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Die vier Gebote
Wann Daniel Blauschmidt seine Regeln formuliert hatte, wusste er nicht mehr genau. Aber es war wohl »in der schweren Zeit«, wie er die Jahre nach der Jahrtausendwende nannte, als Union auf die Pleite zusteuerte. Soziale Medien spielten damals noch keine Rolle, aber ein Fanforum im Internet gab es bei Union bereits, wo sich die Anhänger in der Disziplin »Pöbeln auf hohem Niveau« übten, wie Boone sagte.
So richtig kann man sich Blauschmidt, den jeder nur »Boone« nennt, nach dem Trapper aus der gleichnamigen kanadische Fernsehserie, die in den 1970er-Jahren mit großem Erfolg im DDR -Fernsehen lief, als Pöbler nicht vorstellen. Inzwischen war er 56 Jahre alt, hatte einen langen grauen Bart, der ihn als Darsteller von Karl Marx qualifiziert hätte, und lange graue Haare, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden sind. Er pflegte den unter Unionern beliebten Handwerker-Cargo-Style mit schweren Schuhen und Arbeiterhosen, aber im Gespräch wirkte er wie ein Intellektueller oder Künstler. Boone war Grafiker und sorgte seit vielen Jahren dafür, dass Union so aussah, wie der Klub aussah. Sein Arbeitsplatz befand sich in dem Container, wo auch Klubchronist Karpa arbeitete, sie saßen Tür an Tür.
Aber das Gesetz, von dem hier die Rede ist, hat mit seiner Profession nichts zu tun. Er hatte es als Fan aufgeschrieben, und seine Erfahrungen aus einem Vierteljahrhundert auf den Rängen waren in die Gesetzgebung mit eingeflossen. 1976 war Boone zum ersten Mal An der Alten Försterei, bei einem Spiel gegen Vorwärts Frankfurt. Wie es ausging, daran konnte er sich nicht mehr erinnern, aber an den Moment, der bei ihm alles in Gang setzte. Als Union ein Tor schoss, wurde er, eigentlich eher ein Einzelgänger, mitgerissen von der Energie des Stadions, von den »Hirschen in den langen Ledermänteln« um ihn herum. Er kam immer wieder, auch wenn er sich keiner Gruppe anschloss und meist für sich blieb. Zwischendurch wurde es mal etwas weniger mit seinem Interesse an Union, aber nach der Wende wieder mehr, als es dem Verein schlecht ging. »Da war es mir wichtig. Die Religion Fußball ist ja wie bei den Schiiten, man geißelt sich selber«, sagte er und macht eine Bewegung, als würde er sich mit Dornenzweigen auf den Rücken schlagen.
Eine Religion braucht Regeln, und Boone war es, der sie aufschrieb und ins Fanforum stellte. Es sind keine zehn Gebote, sondern vier, und sie lauten:
Mache nie einen Spieler zum Sündenbock
Pfeife nie die Mannschaft aus
Verlasse nicht vor dem Schlusspfiff das Stadion
Heiserkeit ist der Muskelkater des Unioners
Nun war es nicht so, dass Boone sich als Religionsgründer verstand. Er war eher der Prophet, der göttliches Wissen formulierte, das schon vorher da war. »Man setzt sich nicht hin und schreibt so was einfach auf, sondern verdichtet Empfindungen und Erfahrungen. Die Verhaltensweisen gab es vorher schon, und schon vorher hat man sich daran gehalten«, sagte er. Es war nur mal notwendig, sie festzuhalten.
Es sind keine sonderlich komplizierten Regeln, aber in Deutschland gibt es kaum Klubs, bei denen sie so oder ähnlich gelten. Boone fiel eigentlich nur der FC St. Pauli ein. Andernorts passierte es immer wieder, dass sich das Publikum in schlechten Phasen einzelne Spieler herauspickte und sie niedermachte. Fast schon selbstverständlich war es, die eigene Mannschaft an schlechten Tagen auszupfeifen. Auch die Bilder von halb leeren Stadien, wenn das Heimteam vor dem Abpfiff aussichtslos zurückliegt, sind allgegenwärtig. Während die ersten drei Gebote im Grunde Verbote waren, ist das vierte eine Aufforderung, verpackt in einen Slogan, den Boone sich ausgedacht hatte. Er ist schöner, als zu sagen »Wir feuern die Mannschaft ganz doll an«, denn an der Heiserkeit kann man den Fan messen .
Boones Gebote waren nicht am Stadion ausgehängt, man fand sie auch nicht auf der Homepage des Klubs oder auf T-Shirts gedruckt. Wahrscheinlich gab es Unioner, die noch nie davon gehört hatten und nicht wussten, wer dieser Boone eigentlich ist. Aber, und das zeigte ihre Kraft, die Gebote wurden eingehalten. Natürlich gab es auch bei Union immer mal Spieler, die vielen Fans An der Alten Försterei auf die Nerven gingen, weil sie mit deren Spielweise nichts anfangen konnten. An manchen Tagen spielte die Mannschaft schlimm, wie etwa beim ersten Spiel ihrer Bundesligageschichte gegen Leipzig, aber tatsächlich pfiffen die Zuschauer ihre Mannschaft nie aus oder gingen vorher, sie versuchten lieber, heiser zu werden. Selbst nach dem deprimierenden Spiel in Leverkusen war die Mannschaft von den Fans enthusiastisch gefeiert worden, obwohl sie stundenlang durchs Land gefahren waren, um sich so einen Mist anzuschauen.
Den Spielern war das durchaus bewusst, vor allem jenen, die es anderswo schon anders erlebt hatten. Christian Gentner etwa hatte ein schlimmes Jahr beim Abstieg des VfB Stuttgart hinter sich, in dem die Mannschaft oft ausgepfiffen wurde und, schlimmer noch, nach schlechten Spielen vor die eigene Fankurve zitiert wurde, um sich dort beleidigen zu lassen. Schon wenn man das im Fernsehen sah, hatte es etwas Entwürdigendes. Wie musste das erst für die Spieler selber sein? Gentner sagte nicht viel dazu, aber es war zu merken, wie wohl er sich angesichts eines grundpositiven Publikums fühlte. Und wenn ich die anderen Spieler fragte, was für sie an Union besonders war, sagten fast alle zuerst, dass sie auch an einem schlechten Tag nicht ausgepfiffen würden.
Wie wichtig das war, erzählte besonders eindringlich der nigerianische Stürmer Anthony Ujah, der vor Saisonbeginn nach Köpenick gekommen war. Er kannte den deutschen Fußball gut, er hatte schon in Mainz, Köln und Bremen gespielt. »Für einen Spieler ist es das Schlimmste, ausgepfiffen zu werden. Es ist peinlich für dich, weil deine Frau und Kinder, deine Familie und Freunde auf der Tribüne sitzen. Manche Spieler überleben das nicht, sie haben so viel Angst davor, noch einmal ausgebuht zu werden, dass sie sich krankmelden oder Verletzungen vortäuschen. Aber hier muss niemand Angst haben, wegen einer Niederlage ausgepfiffen zu werden, und dadurch können wir frei und ohne Druck spielen. Gleichzeitig will man den Zuschauern aber den Sieg schenken. Sie geben dir was, und man gibt ihnen was zurück.« Ujah beschrieb den Mechanismus so klar, dass ich dachte: Logisch, so müsste es doch eigentlich überall sein.
Aber warum war das gerade bei Union so? Boone erzählte von der »Olsen-Bande«, einer dänischen Fernsehserie der 1970er- und 1980er-Jahre, die in der DDR sehr erfolgreich war. Die Olsens waren kleine Gauner, die immer einen großen Coup planten, aber verlässlich an den unterschiedlichsten skurrilen Gründen scheiterten. Boone wollte damit nicht sagen, dass Union als Klub wie diese Olsens war, aber ein verbindendes Element gab es: »Die Niederlage gehört zu unserer Kultur.« Man muss nur einen Umgang damit finden. »Man kann sehr erfolgreich verlieren. Mit erhobenem Haupt vom Platz zu gehen, wird hier immer akzeptiert. Die Spieler haben im Rahmen ihrer Möglichkeiten alles gegeben, mehr kann ich selber auch nicht tun.«
Das alles habe »eine Menge mit der DDR zu tun«, sagte Boone. Die reale oder auch nur gefühlte Benachteiligung gegenüber dem Lokalrivalen BFC Dynamo, der damals die besten Spieler bekam und unter besseren Bedingungen arbeiten konnte, habe eine gewisse Wagenburgmentalität entstehen lassen, meinte Boone. Wenn man jedoch in der Wagenburg sei, könne man sich auch nicht von seinen Spielern oder seiner Mannschaft abwenden.
2005, inmitten der schweren Zeit also, begann Boone für Union zu arbeiten, wobei dem eine Selbstermächtigung voranging. Sein erstes Spielankündigungsplakat hatte er schon vier Jahre vorher entworfen, als es bei Union so was nicht gab. Er hatte für das erste Heimspiel in der Zweiten Bundesliga, in die Union gerade aufgestiegen war, die Partie gegen Hannover 96, mit dem Slogan »Urschrei Therapie« angekündigt. Gemeinsam mit anderen Fans druckte Boone die Plakate auf billiges Papier und hing sie im Einzugsgebiet des Klubs auf. Weil die Reaktionen so positiv waren, machten sie weiter, mit teilweise wilden Slogans. Mainz 05 wurden als »Jürgen Klopp and his Heulers« verballhornt, weil ihnen Union mal am letzten Spieltag den Aufstieg in die Bundesliga vermasselt hatte, weshalb Klopp dem Klub bis ans Ende seiner Tage in tiefer Ablehnung verbunden sein wird.
Bis 2005 also hatte Boone die Plakate ehrenamtlich gestaltet, danach hatte er eine eigene Grafikagentur gegründet und ließ sich für seine Arbeit bezahlen, wenn auch in Naturalien – mit einer Werbebande im Stadion. Er wollte aber nicht nur weiter Spieltagsplakate gestalten, sondern ein grundlegendes Problem beheben. »Als wir angefangen haben, sah Union nicht aus. Es gab kein Bild.« Der Klub war nach seinem Ausflug in die Zweite inzwischen in die Vierte Liga abgestiegen, und Boone wollte einen positiven Slogan gegen die sportliche Tristesse setzen. Er hieß: »Verrückt nach Union«. Es gab später noch andere Slogans, wie »Nicht ohne Liebe, eisern Union«, aber eigentlich hat der Klub heute keinen mehr. Oder eben jenen, den man schon gar nicht mehr als solchen wahrnimmt: »Und niemals vergessen! Eisern Union!« Abgekürzt als U.N.V.E.U. sieht man ihn auf Tausenden Schals, T-Shirts, Kappen oder Nummernschildeinfassungen von Autos.
Im Laufe der Jahre erarbeitete Boone ein visuelles Konzept, bei dem er alle Assoziationen von Industrie und Arbeit durchspielte, was nahelag bei einem Klub, der sich »Die Eisernen« nannte und aus einem Stadtteil mit langer Industriegeschichte stammte. »Wir haben alles ausprobiert, die Riss-Optik, die Metall-Optik, die Malocher-Optik«, erzählte er mir. Inzwischen war das alles weitgehend zurückgefahren, nur die beiden Mannschaftsbusse standen noch dafür. »Sie sind unabhängige Kunstwerke.« Erst sollten sie wie Gefährte aus einem Mad-Max-Film wirken, was aber von der Vereinsführung als zu abgedreht abgelehnt wurde, daraufhin machte Boone einen Entwurf unter dem Arbeitstitel »Die Mannschaftsmaschine«. Der Bus wurde mit einer Folie beklebt, auf der er Motoransichten von Schiffen, Motorrädern und sogar einem Panzer collagierte. »Eine Maschine treibt nach vorne, und sie zeigt, wer wir sind«, sagte Boone .
Bei Union geht es ständig um die Frage, was dieser Klub ist, wofür er steht und welche Rolle er für die Unioner spielt. Es ist kein Zufall, dass ein Fan wie Boone damit professionell beschäftigt war, die richtigen Bilder und Begriffe dafür zu finden. Bei anderen Vereinen übernahmen das Agenturen, mitunter geschickt, aber nicht selten missraten.
Boone hatte eine visuelle Identität des Klubs geschaffen, mit festgelegten Schriften und Vorgaben darüber, zu welcher Gelegenheit die Vereinsfarben wie eingesetzt wurden. Er hatte eigene Piktogramme entworfen, die im Stadion den Weg zur Toilette oder zum Bierstand wiesen. Boone betrieb letztlich Marketing, das gab er zu. »Wir verkaufen eine Legende«, sagte er, »aber wir verkaufen nicht alles. Und wir betrachten uns nie als fertig, sondern als Projekt. Es stellt sich immer die Frage, wie wir uns weiterentwickeln können und dabei gleichzeitig unsere Seele bewahren.« Interessant war, dass Boone mit dafür gesorgt hatte, dass Unions Fanshop nicht so hieß, sondern »Zeughaus«, wie einst die Waffenlager der Stadt. »Das ist ein Laden, aber nicht der Verein, und der Verein muss geschützt werden«, erklärte er mir. Im Zeughaus konnte es einen Sale geben, aber bei Union keinen Ausverkauf.