An einem Morgen im September fuhr ich mit Jakob Busk allein nach Köpenick, Christopher Trimmel hatte kurzfristig eine Einladung in eine Morgensendung im Fernsehen bekommen. Erstaunlicherweise entwickelte sich schon um acht in der Früh ein für die Uhrzeit überraschend ernsthaftes Gespräch, in dem der Torwart den Satz sagte: »Ich bin zwei Menschen, der Fußballspieler und …« Er überlegte, bevor er den Satz zu Ende brachte: »… und Jakob.«
Normalerweise hätte ich über diesen Satz hinweggehört, weil es zu jedem Leben dazugehört, den Beruf und das Private zu trennen. Andererseits war mir schon während meiner Fahrt mit Christopher Trimmel zum Baumarkt klar geworden, dass das Verhältnis zwischen Privatem und Beruflichem für einen Fußballprofi komplizierter war als für andere Leute.
Ich hatte die Mannschaft nun durch ihre Trainingswoche und am Spieltag begleitet. Ich hatte erlebt, wenn die Spieler morgens zum Frühstück kamen, wenn sie in der Besprechung saßen und ihren Spaziergang machten. Ich war mit ihnen im Bus zum Stadion gefahren, hatte beim Warmmachen in der Kabine zugeschaut. Ich hatte zugehört, wenn Fischer ihnen letzte Anweisungen mitgab, und an der Tür gestanden, wenn sie zum Spiel hinausgingen. Ich stand da nicht allein, Mitglieder des Staff oder jemand von der Presseabteilung waren meistens ebenfalls dort, sodass wir ab und zu ein kleines Spalier bildeten, um die Spieler abzuklatschen.
Aber dieses Abklatschen wenige Momente vor Beginn des Spiels war anders als das, mit dem sich morgens alle begrüßten: Es war lauter und heftiger. Die Handflächen der Spieler knallten grob in meine. Beim ersten Mal war ich über die Heftigkeit fast erschrocken gewesen, ich erkannte die Spieler nicht mehr wieder. Ihre Blicke waren nun hart und auf etwas gerichtet, das ich nicht sehen
konnte. Wäre ich ihnen anderswo begegnet, hätte ich gedacht, dass sie unter Drogen stünden.
Natürlich taten sie das nicht. Aber mir fiel »Break On Through (To The Other Side)« ein, einer der berühmtesten Songs der Doors. Diese jungen Männer, die ich von den täglichen Begegnungen in der Kabine und am Trainingsplatz anders erlebte, waren jetzt durch ein für mich unsichtbares Tor in eine andere Welt getreten. Sie hatten sich verwandelt, und ich muss gestehen, dass mich das zutiefst beeindruckte. Sonst waren sie Familienväter oder Jungs, die vielleicht nicht einmal eine Freundin hatten. Sie waren Männer, die schon das Ende ihrer Karriere sahen, oder Jungprofis, die sich noch nicht sicher sein konnten, ob es bei ihnen zu einer reichen würde. Sie waren Introvertierte und Extrovertierte, es gab die Höflichen und die Ruppigen, Aufgeweckte und Desinteressierte. Sie gingen einer seltsamen Arbeit nach, doch mir kamen sie im Alltag normal vor, mir kam dazu immer wieder der Begriff »harmlos« in den Sinn, was nicht negativ gemeint war. Aber nun im Kabinengang, unterlegt vom Soundtrack klappernder Stollen, waren sie nicht mehr harmlos. Manchmal wich ich regelrecht zurück, weil sie so viel Energie ausstrahlten. Sie trauten sich dorthin hinauszugehen, von wo man im Gang bereits das Brodeln hören konnte, die Gesänge der Fans, die letzten Ansagen des Stadionsprechers. Wo Zehntausende auf sie warteten und die Kameras aufgebaut waren, damit ihnen Hunderttausende würden zusehen können.
Das war es wohl, was Jakob Busk gemeint hatte. Sie waren jetzt nicht mehr Jakob, Christopher oder Anthony. Sie waren jetzt Fußballspieler, und mehr noch als das: Sie waren Krieger. Ich sträube mich dagegen, das so zu schreiben, weil der Vergleich so fürchterlich abgedroschen klingt und eine unpassend martialische Brutalität heraufbeschwört. Aber es hatte viel davon, eine Rüstung anzulegen, wenn sie ihre Trikots überstreiften. Unsere Farben. Und sie würden gegen die in den anderen Farben antreten. Es würde keine Toten geben in diesem Wettkampf und nur im schlimmsten Fall Verletzte, aber es würde Sieger und Besiegte geben. Entweder wir
oder sie würden zufrieden vom Platz kommen, sie oder wir würden unsere Köpfe hängen lassen.
Aber es war gar nicht so einfach, die Welten zwischen dem Fußballspieler und dem Menschen zu trennen. Das verstand ich auch auf der morgendlichen Autofahrt mit Jakob. Er war in Kopenhagen geboren und schon als Kind zum FC
Kopenhagen gekommen, einem der beiden größten Klubs in Dänemark. Er hatte dort eine mustergültige Karriere hinter sich gebracht und in den Nachwuchsnationalmannschaften des Landes gespielt, in der U18, U19, U20 und U21. Schon früh kam er ins Profiteam, mit 19 Jahren wurde er dritter Torwart, zuweilen auch Ersatzmann auf der Bank, und am Ende seiner ersten Spielzeit debütierte er in der höchsten dänischen Liga. In der zweiten Saison durfte er häufiger bei den Profis auf der Bank sitzen, wie am 2. März 2014. Der FC
Kopenhagen empfing als Tabellendritter den Tabellenführer FC
Midtjylland zum Spitzenspiel. Jakob Busk freute sich, dass er bei dieser Gelegenheit wieder als Ersatzmann dabei war. Ein gutes Zeichen, dass man ihm vertraute und es mit seiner Karriere weiterging. Doch kurz vor dem Anpfiff wurde es plötzlich turbulent, der Stammkeeper hatte sich beim Warmmachen einen Hexenschuss zugezogen und konnte nicht spielen.
Jakob Busk würde unversehens spielen müssen, und es wurde ein Desaster. Das stolze Team der Hauptstadt verlor gegen die Emporkömmlinge aus der Provinz im eigenen Stadion mit 1:5. »Das war keine gute Leistung von mir, und ich war der Sündenbock.« Er war 20 Jahre alt und hatte in seinem ersten großen Spiel zwei schwere Fehler gemacht. Ein sportliches Desaster für ihn, aber für Jakob Busk war es mehr als das. Etwas zerbrach in ihm. Er trainierte zwar weiter, wollte aber mit niemandem mehr sprechen. Vom Trainingsplatz fuhr er nach Hause, abends um 21 Uhr schlief er ein. Er verschloss sich vor seinen Eltern und seiner damaligen Freundin: »Es war nicht leicht für sie.« Wochenlang ging das so, bis eines Abends der Co-Trainer an seiner Tür klingelte und sagte: »Ich komme nicht als dein Trainer, sondern als dein Freund, denn du brauchst Hilfe.
«
Nun verstand ich, warum Jakob gesagt hatte, dass es darum geht, für sich den Unterschied zwischen dem Sportler und dem Menschen zu klären. Denn er war damals nur noch der geschlagene, gedemütigte Torwart, der bei seinem ersten Auftritt in einem ganz großen Spiel nicht in der Lage gewesen war, so gut zu spielen, wie er das eigentlich konnte. Dieser Torwart hatte sich ganz über Jakob gelegt und den Menschen völlig zum Verschwinden gebracht. »Wenn er damals nicht gekommen wäre, würden wir hier nicht im Auto sitzen«, sagte Busk. Der Co-Trainer half ihm, einen Mentalcoach zu finden, mit dessen Hilfe Jakob Busk das Verhältnis von Sportler und Mensch wieder zurechtrückte.
Seine Geschichte hatte also ein Happy End, er hatte gelernt, Fußballprofi zu sein und Privatmensch. Er hatte das, was an jenem Tag zerbrochen war, wieder zusammenfügen können. Sein Ehrgeiz war nicht erloschen, das konnte ich im Training sehen. Aber er kannte nun die Grenzverläufe zwischen dem Torwart und dem Menschen Jakob, und das war ein großer Sieg für ihn. Die Verwandlung vom Menschen in den Wettkämpfer war nicht ohne Tücken, die Spieler mussten den Weg zurückfinden.