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»Jungs, wir sind eklig!«
Zwei Tage nach der Niederlage in Leverkusen waren Fischer und sein Co-Trainer Hoffmann Montagabend nach Wolfsburg gefahren, um sich dort das Spiel gegen Hoffenheim anzuschauen. Sie machten so was selten, weil sich kaum die Gelegenheit dazu bot, einen der nächsten Gegner live im Stadion zu sehen, ohne den Trainingsplan durcheinanderzubringen. Diesmal hatte es gepasst, und der VfL Wolfsburg würde der übernächste Gegner sein.
Hoffmann kam beeindruckt zurück: »Wenn ich die Qualität dieser beiden Mannschaften sehe, bereitet mir das schon Kopfschmerzen.«
Für Dienstagmorgen hatte der Mannschaftsrat eine Besprechung der Spieler untereinander angesetzt. Es solle keine Entschuldigungen mehr geben, hatte mir Trimmel auf unserer morgendlichen Fahrt zum Training erklärt. Das war offensichtlich eine fest etablierte Logik: Wenn nicht das richtige Essen auf dem Tisch stand, wie vor dem Spiel gegen Bremen, wenn der Bus zu spät am Stadion vorfuhr, wie in Leverkusen, waren das mögliche Entschuldigungen für schlechte Leistungen.
Ich hatte Trimmel gefragt, ob ich bei der Besprechung dabei sein dürfte. Er hatte nichts dagegen, sagte aber nach Rücksprache: »Wir machen es intern.« Um Viertel nach neun trafen sie sich im Essraum und redeten 20 Minuten miteinander. »Es war gut«, sagte Trimmel hinterher knapp, nicht nur er oder die Mitglieder des Mannschaftsrats hätten gesprochen.
Sie hatten auch beschlossen, dass in dieser Woche nur Trimmel zur Presse gehen würde. Sonst gab es abgesehen von der wöchentlichen Pressekonferenz mit dem Cheftrainer kleinere Gesprächsrunden mit den Spielern, für die sich die Journalisten gerade am meisten interessierten. Als er mittags vom Gespräch mit den Reportern zurückkehrte, erzählte er, dass die Journalisten vermuteten, es gäbe interne Probleme, weil nur er erschienen war. Sie hatten mit ihm auch über die Platzverweise reden wollen. Die angeblich überharte Spielweise von Union war in den Zeitungen gerade das große Thema. Intern wurde das Thema kaum diskutiert, es ging fast in jeder Trainingseinheit um etwas anderes: besser Fußball zu spielen, mehr zu kombinieren, genauer zu passen und mehr Torchancen herauszuarbeiten.
Am Freitagmorgen, abends war das Heimspiel gegen Eintracht Frankfurt, passierte etwas, wie ich fand, Sensationelles. Das Trainerteam war bislang davon ausgegangen, dass die Mannschaft besser spielen müsste, um in der Bundesliga eine Chance zu haben. Daran hatten sie seit Beginn der Vorbereitung gearbeitet, und manchmal hatte die Mannschaft bereits die richtige Mischung aus langen Bällen und einem ruhigeren Spielaufbau gefunden. Doch manche Spieler verloren die Nerven, wenn sie bei längeren Passfolgen unter Druck gerieten, und schlugen die Bälle doch wieder hastig nach vorne oder schlimmer noch, verloren sie schon früh.
Aus seinen Beobachtungen der bisherigen Bundesligaspiele und während des Trainings hatte Fischer offensichtlich einen grundsätzlichen Schluss gezogen. »Vielleicht wollte ich in den ersten fünf Spielen zu viel, aber unsere DNA bestimmt sich nicht über Ballbesitz. In der Zweiten Liga sind wir unermüdlich gelaufen, in 90 Prozent der Spiele mehr als der Gegner. Wir haben uns nicht über Ballbesitzfußball definiert. Jungs, wir sind eklig!« Bei ihm klang das besonders kantig, »eklik«. Es sollte eines der Schlüsselwörter der Saison werden.
Fischer verkündete jetzt einen Richtungswechsel, im Grunde gar eine Kehrtwende. Und obwohl am Abend das Spiel gegen Frankfurt mit 1:2 etwas unglücklich verloren ging, merkte man den Spielern an, dass ihnen Fischer eine Last genommen hatte. Als Frankfurts Trainer Adi Hütter, mit dem Markus Hoffmann befreundet war, nach dem Spiel im Trainerzimmer saß und mit seinen Kollegen Currywurst aß, tröstete er sie, dass das Spiel auch andersherum hätte ausgehen können .
War es aber nicht, und so stand Union weiterhin bei vier Punkten und nur noch einen Tabellenplatz vor der Abstiegszone.
Nach dem Spiel gegen Dortmund hatte ich mit Fischer länger über diverse Aspekte seiner Arbeit gesprochen, auch über Spielsysteme, die der Grundriss einer Mannschaft auf dem Platz sind. Fischer unterschied dabei immer zwei, eines für den Fall, dass seine Mannschaft am Ball war, und das andere, wenn der Gegner angriff. Er erklärte mir, dass er am liebsten im 4-2-3-1 in der Offensive bzw. 4-4-2 in der Defensive spielen ließ. Das bedeutete, dass in der Abwehr zwei Innenverteidiger standen, dazu rechts und links je ein Außenverteidiger. Zwei Spieler bildeten das defensive Mittelfeld, und vorne gab es einen Mittelstürmer. Die drei Spieler dazwischen waren je ein Flügelspieler rechts und links sowie eine hängende Spitze. Hatte der Gegner den Ball, rückten die beiden Flügelspieler ins Mittelfeld, der Mittelstürmer und die hängende Spitze bildeten die vorderste Verteidigungslinie. »So hast du die beste Organisation auf dem Platz. Es sind auf den Außenbahnen je zwei Spieler und nicht nur einer. Außerdem bist du im Zentrum stark«, erklärte Fischer. Man könnte das System zudem mit kleinen Veränderungen leicht in ein 4-3-3 oder 4-1-4-1 verwandeln. Ich fragte ihn, ob es ihm wichtiger sei, dass seine Mannschaft ein System gut beherrschte, oder ob sie in der Lage sein musste, zwischen verschiedenen Grundaufstellungen zu wechseln. »Du musst dich auf ein System festlegen, in dem sich die Jungs wohlfühlen, das hat höchste Priorität. Orientiere dich an den größten Trainern und den Spitzenmannschaften, die beherrschen eines richtig und nicht fünf Systeme halb. Über Flexibilität und wechselnde Systeme zu sprechen, ist eine Modeerscheinung. Wenn du es nicht machst, wirst du schubladisiert, als oldschool.« Old School und New School waren Begriffe, die Fischer häufig benutzte. Er selbst sah sich einerseits durchaus als oldschool, was für ihn bodenständig und nicht überspannt bedeutet. Aber er wollte auch nicht nur für einen knorrigen Traditionalisten alter Schule gehalten werden.
Als er am Sonntagmorgen zu Beginn der Besprechung im Mannschaftshotel in Wolfsburg seinen klassischen Satz sagte, »So spielen wir«, standen erstmals drei Innenverteidiger in der Aufstellung. Fischer hatte sich damit von seinem favorisierten System verabschiedet. Statt vier gab es nun fünf Verteidiger, wobei die beiden Außenverteidiger, Trimmel und Lenz, noch mehr zur Offensive beitragen mussten. In der Vorbereitung hatte Fischer zwei Testspiele dafür geopfert, ein 5-3-2 einzuüben, aber das hatte erst einmal nicht gut funktioniert. Nun bot sich die Gelegenheit, es noch einmal zu versuchen, weil Wolfsburg im gleichen System spielte. Union konnte den Gegner »spiegeln«, wie die Trainer das nannten, das vereinfachte die Abläufe auf dem Platz. Auch der nächste Gegner Freiburg spielte so. Aber vermutlich ahnte in diesem Moment nicht einmal Fischer, dass der Systemwechsel viele Monate Bestand haben sollte, obwohl seine Mannschaft auch in Wolfsburg mit 0:1 verlor.