauchte eine Zigarette. Sonst rauchte er im Büro nur E-Zigaretten, aber an Spieltagen erlaubte er sich richtige Zigaretten. »Jungs, bleibt auf dem Boden«, sagte er, obwohl niemand den Eindruck machte abzuheben. Dann verkündete er sehr laut: »Das Wichtigste ist, dass ich jetzt 14 Tage Ruhe habe.« So lange würde es bis zum nächsten Spiel dauern.
Ich ging zurück in die Kabine und hatte wenigstens dort Schreie erwartet, eine Folge von High Fives und Fistbumps, und wenn schon keinen verspritzten Champagner, wenigstens Wasserfontänen, Durcheinander und Hysterie. Doch als ich hineinkam und reihum die Helden abklatschte, sah ich in ihren Augen nur Erschöpfung und Erleichterung. Marvin Friedrich schaute mich zwar an, aber er blickte dabei durch mich hindurch, und ich konnte nur ahnen, was er da sah. Vielleicht die Flanken, die er aus dem Strafraum geköpft hatte. Oder die glückseligen Gesichter der Fans auf der Ehrenrunde. Doch nicht nur er, auch die anderen waren lediglich körperlich in der Kabine angekommen. Ihr Körper war noch voller Adrenalin, aber es trieb sie zu nichts mehr an. Über 124 Kilometer waren sie insgesamt in diesem Spiel gelaufen, das inklusive der Nachspielzeit 101 Minuten und 45 Sekunden gedauert hatte, fast sieben Kilometer mehr als Borussia Dortmund. Sie hatten 496 Tempoläufe bestritten, über 100 mehr als der Gegner. Robert Andrich allein war fast 13 Kilometer gelaufen und Sheraldo Becker, von Hoffmann angetrieben, 40-mal gesprintet. Das alles in dieser sumpfigen Hitze des letzten heißen Sommerabends des Jahres. So sanken sie auf die Plätze vor ihrem Spind, zogen die Smartphones hervor und versanken in einem Meer von Nachrichten via SMS , WhatsApp und Instagram, das blaue Leuchten der Bildschirme erhellte ihre Gesichter.
Als Christopher Trimmel als Letzter in die Kabine kam, rief er »Music!«. Irgendwer startete das Soundsystem, und Hip-Hop-Beats erstickten die wenigen Gespräche. Im Spind von Sebastian Andersson hing das Trikot von Marco Reuss auf dem Bügel – wie ein Beutestück. Hinten im Warmmachraum spielte Pjotr, der kleine Sohn von Rafał Gikiewicz, mit einem Fußball, ein kleines Mädchen schlug Rad. Der Keeper selber saß im Kraftraum auf einem Fahrrad und erzählte mir, wie groß der Druck der Dortmunder gewesen sei und dass sie in der zweiten Halbzeit trotzdem kaum Chancen zugelassen hatten. Hinter ihm kämpfte Christian Gentner mit den Schnallen der Pedalen und strahlte.
Fischer kam aus der Pressekonferenz und klagte, dass er die ganzen Glückwünsche würde beantworten müssen, aber wie eine richtige Beschwerde klang das nicht.