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Mitgliederversammlung in Ultra-HD
Im 1. FC  Union steckt ein »Think Big«, das gerne verborgen wird, um »die Menschen«, wie Dirk Zingler sagen würde, nicht zu verschrecken. Schließlich sehen die Unioner ihren Verein als unbedingt nahbar, wo immer es um das »Wir« geht. Doch neben all der demonstrativen Super-Geerdetheit schimmert auch Sehnsucht nach Größe durch. Zum Beispiel nach einer Leinwand von 21 mal 9 Metern, auf die man Bilder in einer solchen Qualität beamen konnte, dass Nasenhaare noch in der letzten Reihe in Ultra-HD zu sehen waren. Von Größe kündete auch die beste Soundanlage der Stadt, deren Klang super-crisp war, sowie eine Bühne, die in ihren Dimensionen an jene des chinesischen Volkskongresses erinnerte. Kurzum: Der Klub hielt seine Mitgliederversammlung des Jahres 2019 in der modernsten Veranstaltungshalle Berlins ab, der Verti Music Hall.
Die Mitglieder des Präsidiums, des Aufsichtsrats und drei Herren fortgeschrittenen Alters, die den Ehrenrat bildeten, trafen sich vorher Backstage im »Green Room«, in dem es eng zuging, weil die meisten Bands, die sonst hier auftraten, nicht so viele Mitglieder hatten. Es gab Hühnerfrikassee mit Reis, belegte Brötchen und süße Teilchen. Eine freundliche Hostess bestand darauf, mir Sprudelwasser einzuschütten, als ich das selbst machen wollte.
»Es ist das erste Mal, dass ich bei einer Mitgliederversammlung eine eigene Garderobe habe«, sagte Zingler belustigt. Dort saß er auf einem Ledersofa, groß wie die Sitzbank eines amerikanischen Straßenkreuzers, und schaute auf eine riesengroße Spiegelwand. Wir gingen nach draußen auf eine Terrasse, die so groß war, dass hier die Berliner Philharmoniker gemeinsam frische Luft hätten schnappen können, und schauten auf den Mercedes-Platz hinunter, der die Mitte eines Viertels bildet, das man nur als »Stadtentwicklung from Hell« bezeichnen kann. Die Mächte der Finsternis hatten hier einen Unort entstehen lassen, an den sich die Bewohner der Stadt nur verirrten, wenn sie in der großen Mehrzweckarena nebenan ein Konzert sehen wollten, die Basketballspiele von Alba oder Eishockeyspiele der Eisbären.
Zingler war aber nicht nach Architekturkritik oder stadtsoziologischen Ausführungen zumute. Er schaute versonnen auf den Platz hinunter, wo auf großen Stelen mit digitalen Displays das Logo seines Vereins und Zitate aus dem Vereinslied aufleuchteten. Der Klub hatte inzwischen über 30000 Mitglieder, und alle fragten sich, wie viele heute kommen würden. Die Tipps lagen bei rund 1800, aber am Ende wurden es deutlich mehr: 2229. Christian Arbeit kam und meldete von den Ständen, an denen es Union-Merchandising gab: »Die kaufen wie die Kaputten.« Der Präsident strahlte.
»Die Menschen freuen sich«, hatte er vor dem ersten Bundesligaspiel festgestellt. Nun freuten sie sich noch immer und taten es erneut, als zu Beginn der Mitgliederversammlung noch einmal Bilder vom Aufstieg und den anschließenden Feierlichkeiten gezeigt wurden. Unterlegt wurden sie mit der Vereinshymne, und sofort standen alle auf, reckten ihre rot-weißen Schals hoch (fast jeder hatte seinen Schal mitgebracht – oder gerade gekauft) und sangen mit. Es war ein liturgischer Moment, die Gemeinde sammelte sich und stimmte ihren Choral an. In den folgenden drei Stunden und 50 Minuten, die die Versammlung dauerte, brachen sie fast jedes Mal in Beifall und Jubel aus, wenn Union Berlin »Bundesligist« genannt oder »spielt in der Bundesliga« gesagt wurde – erst in der vierten Stunde ließen die Kräfte nach.
Zu Beginn dieses Mixes aus Gottesdienst, Vereinsmeierei, Parteitag und Konzernversammlung wurde die Mannschaft auf die Bühne geholt. Es hatte etwas davon, vorgeführt zu werden, wie sie da in ihren staubgrau-roten Trainingsjacken standen, zu denen sie Jeans trugen (zumeist diese kunstvoll zerstörten Jeans, bei denen hoch qualifizierte Designer die Hose am Knie aufschneiden). Christian Arbeit, der zunächst Conférencier war und später Versammlungsleiter, befragte Fischer und Ruhnert kurz, während die Spieler mit brav hinter dem Rücken verschränkten Händen die Kulisse bildeten. Dann durften sie wieder gehen, aber noch nicht nach Hause, anderthalb Stunden mussten sie schon durchhalten.
Es ging weiter mit Begrüßungen, einer Ehrung für eine 50-jährige Vereinsmitgliedschaft und einer weiteren für die Spielerinnen der ersten Frauenmannschaft des Klubs, die sich ebenfalls ein halbes Jahrhundert zuvor gegründet hatte. Als Michael Parensen auf die Bühne trat, stieg die Spannung. Wenn die Vereinslegende sprach, würde wohl jemand Besonderes ausgezeichnet werden. »Wir spüren euch. Der zwölfte Mann ist ein Teil unseres Matchplans«, sagte Parensen, und da ahnten die Ersten im Saal, worauf diese Laudatio hinauslaufen würde. »Wenn einer 13 Jahre lang als Vorsänger …«, fuhr er fort, und bereits da gab es Beifall. Fabian Voss, der ein paar Tage zuvor beim Spiel verabschiedete Vorsänger auf der Waldseite, bekam eine Ehrennadel in Silber und wurde noch einmal mit Ovationen gefeiert, als er auf die Bühne kam. Er war nicht der erste Ultra bei Union, der mit einer Ehrennadel ausgezeichnet worden. Aber seine beiden Vorgänger waren für ihr soziales Engagement geehrt worden. Voss jedoch war der Erste, der für seine Tätigkeit als Ultra ausgezeichnet wurde. Der Beifall war tosend.
Zwei Tage vor der Mitgliederversammlung war ich abends um sechs in Loge 78 gekommen, wo ich bereits den ersten Spieltag erlebt hatte. Das Stadion lag in völliger Dunkelheit, nur im Strafraum vor der Gästekurve war es hell. Dort wurde der Rasen beleuchtet, um ihm auch im Herbst Wachstum abzutrotzen. Auf dem Bildschirm an der Stirnwand der Loge stand: »Präsidiums- und Aufsichtsratssitzung 3/2019«.
Die Sitzung begann mit einem kleinen Vortrag Zinglers zur Lage. »Das ist eine ungewöhnliche Sitzung und eine der leichtesten, die wir je hatten«, sagte er. Dann begann eine Springflut guter Nachrichten und guter Zahlen. Alle finanziellen Planungen waren über den Haufen geworfen worden, weil die Ergebnisse besser waren als prognostiziert. Schon Anfang Dezember waren mehr Trikots verkauft worden als in der ganzen Saison zuvor. Die Sponsoringeinnahmen waren auf 20 Millionen Euro fast verdoppelt worden. Und pro Spiel war der Cateringumsatz auf 150000 Euro gestiegen. »Die Menschen freuen sich und holen sich noch ein Bier«, sagte Zingler. Und mehr als 13000 neue Mitglieder gab es auch.
»Der Sport erzeugt bei jedem ein Grinsen auf dem Gesicht«, sagte Zingler und erklärte, dass er beim Text seiner Rede, den er auf der Mitgliederversammlung halten wollte, trotzdem ein wenig die Euphorie herausgenommen habe, schließlich sei noch nichts gewonnen. »Ich habe mich beim Trainer bereits dafür bedankt, dass er das spielen lässt, was die Jungs können. Er ist pragmatisch und überfordert den Kader nicht. Ich finde das gut, weil andere Trainer über sich lesen wollen, dass sie guten Fußball spielen lassen.«
Anschließend ging es um den Bau des neuen Nachwuchsleistungszentrums und den Stand der Dinge beim Ausbau des Stadions. Der Ablauf war eingespielt, man merkte, dass diese Leute schon seit Jahren zusammensaßen und jeder seine Rolle gefunden hatte. Dirk Thieme kümmerte sich als Architekt ehrenamtlich um alle Fragen, die mit dem Stadionausbau zu tun hatten. Der Rechtsanwalt Dirk Fischer brachte juristische Kompetenz ein, der Sozialdemokrat Karlheinz Nolte war in der Berliner Lokalpolitik vernetzt, und Hans-Joachim Lesching kümmerte sich um die Sozialprojekte des Klubs. Der Stahlhändler Jörg Hinze und Thomas Koch, dem etliche Autohäuser gehörten, pflegten die Verbindungen zu den Sponsoren. Diese Leute saßen schon über Jahre zusammen, kannten sich bestens in ihren Stärken und vermutlich auch Schwächen.
Zum Schluss diskutierte die Runde noch darüber, ob Michael Kölmel Ehrenmitglied werden sollte. Kölmel kam ursprünglich aus dem Filmgeschäft, in dem er erst eine sensationelle Erfolgsgeschichte geschrieben und dann eine gigantische Pleite hingelegt hatte, für die er zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde. Zugleich war er einer der ersten Investoren im deutschen Fußball gewesen. Um die Jahrtausendwende hatte Kölmel Kredite an ein Dutzend Traditionsvereine vergeben, die in wirtschaftlichen Krisen steckten, darunter auch Union. Kölmel trat nicht als Wohltäter auf, er ließ sich an zukünftigen Einnahmen aus Fernsehrechten und Merchandising beteiligen. Dennoch galt er als Retter des Klubs in schwerer Stunde, 1998 und 2004 half er zweimal, eine Insolvenz zu vermeiden. Außerdem hatte er Vereinsgeschichte geschrieben, als er die Vereinshymne in Auftrag gegeben hatte, die Nina Hagen einsang. Fan war er auch geworden und kam häufig zu den Spielen.
Kölmel hatte Gutes getan und hatte davon profitiert. Er liebte Union wie ein Fan und wurde von den Fans zurückgeliebt. »Wir sehen hier die Janusköpfigkeit des Kapitals«, sagte Lesching. Vermutlich war Union der einzige Bundesligaklub, bei dem ein im Marxismus geschultes Aufsichtsratsmitglied einen solchen Satz sagte. Lesching, der inzwischen auf die 80 zuging, hatte die Rolle des inoffiziellen Vereinsphilosophen inne. Er hatte eigentlich Elektriker gelernt, war aber im Kulturbetrieb der DDR gelandet. Ende der 1970er hatte er im Auftrag der Freien Deutschen Jugend den »sozialen Gebrauch der Rockmusik in der DDR « erforscht. Er analysierte dazu die Fanpost von Jugendlichen an DDR -Bands und besuchte sie zu Interviews. »1982 wusste ich, dass wir das Jahrzehnt nicht überstehen würden.« Später wurde Lesching Gewerkschaftschef im Friedrichstadtpalast und gründete nach der Wende die freie Gewerkschaft Kunst, Kultur, Medien mit. 1991 machte er sich mit einer Firma für Werbemittel selbstständig, die meisten Bäckereien und Metzgereien in Ostberlin bekamen ihre Leuchtwerbung von ihm.
Lesching war ein Mann guter Punchlines, auch wenn er das nicht so nennen würde. »Was sie uns in der DDR über den Sozialismus erzählt haben, war Quatsch, aber das über den Kapitalismus stimmte«, sagte er. Und besonders gerne zitierte Lesching im Zusammenhang mit Union das FDJ -Aufbaulied, dessen Text Bertolt Brecht geschrieben hatte. Dort hieß es: »Um uns selber müssen wir uns selber kümmern.« Also Blut spenden oder ein Stadion bauen. Vor allem aber eines hatte Lesching im gescheiterten Sozialismus der DDR gelernt: »Die Partei hat die Kraft der Massen angebetet, aber hatte Schiss davor. Wir lassen die Massen zu.«
Vieles, was bei Union passiert war, war aus der Masse gekommen. Die Plakate von Boone und seine Gesetze, auch die Stadionzeitung wurde immer noch von Fans gemacht und sah auch aus wie ein Fanzine. Unioner säuberten im Frühling und Winter das Ufer der benachbarten Wuhle, brachten Rollstuhlfahrer zu Auswärtsspielen und organisierten Fanzüge. Auch die Ultras ließ der Verein zu und zeichnete stellvertretend Einheizer Voss aus. Und den Investor Kölmel. Der Beschluss, ihn zum Ehrenmitglied zu machen, wurde einstimmig angenommen. Zwei Tage später stand er auf der Bühne und wurde gefeiert wie vorher der Ultra.