Das Wir im Einkaufszentrum
Die Bühne mit dem karmesinroten Teppichboden war zwischen den Schaufenstern vom Drogeriemarkt »Rossmann« und dem »aktiv schuh markt« aufgebaut worden. Drei kleine Ledersessel warteten auf Gäste, an der Wand dahinter kündigte ein Plakat den »Talk unterm Turm« an. Der Turm war der Fernsehturm neben dem Alexanderplatz. Um zur Veranstaltung in den »Rathauspassagen« zu kommen, musste man nur die gläsernen Eingangstüren aufstoßen und am Modegeschäft »Liberty Women« (auf dem i-Punkt ein
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) vorbeigehen, dann war man schon da. Die orangefarbenen Klappstühle waren eine halbe Stunde vor Beginn der Veranstaltung bereits voll besetzt, bald wurden auch die Stehplätze knapp, und Kunden, die unversehens auf Fußballfans im Einkaufszentrum trafen, mussten teilweise darum bitten, durchgelassen zu werden.
Vor dem Schaufester von »Rossmann« stand eine Jazzcombo jenseits des Rentenalters und verkürzte die Wartezeit. Ihre weißen Polohemden wiesen sie als Mitglieder von »Dixieland Alte Wache Potsdam« aus, »Alte Wache« war in Frakturschrift eingestickt. Pünktlich um halb sieben hörten die Alt-Jazzer auf, und aus den Lautsprechern erklang Unions Vereinshymne. Die Fans, die ihre Schals mitgebracht hatten, reckten sie nun in die Höhe. Eine Zuschauerin, die keinen Schal dabeihatte, hielt einfach ein Buch hoch, das anlässlich des Aufstiegs erschienen war. Wie im Stadion wurde auch hier besonders laut und trotzig die Zeile gesungen: »Wer lässt sich nicht vom Westen kaufen? – Eisern Union, Eisern Union!« Und besonders donnernd die letzte Zeile des Liedes: »Wir werden ewig leben!«
Dann trat der Moderator auf die Bühne.
Er war Mitte 70, trug ein blaues Jackett und ein rotes Hemd, das vage mit dem Rot des Teppichbodens auf seiner Bühne
korrespondierte. Die Älteren im Publikum kannten ihn noch aus dem DDR
-Fernsehen. Nach der Wende hatte er lange bei Eurosport gearbeitet, wo er alles wegkommentierte, was ihm vorgesetzt wurde, gerne Skispringen oder Biathlon. Der Moderator war klein und gehörte zu den hartgesottenen Mitgliedern des Showgeschäfts, die sich selbst von den widrigsten Umständen nicht erschüttern lassen, solange man sie nur auf die Bühne lässt. Er hatte die Veranstaltung im Eingangsbereich des Einkaufszentrums zu einer Institution gemacht, schon manch prominenter Sportler hatte von der Bühne aus den Blick auf das »Dänische Bettenhaus« und den »Euroshop – Alles 1 €« genießen dürfen. Die »Rathauspassagen« sind kein Einkaufsparadies für die Reichen und Schönen der Stadt.
Der Moderator begrüßte zunächst Urs Fischer, der eine Union-Sweatjacke und Jeans trug, und dann Christian Arbeit in einem roten T-Shirt mit der Aufschrift »Köpenick 12555« – die Postleitzahl des Bezirks, in dem Union zu Hause war. Für beide gab es donnernden Applaus, für Fischer stehende Ovationen. Als alle auf der Bühne Platz genommen hatten, wurde schnell klar, dass der Moderator die Sache eher komisch angehen wollte. Felix Kroos hatte also recht gehabt. Als er morgens beim Training hörte, dass sein Trainer dort auftreten würde, hatte er gesagt: »Da war ich auch schon mal, der Moderator versucht, lustig zu sein.«
Zunächst machte er eine vage witzige Bemerkung darüber, dass Fischer in Wirklichkeit Schwyzerdütsch sprechen würde, und fragte dann: »Weshalb spielen sie Catenaccio mit Union?« Das spielte darauf an, dass Union bislang nicht viele Tore geschossen hatte, nur sechs in sieben Spielen. Seine nächste Frage war schon keine mehr: »Union hat 32 Spieler, da muss man höllisch aufpassen, es können ja nur elf spielen. Na ja, aber ab und zu fliegt mal einer vom Platz.« Urs Fischer lachte freundlich mit und antwortete unironisch. Er bemühte sich erst gar nicht, mit dem Moderator in einen Schlagfertigkeits- oder Witzelwettbewerb einzusteigen. Nachdem er weitere kleine Spitzen des Moderators knochentrocken ins Leere hatte laufen lassen, sagte Fischer noch: »Ich spreche immer von ›wir‹, nicht von ›meine Mannschaft‹ oder ›die Spieler‹.
«
Damit wandte sich der Moderator Christian Arbeit zu und schaffte es immerhin sofort, dass die Zuschauer sangen: »Du hast die Haare schön«, einen erfolgreichen Schlager von Tim Toupet und der singende Friseursalon, der den bekannten Stadionsprechchor »Ihr könnt nach Hause fahr’n« aufgriff. Oder vielleicht auch umgekehrt. Nachdem Arbeit sich während der Aufstiegsfeier seine schulterlangen Haare hatte abschneiden lassen, über Jahre sein Markenzeichen, sah er immer noch frisch geschoren aus. Er wollte sich vom Moderator aber partout nicht in eine Anschlusswette darüber verwickeln lassen, was er sich im Fall der Rettung vor dem Abstieg würde abschneiden lassen.
Die Veranstaltung war nun gerade mal zehn Minuten alt und stand kurz davor, in weitgehender Würdelosigkeit zu versanden. Ein gealterter Showmaster mit harzigem Charme versuchte im Eingangsbereich eines Einkaufszentrums verzweifelt, Stimmung zu machen, doch unversehens passierte etwas Bemerkenswertes. Der Moderator fragte Arbeit nämlich, warum beim ersten Spiel gegen Leipzig gegen RB
protestiert worden sei, es ginge im Fußball doch bei allen Vereinen ums Geld. Arbeit antwortete darauf ausführlich und grundsätzlich, dass RB
eben gegründet worden sei, um mit diesem Verein ein Produkt zu bewerben, während sonst eben bestehende Vereine mit ihrer Tradition und Geschichte sich Partner suchten, die mit ihnen warben. »Außerdem gab es kein einziges Hass-Transparent gegen RB
im Stadion, es ging uns darum zu zeigen, wofür wir stehen. Und durch das gemeinsame Schweigen haben sich auch die Zuschauer der Sache angeschlossen, denen das Thema vielleicht gar nicht so wichtig ist. Sie haben eine solidarische Haltung gezeigt, und das ist heute was wert.« Der Beifall war donnernd.
Unversehens ging es um Haltungen und Werte, da wollte der Moderator nicht so schnell klein beigeben. Also fragte er, wie der Trikotsponsor mit dem Immobilienunternehmen »Aroundtown« in einer Zeit zu dem Klub passen würde, in dem in Berlin allerorten über drastisch steigende Mieten und die Möglichkeit ihrer Begrenzung diskutiert wurde. »Wir sind mit uns selbst erfahren
genug«, sagte Arbeit. Und weil sie sich selbst gut genug kennen würden, wäre es kein Problem, wenn es um den Verein zu diesem Sponsor unterschiedliche Ansichten gäbe. Aber das Unternehmen sei schon lange ein treuer Sponsor gewesen: »Und er will uns nicht verändern.«
Für viele Unioner war Arbeit das Gesicht des Vereins, weil sie ihn als Stadionsprecher An der Alten Försterei erlebten, weil er die Pressekonferenzen leitete und oft für den Verein sprach. »Ich spreche statt derer, die eigentlich nicht sprechen wollen«, sagte er, als ich mich mit ihm über seine Rolle unterhielt. Gelegentlich war es nötig, dass Dirk Zingler das Wort ergriff, was er aber so selten tat wie möglich. Finanzmann Oskar Kosche äußerte sich öffentlich so gut wie nie, und das galt auch für die anderen Mitglieder in Präsidium und Aufsichtsrat.
Arbeit hatte das Talent eines guten Pressesprechers, die Dinge im Sinne seines Vereins auf den Punkt zu bringen. Zugleich wirkte das aber nie ausgedacht oder klang nach PR
-Sprech. Erstaunlich fand ich auch, mit welcher Ausdauer er über Union sprechen konnte. Auch dem 352. Radiosender, Fernsehteam oder Reporter erklärte er, was es mit Union auf sich hatte, als hätte er diese interessante Frage gerade zum ersten Mal gehört.
Ich konnte mir das nur so erklären, dass Arbeit schon fast 20 Jahre lang als Fan zu den Spielen von Union gegangen war, bevor er im Dezember 2005 Stadionsprecher und vier Jahre später Pressesprecher geworden war. Bei seiner Profession half ihm also ein ganz und gar unprofessionelles Gefühl: Er liebte diesen Klub. Ursprünglich hatte er mal Sozialpädagogik studiert, anschließend ein Lehramtsstudium begonnen, um über Nebenjobs in eine ungeplante Karriere auf der Führungsebene eines Kinounternehmens zu geraten. Darüber hatte er Kosche kennengelernt, dem aufgefallen war, wie souverän Arbeit eine Veranstaltung im Kino moderiert hatte. Zunächst machte er den Job als Stadionsprecher ehrenamtlich, bis er im Januar 2009 als Pressesprecher des Klubs angestellt wurde.
Sein Stil am Mikrofon unterschied sich stark von dem bei
anderen Vereinen: Er war kein Animateur, sondern sprach die Sprache der Unioner. Dazu gehörte es zum Beispiel auch, dass er in der Halbzeitpause kurze Nachrufe auf verstorbene Anhänger des Vereins verlas. Mich bewegte es eigentlich immer, diese biografischen Miniaturen von Menschen zu hören, die mit ihren Freunden zusammen ins Stadion gegangen waren und nun nicht mehr kommen konnten. Arbeit gab dem Würde und verzichtete auf unnötiges Pathos, es war schon pathetisch genug.
In einem unbedachten Moment hatte er mal zu mir gesagt, dass er sich im Verein als eine Art Parteisekretär vorkommen würde. Darüber hatte er sich im selben Moment geärgert, er wusste ja, dass er damit meinen Spott über Union als Sekte und fußballerische Einheitspartei fütterte. Außerdem waren Parteisekretäre in der DDR
nicht gerade durchgehend beliebt gewesen. In den volkseigenen Betrieben sorgten sie als Abgesandte der SED
dafür, dass alle Entscheidungen im Sinne der Partei getroffen wurden. Doch man konnte es auch kapitalistisch wenden, Arbeit war mit dafür zuständig, über die Marke Union zu wachen.
Er war ein ungewöhnlicher Wächter, als ehemaliger Sozialarbeiter und Lehrer, als Gitarrist in der Rockband »The Breakers« und als passionierter Leser, vor allem von ostdeutschen Autoren. Solche Leute gibt es im Fußball nicht so viele. Er sagte auch Sätze wie: »Für uns bei Union ist eine grundsozialistische Haltung prägend. In der Kritik an den herrschenden Verhältnissen sind wir uns einig.« Wenn ich zurückfragte, wohin die Kritik führte, sagte er: »Das ist die schmerzende Frage. Aber zumindest habe ich bei Union einen Job gefunden, über den ich sagen kann, dass er keine entfremdete Arbeit ist.«
So war es auch keine entfremdete Arbeit, hier auf der Bühne im Einkaufszentrum zu sitzen und Fragen aus dem Publikum zu beantworten. Eine Zuschauerin wollte von ihm wissen, ob Arbeit, der nicht nur Gitarrist, sondern auch Trompeter war, nicht mit den Jazzern spielen wolle. Und ein paar Momente später stimmten die Alt-Jazzer »Sunny Side Of The Street« an, mit Arbeit an der Trompete. Inzwischen war es richtig nett geworden in dieser
lebensfeindlichen Umgebung. Das war ein kleines Wunder, und es war vor allem Arbeit, der dafür gesorgt hatte.
Die anschließende ausführliche Autogrammstunde blieb entspannt und freundlich. In einer langen Schlange standen die Besucher an und ließen sich von ihm und dem Trainer Autogrammkarten, Schals, Trikots, T-Shirts, Regenjacken, Schokoladenriegel und zuletzt auch das Aufstiegsbuch, das anfangs hochgehalten worden war, signieren. Einige Autogrammjäger kamen wohl häufiger. »Ich kenne euch schon«, sagte Urs Fischer, als eine Familie mit ihrer Teenagertochter vor ihnen stand. »Loreen mit zwei ›e‹, nicht?«