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Die Menschen-Maschine
Die drei Tore in Mainz waren nach Flanken von Trimmel gefallen, das erste aus dem Spiel heraus, die beiden anderen nach Eckbällen, einmal von rechts, einmal von links. Bis zum Ende der Saison sollte der Mannschaftskapitän auf elf Assists kommen, fast alle nach Standardsituationen. Trimmel schoss alle Ecken und auch fast alle Freistöße aus Positionen, von denen aus man in den Strafraum flanken konnte. Nicht wenige Fans nervte das, weil er dazu als Rechtsverteidiger manchmal auf die linke Seite hinübergehen musste und Linksverteidiger Christopher Lenz mit ihm die Position tauschte. Blieb der Ball nach einer Standardsituation im Spiel, konnte es dauern, bis beide wieder ihre Position einnehmen konnten.
Das lohnte sich aber, weil Trimmel die Ecken und Freistöße mit ungeheurer Genauigkeit schoss, obwohl er das kaum übte. Eigentlich wurde gerade mal eine Viertelstunde gezielter Übungszeit pro Woche darauf verwandt, jeweils am Ende des Abschlusstrainings. Dazu blieb eine kleine Gruppe von Spielern mit Sebastian Bönig auf dem Platz. Er holte seine Zettel hervor, auf denen er ihnen zeigte, wie sie sich verhalten sollten, und dann übten sie, in der Regel ohne Gegenspieler. Bönig zeigte im Strafraum auf einen imaginären Punkt in der Luft und rief Trimmel zu: »Spiel ihn mal hierhin.« Und Trimmel schlug den Ball dorthin.
»Was wir machen, ist im Prinzip total simpel«, sagte Bönig. Er analysierte anhand von Videos, wie sich die Gegner bei Standards verhielten, aber letztlich veränderte sich von Spiel zu Spiel wenig. Eine Variante war, die zweite oder dritte Ecke flach in den Rückraum zu schlagen – so hatte Bülter gegen Dortmund getroffen. Mal ließ Bönig den Ball näher ans Tor, dann wieder weiter weg spielen. Aber aus seiner Sicht waren andere Faktoren wichtiger als raffinierte Veränderungen: »Die Jungs fühlen sich total wohl, wenn Trimmi am Ball ist, denn bei ihm kommen die Flanken immer gleich.« Sie wussten, dass die Bälle nicht zu kurz, zu hoch, zu flach, also anderswo herunterkamen als verabredet. Unions Spieler waren zudem groß, sogar die größten von allen europäischen Erstligisten mit durchschnittlich 187,3 cm Körpergröße. »Große Spieler allein reichen aber nicht. Du brauchst Jungs, die Timing haben und bereit sind, mit dem Kopf durch die Wand zu gehen«, sagte Bönig.
Spätestens mit dem Spiel gegen Mainz begann sich in der Bundesliga herumzusprechen, wie gefährlich Union nach ruhenden Bällen war. Fast jeder Trainer redete nun in der Pressekonferenz vor der Begegnung gegen Union darüber und warnte davor. Trotzdem würde die Mannschaft am Ende der Saison auf 15 Standardtore kommen, der drittbeste Wert der Liga. Das war noch bemerkenswerter dadurch, dass Union viel weniger Ecken und Freistöße in gefährlichen Bereichen bekam, weil die Mannschaft seltener am Ball und in der gegnerischen Hälfte war als viele andere Teams.
Nach einem Drittel der Saison zeichnete sich aber auch sonst ab, wie Union in der Bundesliga bestehen könnte: Der Mannschaft gelang es immer besser, die Gegner auf ihr Niveau herunterzuziehen und das Spiel in etwas zu verwandeln, das ihr entgegenkam. Union versuchte nicht, besser Fußball zu spielen als der Gegner, sondern zu verhindern, dass der Gegner so gut wie unter normalen Bedingungen spielte. Das folgte der Logik einer asymmetrischen Kriegsführung: Sie waren Guerilleros, die einem überlegenen Gegner den offenen Kampf verweigerten und ihn in Kleingefechten zermürbten.
Allerdings war auch immer wieder zu lesen, dass Union einen ziemlich primitiven Fußball spielen ließ, mit viel Laufbereitschaft und Kampfkraft zwar, doch ohne spielerische Idee, abgesehen von den guten Standardsituationen und langen Bällen auf Mittelstürmer Andersson, der am Ende der Saison fast doppelt so viele Luftzweikämpfe bestritten haben sollte wie der nächstbeste Bundesligaspieler in dieser Kategorie. Unglaubliche 511 Mal ging er zum Kopfball hoch – 260-mal als Sieger .
Fischer hätte gerne anders spielen lassen, hatte auch Anläufe in diese Richtung unternommen, hatte aber letztlich pragmatisch entschieden. Seine Aufgabe war es nicht, ästhetisch beeindruckenden Fußball spielen zu lassen, sondern mit seiner Mannschaft genug Punkte zu sammeln, um in der Liga zu bleiben. Das ließ ihn nicht unbedingt gut aussehen, diente aber der Sache.
Zudem wurde oft übersehen, wie kunstvoll organisiert Unions Zerstörungswerk war. Es folgte der Grundidee, den Gegner in fast jedem Moment des Spiels überall auf dem Platz in Zweikämpfe zu verwickeln. Das klingt banal, bedurfte aber eines ungeheuren Aufwandes. Relativ schnell war klar, dass die Spieler die Bereitschaft mitbrachten, mehr zu laufen als fast jede andere Mannschaft in der Bundesliga. Am Ende der Saison würden sie in 28 von 34 Saisonspielen auf eine größere Laufleistung als der Gegner kommen. Aber dieses Laufen wollte organisiert sein, um nicht zu einer sinnlosen Verausgabung zu werden. Jeder Spieler musste in jedem Moment des Spiels wissen, wie er sich zu verhalten hatte. »Wir haben immer einen Plan, und das hilft uns unheimlich«, sagte etwa Marius Bülter, der in seiner ersten Bundesligasaison auch deshalb nur wenig Eingewöhnungsschwierigkeiten hatte.
Basis des Plans waren die Spielprinzipien, die in der Kabine ausgehängt waren und an die in fast jedem Training erinnert wurde. Den ersten Pass zulassen etwa bedeutete, dass die gegnerische Mannschaft nicht sofort nach einem Abstoß attackiert werden sollte, sondern erst nachdem sie den ersten Pass gespielt hatte. Dann galt im Pass anlaufen , damit die gegnerischen Spieler keine Zeit hatten, den Ball anzunehmen und weiterzuspielen. Das war eine der ganz wichtigen Voraussetzungen dafür, auch gute Mannschaften unter Druck zu setzen und eklig zu sein. Hätte man deren Spieler nämlich erst attackiert, wenn sie den Ball schon angenommen hatten, hätten sie locker weiterspielen können, und das Gerenne der Unioner wäre für sie selbst zu einem zermürbenden Hase-Igel-Spiel geworden.
Um die Gegner so immer wieder anlaufen zu können, bedurfte es einer systematischen Organisation auf dem Platz, deshalb hieß es etwa: Teilt euch nicht! Der Abstand zwischen den Abwehr-, Mittelfeldspielern und Stürmern durfte nicht zu groß werden. Wenn vorne die Stürmer den Gegner im Pass anliefen, mussten die Spieler hinter ihnen nachrücken, um dem Gegner keinen Raum zu geben, in den er spielen konnte. Daraus ergab sich die Vorgabe: Die letzte Linie bestimmen wir. Die letzte Linie waren die Abwehrspieler, die angehalten waren, möglichst weit herauszurücken, um keine »gefälschte Sicherheit« zu produzieren, wie Subotic das genannt hatte. Das wiederum machte es zwingend nötig, gezielte Pässe des Gegners hinter diese letzte Linie zu verhindern. Also: Nicht aufdrehen lassen! Die Spieler von Union sollten verhindern, dass ein Gegner sich so drehen konnte, dass er das Spiel dann vor sich hatte und womöglich einen gefährlichen Ball hinter die Abwehr oder zwischen den Verteidigern hindurchspielen konnte.
Das alles wurde für jedes Spiel speziell angepasst und neu justiert. Meist simulierte Fischer dazu in ein oder zwei Trainingseinheiten den Gegner. »Schmiede ist Thiago«, hatte er etwa in der Trainingswoche vor dem Spiel gegen die Bayern gesagt. Man hätte spotten können, dass Manuel Schmiedebach mit dem spanischen Ballkünstler der Bayern bestenfalls Körpergröße und Augenfarbe gemeinsam hatte. Die Simulation war trotzdem aufschlussreich, weil dadurch klar wurde, in welchen Räumen der Gegner auftauchte und was man tun musste, um ihn dort in Zweikämpfe zu verwickeln.
So entstand jede Woche eine neue Fußballgeometrie mit wechselnden Grundaufstellungen und veränderten Aufgaben. Das vermeintlich Einfache wurde dadurch zusätzlich komplex, dass die Spieler lernen mussten, im vorgegebenen Rahmen die richtigen Entscheidungen zu treffen. Wann stieß ein Mittelfeldspieler nach vorne, um einem Stürmer bei der Balljagd zu helfen, und wann ließ er es besser sein? Wann ließ sich ein Verteidiger nach hinten fallen, weil es besser war, näher am eigenen Tor zu verteidigen, und wann hielt er die letzte Linie weit vorne.
Es war ein Hybrid aus Maschine und Organismus, dem ich Woche für Woche bei der Entstehung zuschaute, eine Menschen- Maschine. Es gab einerseits eine maschinenhafte Grundstruktur, aber sie wurde zu einem Organismus, weil ständig Menschen aufeinander reagieren mussten. Jede Aktion eines Spielers auf dem Platz hatte für alle Mitspieler eine Auswirkung. Verlagerte sich das Spiel nach links vorne, musste etwa Christopher Trimmel hinten rechts weiter in die Mitte des Spielfelds einrücken. In manchen Spielen wurden Offensivspieler zum Schwimmer , wenn der Gegner am Ball war. Das war dann der Fall, wenn der Gegner sein Spiel von hinten aus einer Viererkette aufbaute und Fischer drei Offensivspieler dagegenstellte. Das war einer zu wenig, und je nachdem, über welche Seite das Spiel ausgelöst wurde, wurde der Offensivspieler zum Schwimmer , auf dessen Seite der Ball nicht war. Er musste dann entscheiden, wen der beiden gegnerischen Verteidiger er zustellte oder attackierte.
Ständig waren also Entscheidungen zu treffen, auf Basis der Spielprinzipien und aus der jeweiligen Situation heraus. Das galt auch im eigenen Ballbesitz. Torhüter Gikiewicz sollte, wie erwähnt, das Spiel entweder durch die Mitte über einen der Innenverteidiger oder einen der defensiven Mittelfeldspieler aufbauen. Die Alternative war ein langer Ball auf den Zielspieler, der fast immer Andersson hieß. Der zweite Ball gehört uns , hieß es. Dazu mussten genug Spieler richtig nachrücken, um ihn vor dem Gegner zu kontrollieren.
Für das in drei gleich große Zonen eingeteilte Spielfeld galten unterschiedliche Vorgaben. Im hinteren Drittel musste einfach und sicher gespielt werden, um den Ball nicht nahe des eigenen Tors zu verlieren. Im zweiten Drittel sollte das situativ entschieden werden, aber auch hier war es wichtig, den Ball nicht zu verlieren, sodass der Gegner plötzlich ungehindert den Weg zum Tor fand. Deshalb hörte ich auf dem Trainingsplatz immer wieder: Aus dem Druck spielen. Wer unter Druck geriet, musste einen Mitspieler finden, bei dem das nicht so war. Es gab bestimmt Teams, bei denen solche Vorgaben nicht wichtig waren, weil jeder Spieler ballsicher war. Der reale Thiago würde kaum klagen, wenn er unter Druck angespielt wurde. Aber solche Spieler gab es bei Union nicht .
In der dritten Zone, also dem Spieldrittel vor dem gegnerischen Tor, ging es darum, ins Risiko zu gehen, um ein Tor schießen zu können. Da wollte Fischer, dass seine Spieler das Dribbling wagten. Von Marius Bülter etwa forderte er, gleich mit dem ersten Ballkontakt in die Offensive zu gehen, um so einen Gegenspieler düpieren zu können. Die Stürmer sollten derweil den Raum attackieren , also nach vorne gehen, um für eine Flanke oder einen Pass in die Tiefe anspielbar zu sein.
Das alles wurde unaufhörlich wiederholt, selbst mir als Zuseher wurde es so eingehämmert, dass ich mich ganz selbstverständlich auch bei Fußballspielen ohne Beteiligung von Union fragte, warum ein Spieler nicht aus dem Druck gespielt oder den Gegner nicht schon im Pass angelaufen hatte. Mich faszinierte es auch, Christian Gentner dabei zuzusehen, wie er auf der Zielgeraden seiner Karriere sein Spiel noch einmal neu erfand. Er hatte fast immer in Mannschaften gespielt, die viel am Ball waren und den Gegner dominieren wollten. Doch von Woche zu Woche wurde er in Unions Guerillatruppe wichtiger, weil er immer besser verstand, was er im Zentrum des Spielfelds tun musste, um den Gegner in den Hinterhalt des nächsten ekligen Zweikampfs zu locken. Dadurch wurde er zum Anti-Spielmacher der Mannschaft.
Die offizielle Berufsbezeichnung von Trainern in der Bundesliga ist Fußballlehrer. Fischer und sein Team lehrten Fußball wirklich. Manchmal reichte bereits ein lang gezogenes »Bültiii!« oder »Joooshhh!«, und der Spieler wusste schon, was er eigentlich hätte tun müssen. Immer wieder rief er die Grundprinzipien über den Trainingsplatz, unaufhörlich vom ersten bis zum letzten Training der Saison. Eine seiner großen Stärken war, dass er sofort sah, wo sein Maschinen-Organismus funktionierte, wo nicht und warum das so war. Er konnte also jedem Spieler immer sagen, was er richtig gemacht hatte oder besser hätte tun können.
Als Trainer in Basel war er zu drei Vierteln damit beschäftigt gewesen, Lösungen in der Offensive zu finden, zu einem Viertel in der Defensive. Bei Union war es nun umgekehrt. Doch Fischer klagte nicht darüber, denn seine Maschine kam ins Rollen.