Ich saß mit vier Spielern im Auto, die schlechte Laune hatten. Sehr schlechte Laune! Wir waren auf dem Weg zur Arena des FC
Bayern, in der sie sich nicht umziehen, nicht warm machen, nicht spielen oder nicht einmal auf der Bank Platz nehmen würden. Florian Hübner, Ken Reichel, Nicolai Rapp und Jakob Busk würden das Spiel von den Rängen aus sehen, als wären sie Fans und nicht Fußballprofis. Ein Handy klingelte, und Akaki Gogia war dran. Auch er würde das Spiel bei den Bayern verpassen, er hielt sich ganz in der Nähe auf, in Augsburg. Beim Spiel gegen Frankfurt hatte er sich das Kreuzband gerissen, war in der Reha und würde es noch länger bleiben. Rapp, den er angerufen hatte, stellte das Telefon laut. »Ihr seid ja nicht mal im Kader, ihr Lappen!«, krähte Gogia vergnügt aus dem Lautsprecher. Die vier schauten betrübt. »Ja, wir sind Lappen«, sagte Rapp.
Normalerweise war es nicht so, dass Spieler zu Auswärtsspielen mitreisten, die nicht im Kader standen. Aber nach dem Spiel in München würde es direkt zum Pokalspiel nach Freiburg weitergehen, und Fischer wollte die Möglichkeit haben, auf Verletzungen zu reagieren oder einem Spieler eine Pause gönnen zu können. Für Busk als dritten Torwart war weitgehend klar, dass er kaum zum Einsatz kommen würde, er tat sich mit der Situation am wenigsten schwer. In den anderen rumorte es.
Am Stadion bekam das Quartett die Eintrittskarten, mit denen sie, wie sich herausstellen sollte, zwischen Union-Fans saßen. Sie hassten es, mühsam den Weg zu ihren Plätzen suchen zu müssen, und dass es dort nichts Vernünftiges zu essen und zu trinken gab. Und sie mochten es nicht, wie sich die Fans verhielten. »Unsere Fans haben unsere Spieler mit Begriffen beschimpft, die ich hier gar nicht wiedergeben will«, erzählte Reichel, als wir uns nach dem Spiel wiedertrafen. Mich erstaunte das, weil unbedingte
Loyalität zum zentralen Selbstverständnis von Union-Fans gehört und das Spiel keinen Anlass zur Kritik geliefert hatte. Es ging zwar mit 1:2 verloren, wobei Sebastian Andersson noch einen Elfmeter verschoss, aber die Mannschaft kam keinesfalls unter die Räder und wurde hinterher von den 8000 Union-Fans im Stadion enthusiastisch gefeiert. (Im Gästeblock wurden nach dem Spiel sage und schreibe 276 Portemonnaies gefunden, was auf einen relativ schwungvollen Alkoholkonsum schließen ließ.) Alle schienen stolz darauf zu sein, wie das kleine Union bei den großen Bayern mitgehalten hatte.
»Wir wären besser zu Hause geblieben«, sagte Hübner, als wir zum Hotel zurückfuhren. Er hatte in der Vorsaison immer gespielt, wenn er gesund war, doch bislang war er überhaupt noch nicht zum Einsatz gekommen. Anfang der Saison war Hübner verletzt gewesen, nun war er wieder gesund, aber es gab unter den 32 Profis sieben Innenverteidiger. »Es ist schon eine brutale Situation mit so vielen Spielern, das habe ich noch nie erlebt«, sagte er. Auch Reichel hatte in der Vorsaison fast alle Spiele gemacht und nun seinen Platz an Christopher Lenz verloren. So was passierte, aber je größer die Zahl der Spieler, desto mehr Frustration. »Wir sind eine gute Gruppe, aber nach den vier Niederlagen …«, sagte Hübner und ließ das Ende des Satzes offen. Noch einmal wurde mir klar, wie wichtig der Sieg gegen Freiburg gewesen war.
Wenn die Mannschaft erfolgreich war, gab es wenig Gründe für den Trainer, die Aufstellung zu verändern. Dann mussten die Reservisten den Frust darüber, dass sie nicht spielten, in sich hineinfressen. Es wurde von ihnen verlangt, dass sie gut trainierten und sich auf den Moment vorbereiteten, in dem sie eine Chance bekamen, weil der Trainer eine Idee mit ihnen hatte, wie Parensen es erklärt hatte. Wenn es hingegen nicht lief, wie bei den vier Niederlagen in Folge, wuchs die Unruhe. Auch ich bekam schon mit, dass Spieler bei Fischer vorstellig wurden und fragten, warum sie nicht spielten.
»Wenn ich nicht spiele, werde ich verrückt«, sagte Hübner. Er hatte mal bei Hannover 96 in der Bundesliga gespielt, war aber
zu Union Berlin in die Zweite Liga gewechselt, weil er in Hannover zu häufig auf der Bank gesessen hatte. Dass er nun wieder zusehen musste, quälte ihn. Er war auch nicht der Typ von Spieler, der im Training ständig alles gab. Das hatte nichts mit Faulheit zu tun, aber er brauchte den Kick eines Spiels, um an seine Leistungsgrenze zu kommen.
Nicht nur die Spieler standen unter Druck. Abends im Mannschaftshotel saßen wir nach dem Essen noch in kleiner Runde zusammen. Fischer und das Trainerteam hatten in einem Nebenraum noch mal das Spiel vom Nachmittag angeschaut und waren nun wieder zurückgekommen, um im Fernsehen das »Aktuelle Sportstudio« anzuschauen. Manager Ruhnert war ebenfalls da. Er hatte die Mannschaft zusammengestellt, die Fischer in die Bundesliga geführt hatte. Vorher hatte er die Nachwuchsabteilung von Schalke 04 geleitet, war danach Scout von Union gewesen, bevor ihn der Klub als Manager verpflichtete.
Seine Nervosität an Spieltagen war legendär. Er machte alle ganz wuschig damit, dass er ständig hereinkam und sofort wieder hinauslief, aber es gehörte fast schon zur Folklore dieser Mannschaft, und vielleicht wären alle unruhig geworden, wenn Ruhnert an Spieltagen in buddhagleicher Ruhe durch die Kabine geschritten wäre.
An diesem Abend war er aber nicht nervös, sondern lustig und reichlich überdreht. Mit großer Freude nannte er Adrian Wittmann beharrlich »Adnan« und zog ihn damit auf, dass das Fernsehen zu leise gestellt war. »Die Lautstärke ist perfekt so eingestellt, dass ich 30 Prozent hören kann.« Weil sich Wittmann so viel mit Videos beschäftigte, gingen immer alle davon aus, dass er sich auch um funktionierende Fernsehbilder kümmerte. Steven Pälchen hatte aus dem Zimmer der Physios, die noch immer Spieler behandelten, eine Schiefertafel mit dreieckigen Sandwiches mitgebracht. Sie waren schon leicht vertrocknet und wurden durch eine Kornähre zusammengehalten. Ruhnert zog sie heraus, steckte sie sich ins Haar und begann im Essraum herumzulaufen. Er trug dabei
keine Schuhe. »Hier kann man ja nicht mal auf Socken herumlaufen«, sagte er und deutete auf die Krümel auf dem Boden. Ruhnert hatte einen Schrittzähler und ein Tagesziel von 10000 Schritten, vielleicht fehlten noch ein paar.
Er war jedenfalls sehr komisch, der Socken-Manager mit der Ähre im Haar. Wir lachten und schüttelten den Kopf. Als er wieder an seinem Platz saß, versuchte Ruhnert, sich von Markus Hoffmann Geldmünzen zu leihen, denn er würde am nächsten Morgen in einer Fernsehsendung auftreten, in der es ein sogenanntes Phrasenschwein gab, in das man Geld werfen musste, wenn man während der Diskussion eine typische Fußballphrase benutzt hatte. Ruhnert hatte kein Kleingeld und Hoffmann ausgeguckt. Sie stritten vergnügt, und man merkte, dass die beiden solche Gaga-Diskussionen schon häufiger geführt hatten.
Während der Woche war Ruhnert mal da, mal nicht, weil er zwischen Berlin und Iserlohn pendelte, einer Kleinstadt im Sauerland. Dort lebte seine Partnerin mit ihren schulpflichtigen Kindern, denen sie zwei bzw. drei Jahre vor dem Abitur keinen Umzug zumuten wollten. Aber auch sonst war Ruhnert dort fest verwurzelt, hin und wieder pfiff er am Wochenende noch Spiele in der Kreisliga. Außerdem war er Fraktionsvorsitzender von Die Linke im Stadtrat von Iserlohn. Dass er das bleiben durfte, hatte er sich vertraglich zusichern lassen.
Ruhnert hatte ursprünglich Lehrer werden wollen, war aber beim örtlichen Fußballverein Sportfreunde Oestrich hängen geblieben und hatte sein Referendariat immer weiter nach hinten verschoben. Er war Trainer und Manager in Personalunion gewesen und hatte mitgeholfen, eine erfolgreiche Jugendmannschaft aufzubauen, die regelmäßig den Nachwuchs von Schalke 04 und Borussia Dortmund schlagen konnte. Als eine neue Vereinsführung bei seinem Klub ihn entließ, nahm er ein Angebot von Schalke an, als Jugendscout zu arbeiten. Später trainierte er die zweite Mannschaft des Bundesligisten und leitete schließlich sechs Jahre lang Schalkes Nachwuchsakademie, eine der besten in Deutschland.
Das war ein ungewöhnlicher Weg in den Profifußball. »Ich
wollte den Job nie, es hat sich alles so ergeben. Und ich will ihn auch nicht ewig machen. Die Leute meinen immer: Wenn du Manager bist, musst du immer Manager bleiben und am Ende zu Bayern München gehen.« Ruhnert erklärte gerne, dass er keine Angst vor einem Rauswurf hätte, weil er dann halt was anderes machen würde. Das gab ihm die innere Freiheit, die Dinge so zu tun, wie er sie für richtig hielt. Auch gegenüber Big Boss Zingler vertrat er seine Ansichten klar, selbst wenn sie unterschiedlicher Meinung waren, was Zingler gefiel.
Er hatte Ruhnert bei der Jobanbahnung gefragt, ob er das politische Mandat nicht aufgeben wolle. »Da habe ich gesagt: Dann werde ich hier nicht Ihr zuständiger Mann.« Ruhnert war in einem klassisch sozialdemokratischen Haushalt aufgewachsen, seine Mutter war Monteurin in einer Fabrik, sein Vater Landschaftsgärtner, beide SPD
-Mitglieder. Wie viele Sozialdemokraten hatte sich Ruhnert mit der Agenda 2010 endgültig von der Partei abgewendet, einer Reform des Sozialsystems, die harte Einschnitte für viele Menschen aus bescheidenen Verhältnissen bedeutete. Ruhnert war in Die Linke eingetreten und hatte es geschafft, dass die Partei im zutiefst konservativen Iserlohn drittstärkste Partei im Stadtrat wurde.
Und warum sollte das, was auf der kleinen Bühne in Iserlohn gelungen war, nicht auch auf der großen gelingen? Beim Fußball war es nicht anders gewesen. »Reizen tut mich das. Die Linke im Bund auf jenseits von acht Prozent zu führen, würde ich mir absolut zutrauen. Ich glaube, dass ich ein Gespür habe, Mannschaften zu bilden, die aufsteigen oder in der Liga bleiben können. Und ich glaube zu wissen, was die Menschen in verschiedenen sozialen Schichten bewegt. Dass ich ein paar Euro mehr auf dem Konto habe, heißt nicht, dass ich nicht weiß, was in einem Hartz-IV
-Empfänger vorgeht.«
Ruhnert mochte zwischen Fußball und Politik letztlich nicht wissen, wohin ihn sein Weg noch führen würde, aber das bedeute nicht, dass ihm egal war, ob das mit Union klappte oder nicht. Dazu war er zu ehrgeizig und, wie er sagte, ein zu schlechter
Verlierer. »Der Verein spielt in einem Bereich mit, wo er nichts zu suchen hat«, sagte er. Aber das machte die Aufgabe erst recht spannend und erhöhte den Druck, den er manchmal halt in hemmungslosem Unfug abließ.
Der Profifußball ist eine Berufswelt, die ihre Protagonisten auf vielfältige Weise unter Druck setzt, und zuweilen entlädt sich alles. Drei Tage später, gerade war das Pokalspiel in Freiburg abgepfiffen worden, Union hatte überraschend mit 3:1 gewonnen, stand ich im Spielertunnel und wurde von der Welle der Emotionen fast weggespült. Als Christian Gentner in den Schlussminuten das dritte Tor geschossen hatte, war ich über die Außentreppe des Freiburger Stadions nach unten gelaufen und kam mir nun vor, als sei ich inmitten eines Schlachtengemäldes gelandet. Direkt über mir schrie ein Zuschauer: »Scheiß-DFB
!« Die Schiedsrichter verließen nämlich gerade den Platz, und dieser Zuschauer hatte wohl sie als die Schuldigen der Niederlage ausgemacht. Warum, das verstand ich nicht.
Als Christian Streich an mir vorbeilief, brachte ich mich in Deckung. Wir kannten uns schon lange, aber jetzt wollte ich nicht mit ihm sprechen müssen, denn an Spieltagen verwandelte er sich in einen anderen Menschen, der gerade halb artikulierte Flüche ausstieß und in die Kabine floh, vielleicht auch vor sich selber.
An mir vorbei wurden routiniert Plastikwände mit den Namen und Logos der Vereinssponsoren auf den Platz getragen, kamen Kameramänner mit Kabelträgern im Schlepptau, die wirklich Kabel trugen. Die Pressesprecher der beiden Vereine hielten Ausschau nach Kandidaten, die sie zu Interviews schicken konnten. Die Union-Spieler aber feierten noch auf der anderen Seite des Spielfelds vor dem Gästeblock. Derweil packte Susi Kopplin die Decken mit dem Vereinsemblem zusammen, die auf der Auswechselbank gelegen hatten, und trug sie in die Kabine. Physiotherapeut Max Perschk brachte sein Notfallköfferchen weg. Urs Fischer hatte Freunde oder Bekannte auf der Tribüne ausgemacht, die aus der Schweiz gekommen waren, obwohl das in dem Chaos
krakeelender Zuschauer und schreiender Spieler, die wütend vom Platz stapften, gar nicht so leicht war. Mit ihnen unterhielt er sich.
Freiburgs Manager Jochen Saier, den ich ebenfalls schon lange kannte, kam auf mich zu, und ich streckte ihm die Hand reflexartig entgegen, was ein Fehler war. Wir hatten uns schon vor dem Spiel begrüßt, und er sagte: »Muss ich dir auch gratulieren?« Puh! »Was deine Jungs hier machen, ist unterste Schublade. Die haben den Heintz komplett durchbeleidigt«, sagte er. Ich zuckte mit den Achseln, sagte nichts, weil ich nicht wusste, worum es ging.
Das erfuhr ich von Sebastian Polter, der auf einem Stuhl vor der Kabinentür saß. Er erzählte, dass er Dominique Heintz von der Bank aus als »Buckel-Heintz« beschimpft hätte. Freiburgs Verteidiger hatte einen Rundrücken, der wie ein Buckel wirkte. »Aber das lag daran, dass die Freiburger die ganze Zeit Tony Ujah beleidigt haben«, sagte Polter. Es war schwierig, hier zu klären, wer wen zu Recht oder zu Unrecht beschimpft hatte. Aber eins war klar: Zwischen Freiburg und Union bahnte sich eine solide sportliche Fehde an.
Die Wut der Verlierer auf die Sieger, die auf dem Rasen erneut auf eine Weise eklig waren, auf die Freiburg keine Antwort fand, machte den Erfolg besonders süß. Zumal Fischer einige Stammspieler hatte pausieren lassen. »War richtig gut heute«, sagte Zingler und schaute wie ein Junge, der mit einem Streich durchgekommen war.
Fischer stand inzwischen im Dopingraum und rauchte in der Dusche. »Das haben wir gut gemacht«, sagte er. Ruhnert hielt in der Kabine noch eine Ansprache, auch ihm war die Erleichterung anzumerken. Ich klopfte Rapp auf die Schulter, der in München noch als Lappen auf der Tribüne gesessen und nun gespielt hatte. Dann packten wir unsere Sachen und fuhren zum Flughafen nach Basel. Die Reise nach München und Freiburg hatten wir zum ersten Mal in einem Charterflugzeug gemacht. Jetzt fühlte es sich angemessen an, dass die weiße Propellermaschine in Basel auf dem Rollfeld auf uns wartete und uns zurück nach Berlin brachte. Als wir in Schönefeld ausstiegen, machten die Männer, die unser
Gepäck entluden, auf dem Rollfeld noch Fotos mit einigen Spielern. Es war kalt, wir waren müde und wollten nach Hause. Aber es fühlte sich gut an, das Berliner Derby konnte kommen.