Es war einer dieser Novembertage, die tief in einen hineinziehen, kalt, feucht und mit fahlem grauen Restlicht, aber er bekam ein besonderes Leuchten. Das lag nicht nur am Sieg über Borussia Mönchengladbach, eine der Spitzenmannschaften der Liga, die sich am Ende der Saison sogar für die Champions League qualifizieren sollte. Doch so gut Union an diesem Nachmittag An der Alten Försterei auch gespielt hatte, es war nicht das 2:0, was besonders in Erinnerung bleiben sollte.
Als die Mannschaft auf der Ehrenrunde an der Waldseite ankam, trugen alle Spieler schon rote T-Shirts, auf dem ein Megafon zu sehen war und die Aufschrift: »Danke Vossi«. Alle im Stadion wussten, dass die Feierlichkeiten nun auf ihren Höhepunkt zulaufen würden, und sangen: »Ohne Vossi wär hier gar nix los.« Sie meinten damit Fabian Voss, einen 33 Jahre alten Koch, der einer der beiden Capos im Stadion war, obwohl er sich selbst »Einheizer« nannte, was zweifellos der sehr viel schönere Begriff war und die Sache auch besser traf. Er stand bei den Spielen auf einem kleinen Podest, gab Sprechchöre und Gesänge vor und heizte so das Publikum an. Er tat das gemeinsam mit dem anderen Einheizer, Ali, der 30 Meter weiter stand und mit dem ihm ein telepathisches Gespür dafür verband, was in welchem Moment passen sollte.
Doch nun war ihr letzter gemeinsamer Tag gekommen, denn Voss hatte beschlossen, das Podest zu verlassen und einem Jüngeren Platz zu machen. Es hatte schon den ganzen Nachmittag über »große Gesten von A bis Z« gegeben, wie Voss sagte, als ich mich mit ihm traf. Vor dem Anpfiff, während der 90 Minuten und in der Halbzeitpause waren immer Spruchbänder hochgehalten worden, in denen sich unterschiedliche Fanklubs und Gruppen bei ihm dafür bedankten, dass er 13 Jahre dazu beigetragen hatte, dass die Stimmung im Stadion so war, wie sie war. Zingler war
bereits vor dem Spiel gekommen und hatte Voss ein besonderes Geschenk gemacht: ein T-Shirt, von dem es nur drei Stück gab. Es zeigte Voss auf dem Zaun bei einem Auswärtsspiel in Dresden in seinem Element, ein ikonisches Motiv. Das zweite T-Shirt hatte Zingler selbst, das dritte der überraschendste Gast bei dieser Verabschiedung, Damir Kreilach. Der hatte sofort sein Kommen zugesagt, als er von Voss erfuhr, dass nach dem Spiel gegen Gladbach Schluss sein sollte. Kreilach lebte am anderen Ende der Welt, in Salt Lake City, wo der ehemalige Mannschaftskapitän von Union inzwischen spielte. Die beiden hatten sich angefreundet, als Kreilach in Berlin spielte, Voss hatte ihn auch schon in den USA
besucht. In der Halbzeitpause betrat Kreilach den Platz und bedankte sich über das Stadionmikrofon bei Voss, der schluchzend auf seinem Podest stand: »Fabian, du bist eine Legende und wirst ewig leben.«
Zum ersten Mal hatte Voss das Publikum mit einem Megafon in der Hand in Schwung gebracht, als Union 2004 noch in der Vierten Liga spielte, beim Dorfverein Falkensee-Finkenkrug im Umland von Berlin. Inzwischen wurden seine Ansagen auf der Waldseite über Lautsprecherboxen verstärkt. Seit dem ersten Tag war er 8500 Kilometer gereist, ohne ein Spiel von Union zu verpassen, und wenn Heiserkeit der Muskelkater des Unioners war, wie es in Boones Gesetzen geschrieben stand, war Vossi der Muster-Unioner, denn seine Stimme war immer heiser und rau. Er hatte sie oben auf dem Podest verloren, in Hunderten Spielen und Tausenden Gesängen.
Ich hatte Zingler zufällig getroffen, als er von der Übergabe des T-Shirts zurückkam. Er und Voss waren ungefähr zur gleichen Zeit Präsident und Capo geworden. »Wir sind zusammen erwachsen geworden, und wir schreiben uns eine SMS
, wenn wir nicht verstehen, was der andere macht«, sagte Zingler. Das war vielleicht das wahre Wunder, das sich in dieser Verabschiedung ausdrückte: Der Verein und die Ultras respektierten sich gegenseitig und sprachen miteinander. Fabian Voss gehörte dem Wuhlesyndikat an, dessen Logo, die Buchstaben »W« und »S«, umschlossen
von einem Lorbeerkranz, er auf seinen rechten Unterschenkel tätowiert trug.
Das Verhältnis zwischen Vereinen und Ultras, der vielleicht größten Jugendkultur in Deutschland, war fast überall notorisch schlecht. Die Ultras sorgten zwar für Stimmung im Stadion, durch Gesänge oder schöne Choreografien, verstießen aber oft gegen Verbote, etwa im Stadion Pyrotechnik zu zünden. Sie pflegten zwar ihre Gemeinschaft und unterstützten sich auch über den Fußball hinaus, aber es bestand immer die Möglichkeit, dass sie auf gegnerische Fans losgingen oder mit der Polizei aneinandergerieten. Und teilweise waren Vereinsbosse auch davon genervt, dass aus der Ultrakultur heraus beharrlich die Auswüchse des Profigeschäfts kritisiert wurden.
»Prinzipiell ist unser Verhältnis zum Verein sehr gut, aber es ist nicht immer alles Friede, Freude, Eierkuchen«, sagte Voss. Zingler war etwa wütend gewesen, dass sich Fans beim Lokalderby gegen Hertha ohne Karten Einlass verschafft hatten. »Manchmal passieren Fehler«, sagte Voss, »aber Union zeichnet es aus, dass die Wege sehr kurz sind. Wenn was ist, treffen wir uns im stillen Kämmerchen. Ich bin stolz darauf, dass es so ist.« Fundamentalistische Ultragruppen anderer Vereine kritisierten die Unioner dafür, dass sie zu viel mit ihrem Klub sprachen. Wie auf der anderen Seite Vereinsbosse hinter vorgehaltener Hand sagten, dass Union den Ultras zu viel Spielraum gab. Deshalb standen manchmal beide Seiten unter Druck.
»Dirk sagt immer, dass er alle unter einen Hut bringen muss«, erzählte Voss, und im Prinzip versuchten er und die Ultras das auch. Sie mochten die lautesten Fans sein, sich vielleicht als Avantgarde der Kurve fühlen, aber sie schauten nicht herab auf die Fans, die in ihren Kutten alt geworden waren, auf die Normalos auf der Gegenseite oder die auf der Haupttribüne. »Wenn wir was machen, sollten wir es zusammen machen, dann sind wir stark«, sagte Voss. All das war im Laufe der Jahre gewachsen und nicht immer schon so gewesen. Jahre, in denen die Alte Försterei ein unangenehmer Ort gewesen war, waren noch nicht so lange her. Rechte Fans, die
Jagd auf Anhänger von Türkiyemspor Berlin machten und auf die von Tennis Borussia Berlin, die sich als links verstanden, waren in den 1990er-Jahren in Köpenick keine Ausnahmen gewesen. Auch das viel beschworene Stadionerlebnis war nicht immer schon das, was es nun war. »Wir sollten nicht vergessen, dass es hier in den 90er-Jahren sogar mal Cheerleader gab«, sagte Zingler. Die damalige Vereinsführung hatte das für eine angemessene Unterhaltung gehalten. Und Fans hatten sogar mal einen Bettelbrief an Dodi Al-Fayed geschrieben, den damaligen Besitzer des FC
Fulham in England, er möge sich doch bitte in ihren Klub einkaufen. Dass all das inzwischen fast in Vergessenheit geraten war, hatte auch damit zu tun, dass Fans und Verein immer wieder neu ausgehandelt hatten, wie das Stadionerlebnis bei Union aussah.
Voss war daran 13 Jahre lang maßgeblich beteiligt. Obwohl nicht sonderlich groß und auf den ersten Blick jungenhaft unauffällig, merkte man ihm schnell seine Ausstrahlung an. An seiner Hingabe für die Sache bestand sowieso kein Zweifel. Um 2012 hatte er einmal zwei Jahre und dann noch ein weiteres Jahr Stadionverbot bekommen. Warum, daran konnte er sich nicht mehr genau erinnern, sagte er mir. Er durfte jedenfalls weder daheim noch auswärts die Spiele seines Klubs besuchen. Trotzdem fuhr er in jener Zeit mit seinen Freunden zu allen Spielen, ob nach Sandhausen, Fürth oder Bielefeld. In den Bussen oder Sonderzügen wurde Geld für die Stadionverbotler gesammelt, damit sie einen schönen Tag hatten. Sie suchten sich einen Biergarten oder eine Kneipe, wo sie das Spiel sehen, ein Schnitzel essen und ein Bier trinken konnten, während die anderen ins Stadion gingen.
Als er von seinem letzten Tag als Capo erzählte, konnte er seine Rührung nicht verbergen. Die Spieler hatten auf dem Rasen vor der Waldseite ein Spalier gebildet, um ihn zu verabschieden. Voss hatte Tränen in den Augen, als er herunterkam, von den Spielern gewuschelt und geherzt wurde. Und als sie ihn in die Luft warfen. Voss wurde das fast zu viel, und anschließend rief er in sein Mikrofon: »Ich habe heute 500 SMS
bekommen, aber scheißegal. Es geht nicht um mich, es geht um Union Berlin.« Dabei zeigte er
auf die Spieler und vage auch durchs Stadion. Abends gab es noch eine Party, zu der auch Gladbacher Fans eingeladen waren, weil es eine Freundschaft zwischen ihnen und den Unionern gab. Vereinslegende Torsten Mattuschka kam ebenfalls, und als Voss am nächsten Tag wach wurde, stellte er fest, dass ihm viele Briefe und Fotos, Collagen und Schals zugesteckt worden waren. Eine Torte mit einem Megafon aus Zuckerguss hatte er ebenfalls geschenkt bekommen. Dieser fahl-graue Novembertag war der schönste seines Lebens gewesen. »Es war ein Tag, wie ich ihn jedem Menschen wünsche«, sagte er, und seine Augen wurden für einen Moment glasig. Dann hatte er sich wieder gefasst: »Das hat mir jedenfalls klar gezeigt, warum Union der Verein ist, den ich liebe und mit dem ich ins Grab gehen werde.«