Die Geschichte des Spiels
Union hatte nun vier Bundesligaspiele hintereinander verloren, auf die blöde Niederlage gegen Bremen war die demoralisierende in Leverkusen gefolgt. Fischer hatte die Wende zu den Basics verkündet und sein Spielsystem geändert, gegen Frankfurt und in Wolfsburg hatte es trotzdem nicht gereicht. Es war ein Fünftel der Saison gespielt, aber die Mannschaft hatte erst ein Zehntel der Punkte geholt, die sie holen wollte. Nach sieben Spieltagen waren es gerade mal vier, Union stand nun auf dem 16. Platz der Tabelle. Am Ende der Saison würde das bedeuten, dass es gegen den Dritten der Zweiten Liga um den Klassenerhalt ging. Dennoch benutzte niemand das K-Wort, weder in der Kabine noch im Klub hörte ich es. Auch in den Zeitungen war es nicht zu lesen. Die Gegner hatten eher zu den Stärkeren der Liga gehört, die Niederlagen waren knapp gewesen und teilweise unglücklich. Offiziell steckte Union also nicht in einer Krise.
Allerdings sorgte ich mich, dass meine Zeit mit der Mannschaft bald zu Ende gehen könnte. Wir hatten schließlich die Vereinbarung, dass meine Begleitung jederzeit abgebrochen werden könnte, und so langsam spitzte sich die Situation zu. Zunächst stand eine Länderspielpause an, anschließend würde der SC
Freiburg an die Alte Försterei kommen. Eine Mannschaft, die nur ein Spiel verloren hatte, auf dem vierten Tabellenplatz stand und so etwas wie das Überraschungsteam der Saison zu werden schien. Eine Woche nach dem Freiburg-Spiel würde es zum FC
Bayern gehen, Dienstag drauf nach Freiburg, im DFB
-Pokal. Dann würde Hertha BSC
kommen, zum großen Berliner Lokalderby. Punkte beim Rekordmeister aus München mitzunehmen, war weitgehend illusorisch, auch beim Pokalspiel in Freiburg war Union Außenseiter. Sollte also das nächste Bundesligaspiel zu Hause gegen Freiburg verloren gehen, würde das Lokalderby sehr wohl ein Spiel sein, vor dem man um das K-Wort nicht herumkäme
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Urs Fischer war am Sonntagabend vom Spiel in Wolfsburg aus direkt nach Mönchengladbach gefahren, um dort am nächsten Tag an einem Treffen der Bundesligatrainer teilzunehmen. Zurück in Berlin erzählte er in der Morgenrunde geradezu begeistert davon, wie angenehm, freundlich und offen er den Umgang der Trainer untereinander empfunden hatte. »Das kenne ich aus der Schweiz so nicht. Am Ende hat man sich gegenseitig alles Gute gewünscht, und ich habe einen Sensor dafür, dass es auch so gemeint war.« Es entspann sich ein Gespräch darüber, dass das Trainerteam vielleicht noch wachsen müsse. Fischer fand, dass ein Mentaltrainer hilfreich sein könnte. Als Teil des Trainerteams oder auch nicht. »Weil er uns nicht sagen darf, was ihm die Spieler erzählen«, sagte er. »Wir müssen uns weiterentwickeln, sonst bist du oldschool.« Da war es wieder, das Thema, das ihn offensichtlich sehr beschäftigte. Weil gerade die Stimmung so war, Grundsätzliches zu besprechen, brachte Martin Krüger die seiner Ansicht nach ungerechte Bezahlung der Athletiktrainer auf, die sich auch daraus erklärte, dass der Begriff nicht geschützt ist. »Christoph könnte sich auch Athletiktrainer nennen.« – »Und du Journalist«, antwortete ich. Alle lachten.
Für den Vormittag war eine »polysportive« Trainingseinheit angesagt, der Polysport entpuppte sich als Ausflug in eine Sporthalle hinter der Stadtgrenze. Abgesehen von den verletzten Spielern fehlten nur Sebastian Andersson, der zur schwedischen Nationalmannschaft eingeladen war, und Christopher Trimmel, der zum ersten Mal seit neun Jahren wieder zum österreichischen Team reisen durfte. So fuhr neben dem voll besetzten Mannschaftsbus noch ein Kleinbus mit den Trainern. Adrian Wittmann saß am Steuer und versuchte eine Strecke zu finden, auf der wir schneller wären als der Mannschaftsbus. Als wir tatsächlich knapp vorher ankamen, lobte Fischer Wittmann für seine Fahrweise, und Hoffman sagte feierlich: »Urs, aber du fährst inzwischen eigentlich auch sehr gut.« Als wir alle fast gleichzeitig »eigentlich« riefen, sagte er: »Na ja, er fährt halt inzwischen wie ein Europäer und nicht wie ein Schweizer.
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In der in die Jahre gekommenen Halle konnte man Tennis spielen, Badminton, Squash oder Tischtennis. Die meisten Spieler entschieden sich fürs Bowling, die Trainer auch. Ich spielte bei ihnen mit und rettete mich in beiden Spielrunden auf den vorletzten Platz unserer Sechsergruppe, einmal auf Kosten von Fischer.
Es hatte was angenehm Unseriöses, morgens um elf Uhr auf einer Bowlingbahn herumzuhängen, und das war wohl die Idee. Einige konnten aber nicht anders, als sich auch hier auszupowern. Gikiewicz kam nass geschwitzt vom Squash, und Rehatrainer Christopher Busse war beim Badminton umgeknickt, als er gegen Felix Kroos chancenlos unterlegen war. »Ich bin aber auch in einer Badmintonhalle aufgewachsen«, erzählte Kroos und kommentierte sarkastisch unsere Aktionen an der Bowlingbahn. Nach zwei Stunden fuhren wir wieder zurück, in der Kabine gab es noch Schnitzel mit Pommes. Ich fand das eine interessante Form des Krisenmanagements oder des Managements einer Situation, die niemand Krise nannte.
Am Tag nach dem Ausflug wurde der Ton ernsthafter. Fischer wollte noch einmal Szenen aus dem Spiel in Wolfsburg zeigen, doch vorher sagte er: »Jungs, ein Wahnsinn, das muss ich euch sagen!« Dann machte er eine Kunstpause. »Wir machen ein sehr gutes Spiel und sitzen hier mit nichts. Es sind so viele Situationen, die wir kreieren, aber daraus müssen wir Tore machen. Es kotzt mich an, wenn ich jedes Mal nach Niederlagen Komplimente von gegnerischen Trainern bekomme!«
Die Spieler reagierten nicht, wie immer. Es paradierten die Szenen aus dem Spiel in Wolfsburg an uns vorbei, in denen es an guter Spielfortsetzung mangelte. Sie hatten den Ball erobert, vielleicht noch ins Mittelfeld gespielt, doch bei der nächsten Aktion verebbte der Angriff, weil einer einen Fehlpass spielte, obwohl er gar nicht unter Druck stand. Oder jemand schoss aufs Tor, obwohl er keine gute Position hatte. Oder er schoss nicht aufs Tor, obwohl er eine gute Position hatte. Zwischendurch blendete Adrian Wittmann eine Tafel mit Schlüsselbegriffen ein: Erzwingen, Glaube, Ausreizen, Erkämpfen und Überzeugung. Die
ausgewählten Szenen standen eher für Verhaspeln, Verdaddeln und Verpatzen.
Andererseits war nicht alles schlecht, so wie beim Spiel in Leverkusen. »Der Aufwand, den wir betrieben haben, war fantastisch«, sagte Fischer. Seine Spieler verhinderten die Kombinationen der Wolfsburger gut, in der Defensive stimmte vieles, das sahen wir auch, aber in der Offensive verliefen sich gute Ansätze auf fast schon unerklärliche Weise. Ein besonderes Schauerstück waren Eckbälle und Freistöße.
Christopher Trimmel, der alle Ecken und Freistöße schoss, hatte sie gewohnt präzise geschlagen, aber dort, wo der Ball ankam, stand der dafür vorgesehene Spieler nicht. Einmal war Neven Subotic durch einen gegnerischen Block gehindert worden, mal ein anderer nicht durchgelaufen. »Wieso sind wir nicht da, wo wir sein müssen? Höchststrafe!« Fischer nannte die Namen derer nicht, die nicht da gewesen waren. Wie immer ging es ihm nicht darum, Spieler vor den anderen bloßzustellen. Aber: »So schießen wir nie ein Tor.«
Zum Schluss ließ er noch die letzten fünf Minuten des Spiels laufen und fragte vorher: »Haben wir Geduld bis zum Schluss? Sind wir hektisch? Bringt es dir was, wenn du dich beeilst?« Und man sah, dass sie sich beeilt hatten, ungeduldig und hektisch geworden waren, gebracht hatte es nichts. Nur einmal hatten sie in der Schlussphase einen Angriff von hinten heraus aufgebaut und waren noch zu einer großen Torchance gekommen. Robert Andrich schoss aus 18 Metern knapp am Pfosten vorbei, danach wurde abgepfiffen.
Fünf Stunden lang hatte sich das Trainerteam am Vortag, nach Bowling und Schnitzeln, durch das Video des Spiels in Wolfsburg gearbeitet und zeigte nun, was möglich gewesen wäre. Und zwar nicht abstrakt oder für eine bessere Mannschaft, sondern für dieses Team. Unbedrängt die richtige Entscheidung zu treffen oder bei einer Standardsituation in die richtige Position zu laufen, dazu waren alle im Raum in der Lage. Entschlossen den Abschluss zu suchen, statt noch mal einen riskanten Pass zu spielen, auch das
konnten alle. In 30 Minuten war das Bild eines Spiels erstanden, in dem für Union gegen eine der besseren Mannschaften der Liga deutlich mehr drin gewesen wäre. Dazu war kein Fantasiespiel erschaffen, sondern Belege gezeigt worden.
Ich war begeistert und sagte Fischer das auch. »Ja, du verstehst das, aber ein Viertel der Spieler versteht es nicht, und ein weiteres Viertel interessiert es nicht. Die meisten Spieler fühlen sich nicht angesprochen, wenn wir eine Szene zeigen, in der sie selber nicht beteiligt sind. Sie sind froh, wenn es andere abbekommen haben und nicht sie.« Ich war fast erschrocken, aber Fischer klang nicht resigniert oder gar zynisch. Es war eine seiner Grundannahmen, dass er nicht zu rotbäckigen Enthusiasten sprach, die auf Fortbildung hungerten. Wittmann hatte mir zudem bereits erklärt, dass die Videos nicht alle Spieler erreichten: »Einige sprechen eher auf andere Formen der Informationsvermittlung an.« Sie brauchten die Übungen auf dem Trainingsplatz, um die Spielideen am eigenen Leib zu erfahren, oder das persönliche Gespräch. Letztlich ging es darum, die Spieler auf unterschiedliche Weise zu erreichen.
Donnerstag war noch ein Freundschaftsspiel gegen Dynamo Dresden angesetzt, um den Spielern im zweiten Glied Spielpraxis zu geben. Dabei kam es zu einem Minieklat. Weil Torwarttrainer Gspurning zu einem Treffen der Bundesliga-Torwarttrainer gereist war, sprang sein Kollege aus dem Nachwuchsleistungszentrum ein. Der aber wusste nicht, dass die Torhüter sich im Stadion nicht im Tor warm machten, sondern, um den Rasen davor zu schonen, 30 Meter weiter links, wohin deshalb immer mobile Tore gefahren wurden. Der erboste Platzwart hatte sich daraufhin geweigert, den Rasen zu wässern, was sonst vor jedem Spiel passierte, damit der Ball besser rollt. Oder vielleicht hatte er sich auch nicht geweigert, er bestritt das hinterher. Auf jeden Fall blieb der Rasen trocken, dadurch stumpf und unangenehm zu spielen. Einige Spieler beschwerten sich beim Trainer, dass sie als Reservisten nicht unter den besten Bedingungen spielen konnten. Fischer war entsprechend genervt: »Das kostet so viel Energie, so ein Scheiß.
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Wie immer in der Länderspielpause gab es drei freie Tage, Freitag, Samstag und Sonntag. Die Spieler bekamen den Trainingsplan mit einem Monat Vorlauf, so konnten sie langfristig planen. Sie liebten das, und viele hatten so Reisen vorbereitet. Einige fuhren zu ihren Familien, Christian Gentner nach Stuttgart oder Rafał Gikiewicz nach Polen. Auch Fischer und Hoffmann fuhren zu ihren Familien nach Zürich und Salzburg. Felix Kroos schaute sich drei Tage lang Paris an. Nur der gutmütige Christopher Lenz blieb in Berlin und gab auf Bitten des Klubs eine Autogrammstunde in einem Autohaus.
Am Montag wirkten alle erfrischt. Als ich am nächsten Morgen mit Trimmel zum Training fuhr, erzählte er übersprudelnd von der österreichischen Nationalmannschaft. Mittwoch kam Sebastian Andersson von den Schweden zurück und strahlte, obwohl er nur kurz eingewechselt worden war. Zu ihren Nationalteams zu gehören, machte beide unheimlich stolz. Es fühlte sich so an, als ob die Pause voneinander genau richtig gekommen war, statt verbissen aufs nächste Spiel hinzuarbeiten.
Dann war es aber an der Zeit, den nächsten Gegner vorzustellen. »Der SC
Freiburg ist eine sehr solide Mannschaft, die sehr gut gestartet ist und mit sehr viel Selbstvertrauen spielt. Von der Qualität ist sie ähnlich wie Wolfsburg«, eröffnete Fischer die Sitzung. Als er weitersprach und Wittmann die entsprechenden Szenen zeigte, wurde mir endlich klar, was hier eigentlich passierte. Jede Woche erschufen Fischer und sein Team eine neue Erzählung in den Köpfen und Körpern der Spieler. In ihr ging es darum, einen Faden zu entwickeln, der letztlich zum Happy End führte – zum Sieg. In dieser Geschichte galt es, Hindernisse zu überwinden, die der Gegner in den Weg stellte, oder die eigenen Schwächen zu beheben.
Nicht nur die Videositzungen dienten diesem Zweck, sondern im Prinzip alles, was im Laufe der Woche passierte. Jede Übung auf dem Trainingsplatz und jedes Gespräch der Trainer mit ihren Spielern, jeder Hinweis während der Übungen oder einfach mal zwischendurch.
Die Story musste realistisch sein, in ihr durfte der Gegner nicht
einfach kleingeredet und die eigenen Fähigkeiten übertrieben werden. Fischer durfte von seinen Spielern nur das verlangen, was im Rahmen ihrer Möglichkeiten lag. Vor dem Spiel gegen Frankfurt hatte er die Rückkehr zu einem einfacheren Fußball auch deshalb verkündet, weil er den Eindruck hatte, dass sich einige Spieler überfordert fühlten. Erstaunlicherweise hatten sie aber gleich angefangen, besser zu spielen, als der Trainer es von ihnen nicht mehr verlangte. Dass er nun drei statt zwei Innenverteidiger aufbot, gab ihnen zusätzlich Sicherheit.
Die Geschichte, die das Trainerteam entwarf, musste aber vor allem auf dem Platz bestehen. Die Spieler mussten dort das antreffen, was ihnen vorausgesagt worden war. Damit war nicht unbedingt die richtige Mannschaftsaufstellung gemeint oder auch nur die taktische Formation, aber auf welche Weise der Gegner spielte, davon sollten sie nicht überrascht sein. Suchte er den Weg über Außen oder Innen, baute er mit vielen Pässen oder mit langen Bällen auf. Dazu analysierten sie in vielen Videostunden das gegnerische Spiel und überlegten, was sie dem besonders effektiv entgegenstellen konnten.
Die Geschichte für das Spiel gegen den SC
Freiburg hatte wegen der Länderspielpause einen besonders weiten Spannungsbogen. Bowling und Schnitzel sowie die drei freien Tage hatten signalisiert, dass trotz der vier Niederlagen alles normal war. Die Nachbesprechung der Niederlage in Wolfsburg hatte gezeigt, dass schon vieles klappte, und dass bei dem, was nicht klappte, gar nicht so viel fehlte. Und es gab einen Weg, den nächsten Gegner zu besiegen. »Freiburg ist keine Übermannschaft, man hat es ihr bislang einfach gemacht. Wir aber machen es ihnen bestimmt nicht einfach«, sagte Fischer.
Für den Donnerstag war kurzfristig noch ein Ausflug nach Bad Saarow angekündigt worden, wo abends gegrillt wurde. Dort sprach ein Mentalcoach anderthalb Stunden darüber, sich über kleine tägliche Ziele dem großen Ziel zu nähern, anstatt vor der Größe der ferneren Ziele zu erstarren. Die Botschaft war leicht zu übertragen: Nicht um den fernen Klassenerhalt ging es,
sondern darum, jedes Spiel so konzentriert anzugehen wie möglich. »Wir haben lange darüber diskutiert, ob wir das machen sollen«, erklärte mir Sebastian Bönig. »Wir wollten so was aber nicht erst unternehmen, wenn es schon nach Aktionismus aussähe, etwa vor dem Derby gegen Hertha. Dagegen hat gesprochen, dass wir vielleicht besser gar nichts verändern.« Den meisten Spielern gefiel der Vortrag, einige waren sogar beeindruckt. »Bei mir raschelt ihr nach einer halben Stunde mit den Füßen, ihm habt ihr 90 Minuten lang aufmerksam zugehört«, sagte Fischer zu ihnen. Dennoch kamen sie freitagmorgens mit langen Gesichtern am Stadion an, weil Busfahrer Svenni auf dem Rückweg wieder »einen Stau gefunden« und die Fahrt viel zu lange gedauert hatte.
Jedem war nun klar, dass nicht das Spiel beim Rekordmeister in München wichtig war oder das Derby gegen Hertha, jedenfalls jetzt nicht. Jetzt ging es einzig und allein um Freiburg. In der Besprechung am Morgen des Spieltags ging die Geschichte des Spiels auf die Ziellinie. »Schießt aufs Tor, seid ein bisschen ego. Nicht immer den letzten Pass spielen«, sagte Fischer und wiederholte die Botschaft in Varianten mehrfach. Eigentlich war es sinnvoll, aus möglichst geringer Distanz aufs Tor zu schießen, weil die Chance auf einen Treffer größer war. Aber wenn sie gar nicht schossen, weil der letzte Pass nicht ankam, war es halt besser, es aus einer schlechteren Position zu versuchen.
Bislang hatte sich der Erzählfaden noch nie so gut mit der Wirklichkeit verbunden wie dann gegen den SC
Freiburg, nicht einmal gegen Dortmund, wo sich der Sieg in der Rückschau immer noch wunderhaft anfühlte. In der ersten Minute eroberte Christopher Lenz im Anstoßkreis den Ball und spielte ihn auf Marius Bülter weiter. Der Ball sprang hoch auf, weshalb Bülter ihn über einen gegnerischen Verteidiger lupfen konnte und dadurch zehn Meter vor dem Strafraum plötzlich unbedrängt war. Er lief auf den Sechzehner los, legte den Ball auf seinen rechten Fuß. Zwei Verteidiger stürzten auf ihn zu, während es zugleich keine Anspielstation für ihn gab. Als ich ihn hinterher danach fragte, bestritt Bülter, dass er in diesem Moment seinen Trainer im Ohr gehabt hätte. Aber
Bülter war wirklich ego, suchte nicht noch einen letzten Pass, sondern schoss einfach. Wunderbar satt mit dem Spann traf er den Ball, und aus 25 Metern flog er in den Winkel. 1:0, zum ersten Mal seit fünf Wochen lag die Mannschaft wieder in Führung.
Nach zehn Minuten schoss Marcus Ingvartsen an den Pfosten, ebenfalls von außerhalb des Strafraums, und Freiburg war beeindruckt. Freiburg war auch zunehmend genervt, weil Union die Zweikämpfe suchte, fand und mit aller Konsequenz führte. Union foulte, von einem Tritt Gentners abgesehen, zwar nicht übel und gemein, aber jeder Ansatz des gegnerischen Spiels wurde abgewürgt. Insgesamt 21 Mal pfiff der Schiedsrichter ein Foul gegen uns, das war eine Menge. Diese Mannschaft war eklig, doch auf mitreißende Weise. Der Balldruck ließ nie nach, nie konnte ein Freiburger Spieler den Ball in Ruhe annehmen und weiterspielen. Immer kam ein Unioner sofort auf ihn zugestürzt und bedrängte ihn. Das setzte eine hohe Bereitschaft voraus, die Gegner immer wieder anzulaufen, aber auch ein hohes Maß an Organisation. Wilder Eifer allein reichte nicht, es musste eine Fülle von Vorgaben erfüllt werden.
Der SC
Freiburg hatte zwei Drittel des Ballbesitzes im Spiel, aber gefährlich wurden die Gäste kaum. Das zweite Tor, um den Sieg sicher zu haben, ließ aber bis sechs Minuten vor Schluss auf sich warten. Marcus Ingvartsen traf dann – wieder von außerhalb des Strafraums. Als ich nach Spielschluss hinunter in den Spielertunnel kam, lief gerade Freiburgs Trainer Christian Streich schreiend hinter den Schiedsrichtern her. »Nur treten, 90 Minuten lang. Immer von hinten. Treten, treten!« Dann hörte man einen lauten Knall, er hatte die Tür zur Gästekabine zugeschlagen. Dieses Mal würde es keine freundlichen Komplimente von seinem Kollegen für Urs Fischer geben.
In unserer Spielerkabine donnerte die Musik, aber bei den Trainern war es still. »Ich bin müde«, sagte Markus Hoffmann. Auch Fischer wirkte erschöpft. Vielleicht hatten sie sich selber nicht eingestehen wollen, wie wichtig dieser Sieg war. Sie hatten sich nicht vorstellen wollen, was es bedeutet hätte, wenn es die
fünfte Niederlage hintereinander geworden wäre und sie dann nach München hätten fahren müssen. Der Sieg war verdient gewesen. »Aber wir mussten auch gewinnen«, sagte Hoffmann. Jetzt durfte er es sagen.
Ich wollte ein Gespräch darüber anfangen, ob dieser Tag im Rückblick entscheidend für den Verlauf der Saison sein könnte. Ich war sogar überzeugt davon, aber schwieg. Ich wusste, dass es in diesem Raum niemand hören wollte. Ihre Aufgabe war es, für die nächste Woche eine neue Geschichte zu schreiben, insgesamt 34 Mal im Laufe der Saison. Sie würden dazu weiter Videos schauen, Matchpläne entwickeln und passende Trainingspläne schreiben. Sie würden genau beobachten, ob die Spieler fit genug und geistig bereit waren, das umzusetzen, was sie tun sollten. Sie würden mit ihnen sprechen, in der Gruppe oder einzeln. Vor dem Bildschirm in der Gruppe oder nebenbei, auf dem Weg zum Trainingsplatz oder wieder zurück. Sie würden bemerken, wer gerade unglücklich war, resigniert oder trotzig, und würden überlegen, wie sie damit umgehen müssen. Sie durften nicht zu viel machen und nicht zu wenig. Sie würden morgens früh zur Arbeit kommen und abends spät gehen. Nicht immer würde sich ihre Arbeit am Wochenende auf dem Rasen wiederfinden, und nicht immer würde die Geschichte, die sie erschufen, so wahr werden wie an diesem Tag.