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Berlins Nummer eins
Markus Hoffmann hatte eine hoch entwickelte Kunst, seinen Körper vorwärtszubewegen, die man nicht unbedingt Gehen nennen musste. Er hob die Füße nur minimal vom Boden und rollte sie kaum ab, wenn er sie aufsetzte. Dadurch entstand der Eindruck, es befänden sich kleine Rollen unter seinen Füßen. Wenn Hoffman ging, war sein Rücken rund, der Körper leicht vorgebeugt, und er bewegte die Arme nur wenig hin und her. Außerdem verstand er es, den Blick dabei so leer werden zu lassen, dass man den Eindruck bekommen konnte, der ganze Mensch sei auf Stand-by geschaltet.
Mit diesem Blick saß er an jenem Abend vor seinem Computerbildschirm, den morgens noch einmal frisch rasierten Glatzkopf nach vorne gestreckt wie eine Schildkröte, die aus ihrem Panzer lugte, und buchte einen Flug. Aus der Kabine wummerten Beats ins Trainerzimmer herüber und einzelne Jubelschreie. Immer wieder kamen Menschen mit roten Backen herein, glückselig strahlend, um abzuklatschen oder noch mal einen Jubelschrei loszulassen. Hoffman ließ sich davon nicht beeindrucken, er buchte einen Flug von Berlin nach Salzburg für den nächsten und einen Rückflug für den übernächsten Tag, denn gleich würde in der Kabine verkündet werden, dass die Mannschaft als Belohnung für den Sieg im Lokalderby gegen Hertha BSC zwei Tage freibekäme, also auch die Trainer, und Hoffmann wollte zu seiner Familie.
Während des Spiels, das vom Schiedsrichter unterbrochen werden musste, weil es mit den Leuchtraketen aus dem Block der Anhänger von Hertha BSC und den Pyrofackeln zu viel geworden war, war Markus Hoffmann zweimal fast von einer Rakete getroffen worden. »Na ja«, sagte er nun, als er seine Sachen zusammenräumte, »das ist bei einem Derby eben so.« Hoffmann war ein Meister darin, Aufregungen abzumoderieren. Am 2. November 2019 war er der unaufgeregteste Mensch im Stadion An der Alten Försterei oder zumindest der, der seine Aufregung am besten verbarg.
Ich war mittags nicht mit der Mannschaft ins Hotel an den Müggelsee gefahren, weil ich mir die Atmosphäre ums Stadion aufregender vorstellte. Dadurch verpasste ich eine Gruppe kreischender Kinder, die so über die Hotelflure tobte, dass die Spieler nicht schlafen konnten. Ich war nachmittags durch Köpenick gelaufen – das Spiel sollte abends um halb sieben beginnen –, um ein Gefühl für das erste Spiel zwischen Union und Hertha BSC seit sechseinhalb Jahren zu bekommen.
Die Größe eines Spiels bemisst sich daran, wie viel darüber gesprochen und geschrieben wird, und es war in den vorangegangenen Tagen sehr viel darüber geschrieben und gesprochen worden, fast mehr noch als über das bereits komplett überladene erste Saisonspiel gegen Leipzig. Es wurde eine Rivalität beschworen, die etwas Künstliches hatte, weil beide Klubs erst viermal aufeinandergetroffen waren, als Hertha BSC für zwei Spielzeiten in der Zweiten Liga gastierte. Zweimal hatten sie unentschieden gespielt, einmal hatte Hertha An der Alten Försterei gewonnen und einmal Union im Olympiastadion. Ich hatte das Spiel damals gesehen, das einen magischen Moment hatte, als Union in der 71. Minute einen Freistoß zugesprochen bekam. Die 30000 Fans, die ihre Mannschaft begleitet hatten, begannen in diesem Moment einen ihrer liebsten Sprechchöre anzustimmen: »Torsten Mattuschka, du bist der beste Mann. Torsten Mattuschka, du kannst, was keiner kann. Torsten Mattuschka, hau ihn rein für den Verein.« Torsten Mattuschka, ein zu Übergewicht neigender Spieler mit einer deutlich unterentwickelten Begeisterung fürs Laufen, war damals der absolute Publikumsliebling. Was aus ihm hätte werden können, ahnte man, wenn er zauberhafte Pässe dahin spielte, wohin sie niemand sonst in seiner Mannschaft spielen konnte, oder wenn er Freistöße schoss. An jenem kalten Winterabend am anderen Ende der Stadt hatte er seinen größten Moment. Während die Fans ihn besangen, nahm er Anlauf und tat das, was sie da sangen. Er haute ihn rein für den Verein. Wunderbar schoss er mit rechts den Ball durch die Mauer, einmal sprang er vor Herthas Torwart noch auf. Es war das 2:1 für Union und sollte der Siegtreffer sein.
Es hatte zudem noch zwei Freundschaftsspiele der beiden Klubs gegeneinander gegeben. Das erste im Januar 1990, und Freundschaft war zwei Monate nach dem Fall der Mauer der treffende Begriff, weil die Anhänger beider Vereine freundschaftliche Bande geknüpft hatten, als es noch zwei Deutschland gab. Hertha-Fans trugen damals auf ihren Kutten gerne Aufnäher mit den Umrissen von West- und Ostberlin, getrennt durch eine stilisierte Mauer, auf deren einer Seite das Emblem von Hertha und auf der anderen das von Union zu sehen war. Der eingestickte Slogan dazu hieß: »Freunde hinter Stacheldraht. Eisern Berlin«. Manche Herthaner kamen in den Jahren der geteilten Stadt nach Köpenick hinüber, um die Unioner zu besuchen, es gab einige persönliche Freundschaften aus jener Zeit.
In den Tagen vor dem ersten Derby in der Bundesliga wurden die Bilder von 1990 wieder herausgeholt und die Geschichte erzählt, wie Abertausende Unioner ins Olympiastadion gekommen waren. Wie sie den Eintritt in Ostmark bezahlen durften und wie man gemischt in Blau-Weiß und in Rot-Weiß auf den Rängen zusammensaß und sich freute, dass es keinen Stacheldraht mehr gab und die geteilte Stadt nicht mehr geteilt war. Aber in den fast drei Jahrzehnten, die seitdem vergangen waren, hatten sich das Gefühl, die Euphorie und der Zusammenhalt verloren. Ziemlich schnell war das gegangen, schon wenige Monate nach der Begegnung im Olympiastadion kamen zum zweiten Freundschaftsspiel nicht einmal 4000 Zuschauer in die Alte Försterei. Was da verflog, erklärte Dirk Zingler in einem Interview, das er vor dem Derby gab, so: »Unsere Familie wurde 1961 durch den Mauerbau getrennt. Meine Großeltern, Onkel und Tanten in Westberlin haben uns 30 Jahre lang Pakete geschickt. Das war toll. Alles, was dadrin war, hat so gut gerochen. Dann war die schreckliche Mauer weg, und wir haben uns schnell daran gewöhnt, weil jetzt alles so gut roch. In Bezug auf die Klubs hatte sich gerade bei Union ein oppositionelles Bild aufgebaut. Man war nicht Freund von anderen Ostberliner Klubs, man war Freund von Hertha. Was störte, war die Mauer. Als die weg war, bröckelte die Liebe zur unbekannten Geliebten. Es war wie bei einer Brieffreundschaft. Man hat sich erstmals gesehen und gemerkt, dass es doch nicht die große Liebe ist.«
Die Aufregung des Derbys hatte mich mittags erwischt, als ich meine Eintrittskarte nicht finden konnte. Der Klub hatte mir für die gesamte Saison einen Arbeitsausweis ausgestellt, mit dem ich mich im Stadion frei bewegen konnte. Er hing an einer roten Kordel, doch nun war er verschwunden. Ich durchsuchte die Wohnung einmal und noch ein weiteres Mal. Ich begann zu schwitzen, ich fand die verdammte Karte nicht. Ich rief Christian Arbeit an und erreichte ihn nicht. Ich rief Hannes Hahn an, der neben dem Eingang zur Kabine sein Büro hatte und die tägliche Pressearbeit mit den Spielern und Trainern koordinierte, ein Bayer vom Ammersee mit robustem Humor. Er hatte keine Karten und keine Ersatzkarten mehr. Ich schwitzte noch mehr. Ein paar Minuten später schickte er eine SMS : »Ich löse das.« Und wenn er das sagte, so gut kannte ich ihn inzwischen, würde ich mich darauf verlassen können. Erleichtert machte ich mich auf den Weg.
Bei Lokalderbys geht es auch darum, die Unterschiede zwischen den Klubs herauszuarbeiten. Sie sind ideale Gelegenheiten, sich seiner selbst zu vergewissern und vom jeweils anderen abzugrenzen. Als ich den S-Bahnhof Köpenick verließ, lief ich fast in zwei Union-Fans, die auf einem Wasserspender eine Flasche »Berliner Luft« abgestellt hatten, einen süßen Pfefferminzlikör. Ich hatte, bevor ich nach Berlin kam, noch nie davon gehört. Es war quasi die Ostvariante des süßen Apfelschnapses, den ich in meiner Jugend getrunken hatte, um verlässlich schnell besoffen zu werden. Ich fragte mich, ob auch Herthaner »Berliner Luft« tranken.
Das Problem vieler Derbys ist, dass die realen Unterschiede der Kontrahenten oft wesentlich kleiner sind als die behaupteten. Borussia Dortmund und Schalke 04 kommen aus unterschiedlichen Städten des Ruhrgebiets, haben unterschiedliche Vereinsfarben und sind unterschiedlich sportlich erfolgreich, aber von dem, wofür sie stehen, und auch von der Zusammensetzung des Publikums sind sie sich sehr ähnlich – selbst wenn das die Anhänger beider Klubs vermutlich wütend abstreiten würden. Aber was wurde beim Berliner Lokalderby verhandelt?
Unions Ultras hatten sich vor der Kneipe »Hauptmann von Köpenick« gegenüber der S-Bahn-Station versammelt, um von dort aus einen gemeinsamen Fanmarsch zum Stadion anzutreten. Wie die meisten Ultras in Deutschland trugen sie fast alle Schwarz. Schwarze Jacken, schwarze Hosen, schwarze Mützen machten sie zu einem schwarzen Block. Dieser Style war von den Demos der Autonomen abgeschaut, die sich einheitlich kleideten, um auf Polizeivideos schlechter identifiziert werden zu können. 300 bis 400 Mann, und es waren fast nur junge Männer, standen beieinander. Es wurde weder gesungen noch viel getrunken. Der ein oder andere hatte ein Bier in der Hand, aber es war kein lustvolles Vorglühen vor dem Spiel, dazu war die Sache zu ernst.
Am Trainingsplatz hatte zwei Tage zuvor ein Transparent gehangen, eine bepinselte Bahn Raufasertapete. »KÄMPFT AUF DEM PLATZ WIE WIR AUF DEM ACKER UND DEN STRASSEN DIESER STADT ! BK , CM , HH « stand darauf. Die meisten Spieler hatten ratlos davorgestanden und sich gefragt, was mit »dem Acker« gemeint sei. Sebastian Bönig erklärte ihnen, dass sich das auf die Kämpfe der Hooligans bezog, die sich heutzutage kaum noch in der Nähe der Stadien und schon gar nicht drinnen prügelten, sondern mit anderen Hooligans zu Schlägereien an Orten verabredeten, wo sie nicht Gefahr liefen, sofort die Polizei auf dem Hals zu haben. Es ging also um eine Art von Kampfsport mit Fußballanbindung. Die drei Kürzel waren die von Gruppen, deren Mitglieder sich entsprechend betätigten, der »Brigade Köpenick«, die nach dem Spiel in Leverkusen noch mit uns im Flugzeug gesessen hatten, Crimark (zusammengesetzt aus »Crime« und »Mark«, also Mark Brandenburg) und den Ultras der Hammerhearts. Während des Trainings war eine Handvoll Jungs auf einen Container außerhalb des Trainingsplatzes gestiegen und hatten Leuchtfackeln gezündet.
Das war aber nichts gegen das, was freitags beim Abschlusstraining von Hertha BSC passiert war, wo rund 1000 Fans kamen und die Mannschaft lautstark aufs Derby einschworen: »Und niemals vergessen: Scheiß-Union.« Bei Union hingegen kam zum Abschlusstraining niemand mehr, und die Tapetenbahn hing auch schon wieder halb herunter. Als Zingler vorbeischaute, sagte er: »Bei denen ist viel los. Die wollen zeigen, dass sie die Nummer eins in Berlin sind. Wir müssen nichts beweisen.« Die haben den Stress, nicht wir, wollte er damit sagen. Aber das war am Tag vor dem Derby.
Als die Ultras ihren Marsch zum Stadion begannen, lief einer der beiden Vorsänger mit einem Megafon in der Hand vorneweg, und ich fühlte mich ans »Berghain« erinnert. In Berlins berühmtestem Club war das Fotografieren streng verboten, die Exzesse sollten undokumentiert bleiben. »Tut die Telefone weg«, schrie nun der Vorsänger, als die Leute am Straßenrand den martialischen Block fotografierten und filmten. Auch hier sollten keine Bilder entstehen, als die Fans die Arme in die Luft streckten und zu klatschen begannen. Viele trugen schwarze Handschuhe, aber nicht gegen die Kälte, sondern um für einen möglichen Fight gerüstet zu sein. Mir war das zu ernst, zu martialisch und machistisch, also überholte ich den Marsch und ging zum Stadion voraus. Vom Eingang zum Spielerbereich aus konnte ich noch den Feuerschein und Rauch der Pyrofackeln sehen, die Hertha-Fans auf dem Weg zum Gästeblock abbrannten. Nein, das würde kein annähernd normales Spiel werden.
Am Stadionempfang in der Haupttribüne wartete die Ersatzkarte auf mich, eine exakte Kopie der Karte, die ich verloren hatte. Ich hängte sie mir um den Hals, und weil es drinnen deutlich wärmer war als draußen in der Kälte des Novembertages, zog ich meine Jacke und meinen Pullover aus. Komisch, dass sie mir zwei Karten gegeben haben, dachte ich einen Moment lang. Dann wurde mir schlagartig klar, was passiert war: Die Arbeitskarte, die ich so panisch gesucht hatte, hatte die ganze Zeit um meinen Hals gehangen. Und weil Hannes Hahn gerade vorbeikam, sah er das auch und begann mich auszulachen. Der Depp des Derbys war schon mal gefunden.
Vor dem Warmmachen kam Zingler in die Kabine, seinen alten rot-weiß Strickschal um den Hals gelegt, und sprach kurz zu der Mannschaft. Dass er das tat, war ungewöhnlich, aber er hielt keine donnernde Motivationsrede, sondern sprach eher beruhigend. Das hatten die Trainer in den Tagen zuvor ebenfalls getan, sie befürchteten eher eine Übermotivation. »Geladen wirst du sowieso sein, aber schießt du wild hin und her oder zielst du? Überdrehst du oder hast du deine Emotionen im Griff«, hatte Fischer die Spieler gefragt. Ein wenig gereizt hatten die Trainer die Spieler allerdings schon. In der Kabine hing ein Zitat von Herthas Trainer Ante Covic an der Wand, der gesagt hatte: »Wir sind Hertha BSC . Wir sind das unseren Fans schuldig. Wir müssen einfach die Qualität haben, Union jederzeit zweimal schlagen zu können. Das steht außer Frage. Das ist für mich Selbstverständnis.«
Als die Mannschaften sich draußen warm machten, sagte Masseur Thomas Riedel sichtlich beeindruckt: »Alter, ist das ein Kessel!« Und Grischa Prömel, der immer noch verletzt am Spielfeldrand stand, nickte: »Heute tut es besonders weh. Für solche Spiele ist man Fußballer.« Für solche Spiele ist man auch Fußballfan, und nun wurde auch klar, was bei diesem Derby verhandelt wurde.
In der Gästekurve sangen die Hertha-Fans: »Unioner kommen aus Köpenick, Herthaner aus Berlin.« Als die Mannschaften auf den Platz kamen, entrollten sie ein Transparent, auf dem stand: »Es gibt nur ein Berlin, und das ist mein Berlin«. Hier ging es also nicht um Ost gegen West, sondern um Hauptstadt gegen Vorstadt, Groß gegen Klein, Platzhirsch gegen Emporkömmling. Auch wenn die Großen ihren Zielen hinterherliefen, obwohl sich gerade ein Investor mit 224 Millionen Euro eingekauft hatte. Und die Kleinen nicht mehr so klein waren, dass man sie getrost ignorieren konnte.
Die Choreografie der Union-Fans beim Einlauf der Mannschaften war unglaublich aufwendig und bediente sich der griechischen Mythologie. Auf der Waldseite hinter dem Tor war zunächst ein riesiges Banner mit der Aufschrift »Die Prophezeiung des Orakels von Coepenick« zu lesen. Über der gesamten 100 Meter langen Gegengerade wurde dann eine Blockfahne hochgezogen, auf der stand: »Angekommen im Fußballolymp. Nach einer schier endlosen Odyssee schlägst du nun deine größte Schlacht, deinem Gegner wird dies fortan bedeuten, erst die Sünde, nun der Tod.« Auf der Waldseite wechselte das Motto auf »Spreeathen ist Weiß und Rot«, an einer Metallkonstruktion wurde eine Fahne hochgezogen, auf der Perseus in den Farben von Union Berlin mit einem Schwert gegen eine Medusa in den Farben von Hertha BSC kämpfte. Zugegeben, das alles musste ich nachschauen, auch, dass Perseus der Sohn von Zeus war und Medusas Kopf das geflügelte Pferd Pegasus entsprang. Aber vielleicht war es nicht nötig, jede Wendung zu verstehen, letztlich sollte Hertha sportlich einen Kopf kürzer gemacht werden.
Auf dem Weg dahin war auf den Rängen allerdings mehr los als auf dem Platz, wo Union schön eklig war, Hertha wenig dazu einfiel und es kaum Torchancen gab. Immer wieder wurde im Gästeblock vereinzelt Pyrotechnik gezündet. Dann begann ein schwer zu entschlüsselnder Austausch von Botschaften via Plakat, in denen es um Schlägereien ging, bei denen sich die Schläger angeblich nicht an die ungeschriebenen Regeln gehalten hatten. In der zweiten Halbzeit wurden aus dem Gästeblock Leuchtraketen in Richtung Spielfeld abgefeuert, ohne Hoffmann zu treffen, das Spiel wurde sogar für fünf Minuten unterbrochen, in denen beide Mannschaften das Spielfeld verlassen mussten. Mitte der zweiten Halbzeit wurde eine Wäscheleine mit zahlreichen geraubten Hertha-Fanutensilien vor der Union-Kurve präsentiert.
Das ganze Remmidemmi auf den Rängen tat dem Spiel nicht gut, aber letztlich sind Derbys sowieso nur im Ausnahmefall gute Fußballspiele. Sie sind »Wir gegen die« in maximaler Vergrößerung, und das Ergebnis zählt mehr als alles andere. Wir bekamen ein Ergebnis, als ein Herthaner in der 87. Minute Christian Gentner im Strafraum foulte. Der Schiedsrichter überprüfte die Szene am Video und blieb bei seiner Entscheidung, Elfmeter zu pfeifen. Das alles zog sich ewig, und während der ganzen Zeit wartete Sebastian Polter mit dem Ball in der Hand darauf, den Strafstoß zu schießen. In der Vorsaison war er Stammspieler gewesen, inzwischen wurde er nur eingewechselt und trug schwer daran. Aber jetzt konnte sein Moment kommen, indem er das Derby entschied und damit zum Derbyheld wurde, auch wenn er wieder mal nur eingewechselt worden war.
»Gefühlt hat das einen Tag gedauert«, erzählte mir Polter später über die 185 Sekunden, die zwischen dem Pfiff und der Ausführung des Strafstoßes gelegen hatten. Er hatte versucht, nicht an sich heranzulassen, was um ihn passierte: den Schiedsrichter, der noch einmal die Videobilder anschaute, die Mitspieler, die protestierenden Gegner, die schreienden Zuschauer. Er hatte sich komplett in sich zurückgezogen, um einen einzigen Gedanken festzuhalten: »Oben links.« Und er wollte diesen Beschluss so festhalten, wie er diesen Ball festhielt. Er wollte es sich nicht im letzten Moment noch einmal anders überlegen, wie Elfmeterschützen das oft machen, weshalb sich zwei Impulse verknoten und zu erbarmungswürdigen Schüssen führen, die sonst wo landen, nur nicht im Tor. Schließlich gab der Schiedsrichter den Ball mit einem kurzen Pfiff frei, Polter lief an und schoss. Er schoss wirklich nach oben links, wenn auch nicht sonderlich gut. Aber das war egal, denn es war gut genug. 1:0, der Siegtreffer, und Polti war der Derbyheld.
Union brachte die Führung über die Zeit, und alle drehten durch. Auf den Rängen entstand der Hit der Saison, und es wird wohl für immer ein Rätsel bleiben, wer ihn erdachte. Seine Schönheit bestand darin, dass er einen Gesang der Herthaner quasi kaperte und gegen sie wandte. Innerhalb weniger Momente sangen Tausende: »Stadtmeister, Stadtmeister, Berlins Nummer eins.« Und sie hörten gar nicht damit auf, wegen der Botschaft und wegen der gelungenen Kaperung und weil alle so glücklich waren.
Im Treppenhaus lief ich Zingler in die Arme, und das muss man wörtlich verstehen, weil er mir um den Hals fiel. Er hatte sein weißes Hemd komplett durchgeschwitzt und erzählte mir, dass er sich in der Loge mit einem Abgesandten von Hertha BSC fast geprügelt hatte, nachdem in die Union-Freudenfeier wieder Leuchtraketen aus dem Hertha-Block geflogen kamen. Einige Union-Ultras kletterten daraufhin vermummt über den Zaun in den Innenraum, wurden aber von der Mannschaft und vor allem Torhüter Rafał Gikiewicz wieder zurückgeschickt. Er schrie die verblüfften Fans an und scheuchte sie zurück in Richtung Ränge, was ihn in den Augen anderer Fans zum zweiten Helden des Tages machte. Dieses Spiel hatte wirklich alles, abgesehen vielleicht von Fußball.