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Teilnehmende Beobachtung
Die Sozialwissenschaft kennt den Begriff der teilnehmenden Beobachtung, und immer geht es dabei auch um das Problem, dass der Beobachter das Verhalten der Beobachteten verändert, einfach indem er da ist. Es ist schließlich nicht so, dass der Ethnologe ans Ende eines Seitenarms des Amazonas paddelt, um dort ein abgelegen lebendes Volk zu besuchen und sich einfach mit den Worten »Tut einfach so, als sei ich nicht da« Platz nimmt und anfängt, ihr Leben zu beobachten.
Nun lebten die Profis von Union Berlin nicht an einem Amazonas-Seitenarm und waren daran gewöhnt, beobachtet zu werden, wenn auch nicht aus so großer Nähe, wie mir das gestattet war. Spieler und Trainer machten sich bald nichts mehr daraus, dass da ein Typ herumlief, der von unbedarften Kiebitzen beim Training für einen Mannschaftsarzt gehalten wurde.
Die Arbeitswoche begann mit einem freien Montag, dem einzigen freien Tag der Woche. Dienstags gab es am Vormittag ein Training, das körperlich meist nicht so belastend war und vor allem aus Technikübungen bestand. Beginn war um 10 Uhr, aber die Spieler mussten 75 Minuten vorher da sein. Der Mittwoch war der Hauptbelastungstag mit einem Training am Vormittag und einem am Nachmittag. Es forderte die Spieler richtig und war auch schon mit ersten taktischen Formen durchsetzt. Am Donnerstagvormittag stand das Taktiktraining im Vordergrund, auch beim Abschlusstraining am Freitagvormittag wurde noch einmal das einstudiert, was taktisch vorgegeben war. Spielte die Mannschaft auswärts, brachen wir anschließend auf. Vor Heimspielen übernachtete das Team nicht im Hotel und traf sich am nächsten Morgen zum Frühstück wieder im Stadion. Am Sonntagmorgen nach dem Spiel stand das Spielersatztraining für jene Profis an, die nicht zum Einsatz gekommen waren, aber eine ähnliche Belastung brauchten, um physisch nicht den Anschluss zu verlieren. Die anderen liefen oder radelten aus, machten ein wenig Krafttraining oder ließen sich von den Physiotherapeuten behandeln. Waren Spiele bereits am Freitag oder erst am Sonntag, verschob sich das alles, musste gestaucht oder gestreckt werden, aber im Prinzip lebte die Mannschaft in diesem Rhythmus.
Langsam begann ich, mich ganz selbstverständlich bei diesem kleinen Völkchen aufzuhalten, studierte dessen Lebensgewohnheiten und stieß auf verblüffende Phänomene. In der Sofaecke des Essraums trafen sich immer die vier Skandinavier der Mannschaft: der Schwede Sebastian Andersson, die Dänen Markus Ingvartsen und Jakob Busk sowie der Norweger Julian Ryerson. Sie sprachen aber weder Deutsch noch Englisch miteinander, und als ich sie fragte, in welcher Sprache sie sich verständigen würden, grinsten sie. Ein wenig schienen sie selbst davon fasziniert zu sein, dass der eine Schwedisch, der nächste Norwegisch und zwei von ihnen Dänisch sprachen und dass das so reibungslos funktionierte. Ihre Gespräche klangen jedenfalls flüssig und nicht so, als müssten sie ständig Rücksprache halten, was der andere sagte.
Ein weit größeres Thema als ich erwartet hätte, war Ernährung. In der Woche vor dem Spiel gegen Borussia Dortmund war ein kleiner Kühlschrank mit einer Glastür angeliefert worden, in dem halb fertigte Smoothies standen. Sie wurden in einem Plastikbecher mit Deckel angeliefert, ihr Inhalt wurde mit Wasser aufgegossen und in einer Maschine gemixt, die in der Teeküche stand. Die Smoothies hatten lustige Namen, sie hießen »Orange Utan«, »Ginger Ninja« oder »Kale Moss«. Die Spieler konnten auf einer Bestellliste ankreuzen, was und wie viel sie jeweils haben wollten. Susi hatte gespottet, dass sich die Begeisterung legen würde, aber schon bald wurde der Kühlschrank durch eine Kühltruhe ersetzt, in der nun Pappkartons oder Plastiktüten voller Smoothiebecher lagen, jeweils mit den Rückennummern der Spieler versehen. Abgesehen von diesen Smoothies rührten sich viele Spieler mit Pulver isotonische Getränke an, teilweise auch angeblich extra auf sie zugeschnittene Mischungen, um wirkliche oder gefühlte Mängel an Mineralien, Elektrolyten oder Proteinen auszugleichen.
Die Ernährungsgewohnheiten waren Ausdruck des Wunsches der Spieler, sich und die eigene Leistungsfähigkeit zu optimieren. Als ich mich mit Christopher Lenz darüber unterhielt, saß er auf einem der Stühle im Arztzimmer, das rechte Bein hochgelegt und den Fuß in eine Apparatur gelegt, in der drei Rollen seine Achillessehne massierten. »Ich habe diese Woche mit Schraubstollen trainiert, da merke ich den Verschleiß«, erklärte er mir. Außerdem hing Lenz ein Gerät um den Hals, das wie ein Schal mit Griffen aussah. Man zog es in den Nacken und fixierte es mit den Händen, indem man sie in Schlaufen am Ende des Geräts steckte und leicht nach unten zog, während Walzen den Nacken massierten.
Während sich die Maschine sanft durch seine Verspannungen zu pflügen begann, blätterte Lenz auf seinem Smartphone durch die Seite eines Anbieters für Produkte, die »Gesundheit und Wohlbefinden« versprachen. Ihn beschäftigt gerade der Mangel an Vitamin D im Winter. »Ich nehme nicht so gerne Tabletten, obwohl wir letztes Jahr ganz gute hatten.« Diesmal sollte es aber ohne Tabletten gehen, deshalb schaute er sich Tageslichtlampen an, entschied sich für eine und bestellte sie.
Lenz war gerade wieder auf vegane Ernährung umgestiegen. Er hatte das schon mal nach einer traumatischen Verletzung an der Leiste gemacht, wegen der er ein halbes Jahr aussetzen musste. Mit einem lauten Knall war damals mit dem letzten Schuss am Ende eines Trainings der Adduktor abgerissen. Mit Schreck musste Lenz beobachten, wie der Ball nur noch wegkullerte. Danach hatte er wochenlang mit Korsett im Bett liegen müssen, damit er seine Bauchmuskulatur nicht anspannen konnte, sein Bein war mit einer Schiene ruhiggestellt. Die Chance, dass er wieder würde Fußball spielen können, hatte nur bei 70 Prozent gelegen. »Beim ersten Training mit Ball habe ich von 20 Pässen 20 Fehlpässe gespielt.« Danach war er weinend vom Platz gegangen.
Er hatte seine Ernährung umgestellt und auf alle tierischen Produkte verzichtet, weil er als Folge von möglichen Fehlbelastungen eine Schambeinentzündung befürchtete, eine langwierige und bei Fußballspielern besonders gefürchtete Verletzung. »Jetzt mache ich es wieder, werde dabei aber beraten, damit ich die Proteine bekomme, die ich brauche«, erklärte er mir. Veganer zu werden, war gerade unter Fußballprofis sehr angesagt. Einerseits ernährte sich inzwischen Lionel Messi vegan, der beste Spieler der Welt, und Formel-1-Weltmeister Lewis Hamilton. Vor allem aber hatten fast alle Spieler bei Union auf Netflix »The Game Changers« gesehen. Die Dokumentation erzählte vom Kampfsportler James Wilks, der nach einer Verletzung zu dem Schluss gekommen war, dass eine pflanzenbasierte Ernährung der richtige Weg für ihn sei. Er sprach darüber mit Ernährungswissenschaftlern, Anthropologen und Genetikern, vor allem aber mit anderen Sportlern. Man sah riesige American-Football-Profis beim veganen Barbecue, eine erfolgreiche Radfahrerin und einen Gewichtheber, die auf Veganismus setzen. Der Film vertrat die These, dass Fleisch ein unnötiger Umweg der Ernährung und man mit rein pflanzlicher Ernährung weniger verletzungsanfällig sei. Außerdem wurden bei drei veganen Studenten nachts ihre Erektionen gemessen, die angeblich länger und kräftiger als bei nicht veganen Männern waren. Der Film war umstritten, weil nicht alles wissenschaftlich zu belegen war, was dort behauptet wurde. Aber er hatte bei vielen Sportlern den Nerv getroffen.
Lenz kaufte selber ein, kochte für sich und brachte sich teilweise selber Essen mit. Als wir später ins Trainingslager fuhren, hatte er tiefgekühlte Mahlzeiten für eine ganze Woche dabei. Er war aber nicht der einzige Spieler, der sich pflanzlich ernährte. Torhüter Gikiewicz ließ sich vegane Mahlzeiten nach Hause liefern, die mit einem Ernährungsberater abgesprochen waren.
Nur die wenigsten Spieler aßen einfach, fast jeder hatte eine Idee oder eine Haltung zum Essen. Die von Suleiman Abdullahi folgte religiösen Regeln. Er aß im Prinzip schon Fleisch, tat es aber de facto nicht, weil das bei Union aufgetischte nicht halal war, also getötet nach den muslimischen Vorgaben für das richtige Schlachten. Er hielt sich während des Ramadans auch daran, zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang nichts zu essen. Ansonsten spielten weltanschauliche Fragen nur eine Nebenrolle. Akaki Gogia etwa war ein viel bestauntes Kohlehydrat-Monster, er schaufelte riesige Mengen Kartoffeln und Nudeln weg, ohne dadurch zuzunehmen. Wichtig war ihm auch, langsam zu essen. Christian Gentner zelebrierte sogar jede Mahlzeit, er aß mit äußerstem Bedacht und ausgesprochen langsam. Er verzichtete zwar nicht auf Fleisch, aß aber, wenn überhaupt, nur hochwertiges Biofleisch.
Wilks mochte mit seiner Dokumentation über vegane Leistungssportler nicht alle Union-Profis überzeugt haben, aber sie aßen bemerkenswert wenig Fleisch. Es gab nur eine Ausnahme: Wiener Schnitzel wurden in einer Menge und mit einer Begeisterung verputzt wie auf einem Kindergeburtstag.