Für die Spieler der Verein
Wir fuhren morgens um elf Uhr vom Hotel in Mainz zum Stadion. Das Wetter war wunderbar und die Stimmung gut. Wir hatten den Mannschaftsbus ganz für uns: Teammanagerin Susi Kopplin, Masseur Thomas Riedel, Analyst Steven Pälchen und ich. Frank-Peter Raasch fuhr im Materialwagen hinterher. Wir würden Susi helfen, das Material in die Kabine zu bringen, und ihr beim Einrichten der Kabine zur Hand gehen. Riedel würde den Behandlungsraum fertig machen und Pälchen den Bildschirm und die Technik installieren, damit Urs Fischer den Spielern in der Halbzeitpause ein paar Spielszenen zeigen konnte.
Unterwegs erzählte Susi, dass sie an Spieltagen fast immer Angst davor hatte, etwas zu vergessen. Nachdem sie am Vorabend Christian Arbeit durchgegeben hatte, wer im Kader stand, »sind mir die ganze Zeit die Rückennummern im Kopf herumgegangen, weeßte«. Bis in den Schlaf hatte sie die Sorge verfolgt, dass was schiefging: »Ich habe heute Nacht geträumt, dass ›Aroundtown‹ vorne nicht drauf ist, weeßte.« Dass sie also im Stadion feststellen würde, dass der Name des Sponsors von den Trikots verschwunden war.
Die Fahrt dauerte nicht lange, an der Zufahrt wurden wir freundlich begrüßt, einer der Ordner setzte sich in sein Auto und lenkte uns zur richtigen Stelle, um auszuladen. Wir fuhren dazu eine Rampe hinter der Tribüne der Heimfans hinunter und parkten nur 15 Meter von der Eckfahne entfernt. Warum man ein Stadion toll findet oder eher blöd, kann unterschiedliche Gründe haben. Aber für Susi waren weder schöne Architektur, eine besondere Lage des Stadions noch eine stimmungsvolle Atmosphäre entscheidend. »Cottbus ist am schlimmsten, weeßte«, sagte sie. Noch öfter als Urs Fischer »schlussendlich« sagte, hängte Susi ihren Sätze ein »weeßte« an. Das war lustig, wenn sie mit ausländischen
Profis sprach. Sie mussten den Eindruck bekommen, dass »weeßte« das wichtigste deutsche Wort war. Susi benutzte auch DDR
-Wörter, die schon in Westberlin nicht mehr jeder verstand, wie »schau« oder »urst«, wenn etwas cool oder richtig gut war.
Wichtig an einem Stadion war für sie und die anderen Mitglieder der Vorhut, wie gut man das Gebirge aus Kisten, Taschen und Kram, das wir auch an diesem Tag mitgebracht hatten, vom Mannschaftsbus und Materialwagen in die Kabine schaffen konnte. »In Cottbus sind die Wege viel zu weit, und man muss Treppen hoch«, sagte sie über das Stadion, in dem inzwischen nur noch Viertligafußball gespielt wurde. Mainz war gut, weil ebenerdig, aber wir mussten alles auf den Rollwagen fast 100 Meter durch die Katakomben schieben. Besser waren Freiburg, München oder Leverkusen, eher kompliziert Schalke oder Frankfurt.
Als wir fertig waren, versuchte ich, unsere Ladung zu protokollieren. Es gab je eine große Metallbox mit Winterjacken für die Spieler und mit den Decken mit Vereinslogo, die auf den Bänken liegen würden. Wir hatten inzwischen Anfang November, und es begann langsam kalt zu werden. Eine große Metallbox war voller Fußballschuhe, und in drei großen Rollkoffern befanden sich Sportschuhe. Die Fußballschuhe, die die Spieler beim Abschlusstraining am Vortag in Berlin getragen hatten, waren noch feucht, wir stellten sie zum Trocknen auf den Gang. Einige Spieler mochten es, wenn ihre Schuhe vor dem Anziehen angewärmt wurden, dafür gab es einen roten Schuhofen, in den zwei Paar Schuhe passten. »Leder 5 Minuten, Kunstleder 3 Minuten«.
Außerdem hatten wir zwei flache schwarze Kunststoffboxen mit Mützen, Schals, Handschuhen, aber auch Duschgel und Föhns in die Kabine gebracht. In den grauen Kunststoffboxen steckten Auflaufjacken, die aber niemand zum Auflaufen trug, lange und kurze Unterzieher, die unter den Trikots getragen wurden, Radler, um sie unter die Hosen zu ziehen, T-Shirts. Eine große Metallkiste war voller weißer Frotteehandtücher. Jeder Spieler bekam eins, die Torhüter zwei. Für die Torhüter gab es eine eigene Kiste. »Dit packe
ich mit denen zusammen«, erklärte mir Susi, »ist ein ganz sensibles Thema, weil die so eigen sind, weeßte.«
Auch die Feldspieler wollten in der Kabine keine Überraschung erleben, weshalb Susi alles so platzierte wie immer. »Wenn ich den Unterzieher anderswo hinlege, finden die den nicht. Die sind so in ihrer eigenen Welt, denke ich manchmal.« Außerdem gab es drei übergroße Taschen mit blauen Matten, auf denen die Spieler ihre Prevention machten. Wir füllten eine blaue Rollbox mit Eis. In der Trainerkabine deponierten wir eine Blechkiste mit Winterjacken und eine schwarze Plastikkiste mit Sportsachen.
Thomas Riedel, genannt »Ilti«, hatte in den Behandlungsraum zwei weitere große Metallkisten gebracht. »Die eine will man nicht benutzen«, sagte er und zeigte mir, warum. Sie war voller Material für schwere traumatische Verletzungen, von einer Kopfschiene bis zu Krücken. In der anderen Kiste steckte ein Defibrilator, mit dem man Stromstöße zur Verhinderung des plötzlichen Herztods geben konnte, ein mobiles Ultraschallgerät sowie ein Messgerät, um die Sauerstoffsättigung im Blut festzustellen. Den Arztkoffer und die Medikamente würden später Mannschaftsarzt und Physiotherapeut mitbringen. Außerdem gab es noch eine Kiste mit einer Lymphkompressionshose zur Regeneration, die selten eingesetzt wurde, sie sah aus wie der untere Teil eines Taucheranzugs. Häufiger benutzt wurde die Kältekompression. Man konnte verletzte Knöchel oder andere Stellen des Körpers mit einer Kompressionsmanschette umschließen, durch die eiskaltes Wasser lief, was gegen Schwellungen half. Das Gerät sah aus wie eine Fototasche.
Als alles eingerichtet war, bekamen wir Kaffee gebracht und einen Korb leckerer Laugenbrezeln. Kurz danach holte uns ein freundlicher Herr ab und brachte uns in den VIP
-Raum, wo wir zu Mittag essen durften, bevor das Publikum eingelassen wurde. Nicht überall waren sie so nett wie in Mainz, aber fast allerorten gab es ein solidarisches Grundverständnis der Leute, die im Hintergrund dafür sorgten, dass der Betrieb lief. Selbstverständlich duzte man sich, half und unterstützte sich, wo es ging. Susi
hatte befürchtet, dass sie beim großen FC
Bayern in der gewaltigen Arena vielleicht hochnäsig behandelt würde, aber auch dort war das Gegenteil der Fall. »Die waren total lieb da, weeßte.«
Dabei hatte ich vermutet, dass man es den Gastmannschaften im Rahmen psychologischer Kriegsführung so schwer wie möglich machen würde, mit überhitzten oder eiskalten Kabinen, die unerträglich vor sich hin stanken. Die meisten Kabinen in der Bundesliga waren großzügig, sauber und gepflegt. Und in aller Regel bemühten sich die gastgebenden Vereine sehr darum, ein guter Gastgeber zu sein.
Als ich mich vor dem Pokalspiel mit Freiburgs Trainer Christian Streich auf einen Kaffee getroffen hatte, hatten wir auch über die Rolle der Betreuer um eine Profimannschaft gesprochen. Sie mussten ihren Job gut beherrschen, aber nicht nur das. »Diese Leute sind ganz wichtig, sie sind der Verein«, hatte er gesagt, und ich hatte sofort verstanden, was er damit meinte. Bei Profivereinen ist letztlich vieles austauschbar. Die meisten Spieler, Trainer oder Manager würden den Verein irgendwann wieder verlassen, aber für Susi oder Ilti, Busfahrer Svenni oder Frank Placzek, der abwechselnd mit Ilti zu den Auswärtsspielen mitreiste, war Union kein normaler Arbeitgeber. Die meisten aus dem Staff waren schon ewig bei Union. Placzek, genannt »Placzi«, war 1987 als Verteidiger gekommen und hatte zehn Jahre für Union gespielt, als Physio war er in seiner 19. Spielzeit. Ilti war schon in seiner 20. Saison als Masseur dabei, und Svenni fuhr den Mannschaftsbus genauso lange. Bizarrerweise schaute er sich nie das Spiel an. Bei Auswärtsspielen hätte man das noch verstehen können, weil er vielleicht den Bus nicht aus dem Auge lassen wollte. Aber bei Heimspielen war das nicht anders. Und Susi hatte 1998 bei Union begonnen, anfangs noch nebenberuflich in der Jugend.
»Placzi und Susi haben mir die Augen geöffnet, dass hier in Ostberlin nicht alles schlecht war und wie sozial sie waren«, hatte mir Neven Subotic erzählt. Die Alteingesessenen gaben also weiter, aus was für einem Land der Klub kam und was es mit ihm auf sich hatte. »Wenn du das verlierst, verliert es an Menschlichkeit.
Würdest du das Personal um die Spieler so oft wechseln wie die Spieler, hast du amazon«, fand Subotic.
Während Ilti isotonische Getränke in einem orangefarbenen Plastikfass anrührte, sagte er: »Ich komme inzwischen mit den Jahren durcheinander. Ich denke dann, dass der Spieler noch mit jenem gespielt hat, aber dann war das in einer ganz anderen Saison.« Anfang der Saison hatte er Respekt vor der Bundesliga gehabt, über den FC
Bayern und Borussia Dortmund sprach er wie über Fußball aus einer anderen Welt. Auch angesichts der neuen, teilweise namhaften Spieler war er skeptisch gewesen. »Ich war gespannt, wie sie sich gegenüber den Physios verhalten. Aber ich sehe keinen Unterschied.«
Ilti war inzwischen Mitte vierzig, aber ihn verband mit vielen Profis die Begeisterung für Computerspiele. Wenn sie bei ihm auf der Behandlungsliege waren, führte er gerne Gamer-Fachgespräche. Wichtig war aber noch etwas anderes: Die Betreuer stellten keine Anforderungen an die Profis. Zwar forderten sie von ihnen, pünktlich zur Behandlung zu kommen oder rechtzeitig am Mannschaftsbus zu sein. Susi schickte ihnen alle möglichen Termine, die sie einhalten sollten, oder sonstige Vorgaben, aber sie machte diese Vorgaben nicht. Die Spieler waren umgeben von Menschen, die ständig etwas von ihnen forderten, aber die hier taten was für sie. Zumal Susi einige Spieler betüddelte wie ein eigenes Kind, weshalb Gikiewicz laut »Mamita« durch die Kabine rief, wenn er einen Sonderwunsch hatte.
Anderthalb Stunden vor Anpfiff kamen die Spieler in der Kabine an, Svenni hatte sie am Hotel abgeholt. Nun war auch Max Perschk dabei, mit nur 30 Jahren der leitende Physiotherapeut. Auch er kam aus Ostberlin, war seit seiner Kindheit als Fan zu Union gegangen und hatte vor und nach seinen Abiturprüfungen am Ausbau der Alten Försterei mitgebaut. Sein Name stand auf dem Denkmal der Stadionbauer im Stadion, wie auch der von Steven Pälchen. »Ich kann das machen, was mir Spaß macht. Und das bei dem Verein, zu dem ich als kleiner Junge zu Autogrammstunden gegangen bin. Ich habe mir nicht träumen lassen, dass ich mal
mit Frank Placzek und Thomas Riedel zusammenarbeiten würde, zu denen ich als Kind mit dem Saisonheft gelaufen bin, um sie zu fragen, ob sie mal unterschreiben können.«
Aber nun war keine Zeit für Sentimentalitäten, nun lief die Maschinerie ab, und es war gut, dass alles an seinem Platz lag, wie es immer an seinem Platz lag, vom Unterzieher bis zum Handtuch. Auch im Spiel lief es lange Zeit fast schon erschütternd glatt, zwischendurch führte Union mit 3:0. Aber Mainz 05 schoss zwei Anschlusstreffer, und zum Ende wurde es noch einmal knapp. Aber letztlich brachte die Mannschaft das 3:2 über die Zeit. Die mitgereisten Fans hatten sich für das Spiel in der Karnevalshochburg Mainz einen Sprechchor ausgedacht, der freudig gesungen wurde: »Union braucht keinen Karneval, Unioner feiern überall.« Während noch gesungen und gefeiert wurde, packten Susi, Ilti, Steven, Max und Svenni die Sachen bereits zusammen. Wie immer kamen sie in Ruhe und gingen in Eile.