Adrian Wittmanns Tag begann morgens um fünf Uhr, wenn seine Frau und seine kleine Tochter Emmy noch schliefen. Um halb sechs stand er in Senzig, einer Ortschaft mit rund 3000 Einwohnern 20 Kilometer südöstlich von Berlin, an der Bushaltestelle. Er fuhr mit dem Bus der Linie 722 bis zum Bahnhof Königs Wusterhausen und nahm die S46 bis nach Adlershof, die Fahrt dauerte knapp 20 Minuten. Er stieg in die Straßenbahn der Linie 60, die nach neun Stationen und einer Viertelstunde Fahrt um kurz vor sieben An der Alten Försterei hielt. Manchmal war er als Erster dort, aber dann kam Urs Fischer meistens kurz darauf. Die Antwort auf die Frage, wie müde er um diese Zeit noch war, nuschelte Adrian Wittmann weg. Dieses Nuscheln war seine Spezialität. Als würde er den Gegenpol zu Urs Fischer bilden wollen, der immer laut und überdeutlich sprach. Als sein Gesprächspartner hatte man nicht selten das Gefühl, nicht gut zu hören. Mit Schüchternheit hatte das nichts zu tun, Wittman war durchaus selbstbewusst.
Er war 33 Jahre alt, als Unions erste Spielzeit in der Bundesliga begann, und in seiner neunten Saison beim Klub. Früher war er mal ein durchschnittlich talentierter Amateurkicker gewesen und schon mit 16 Jahren Trainer geworden. Bei seinem Heimatverein in Zeuthen, einem Ort kurz hinter der Stadtgrenze von Berlin, hatte Adrian Wittmann diverse Jugendmannschaften und als Co-Trainer die erste Mannschaft betreut. Er studierte Trainingslehre an einer privaten Hochschule in Berlin, die auch Bundesligatrainer Julian Nagelsmann absolviert hatte. Nach dem Studium begann er bei Union mit Spielanalysen zunächst für die U19- und U23-Nachwuchsmannschaften, dann kam er zu den Profis.
Man hätte ihn für einen Nerd halten können, wenn er im Nebenzimmer des Maschinenraums an seinem Schreibtisch saß,
umgeben von zwei Bildschirmen und einem aufgeklappten Laptop, wo fast immer Spielszenen liefen, die er markierte, ablegte und analysierte. Er hing vorgebeugt in seinem Bürostuhl und schaute die eigenen Spiele noch einmal an, um Szenen für die Besprechungen mit der Mannschaft und die Einzelbesprechungen vorzusortieren. Bis zum Ende der Saison würde es genau 132 davon geben, allein Marius Bülter und Marcus Ingvartsen würden zehnmal mit Fischer, Bönig oder Hoffmann ihr Spiel anhand von Videos durchgehen.
Wittmann analysierte auch die Spiele der Gegner auf der Suche nach taktischen Mustern, nach Schwächen und Stärken, gelegentlich schon morgens um sechs in der S-Bahn auf dem Weg zur Arbeit. Für jeden Gegner legte er eine Mappe aus dünnem Karton mit einem Sichtfenster an, in die er weitere Informationen steckte: Grundaufstellungen, taktische Auffälligkeiten, Berichte des Scouts, der sich den Gegner live im Stadion angeschaut hatte.
Nannte ihn jemand »Videoanalytiker«, nervte Wittmann das: »Ich bin Spielanalytiker.« Er bestand auf dieser Unterscheidung, weil er einen Beruf ausübte, unter dem sich nur wenige Leute etwas vorstellen konnten, selbst innerhalb des Klubs nicht. Was sollte schon groß wichtig sein daran, Spielszenen rauszusuchen, konnte das nicht jeder? Dabei gehörte die Arbeit, die er machte, zur Grundlage für die Geschichte, die den Spielern Woche für Woche, Spiel für Spiel erzählt wurde.
»Fußball zu analysieren, bedeutet für mich, Tendenzen, Wahrscheinlichkeiten und Notwendigkeiten mit dem Möglichen auszuloten«, hatte er seine Arbeit mal definiert. Das klang abstrakt, erklärte sich aber in der Praxis. »Viele Mannschaften verändern sich von Spiel zu Spiel ein wenig, das gab es vor zehn Jahren so noch nicht.« Das galt es zu verstehen, vorauszuahnen, und darauf mussten Antworten gefunden werden. Im Maschinenraum war das ein wichtiger Teil der Arbeit.
Eines Morgens im Dezember kam ich gegen Viertel nach acht in die Kabine und hörte, dass im Trainerzimmer ein aufgeregtes Gespräch lief. Es klang erst wie ein Streit, aber es war eine hitzige
Debatte darüber, wie Marcus Ingvartsen sich in einer Spielsituation hätte verhalten sollen. Die Diskussion schien schon eine gewisse Zeit zu laufen, mal ergriff Wittmann das Wort, dann deutlich lauter Fischer. Ich saß in der Umkleidekabine und zog meine Rudelkleidung an, für die frühe Stunde war die Diskussion erstaunlich leidenschaftlich. Auf solche Situationen war Wittmann gleich vorbereitet worden, als Fischer und Hoffmann nach Berlin kamen. Sie erzählten ihm, dass es beim FC
Basel mit einem Scout, der die kommenden Gegner beobachtete, über taktische Fragen so wilde Diskussionen gegeben hatte, dass sie zwischendurch Pausen machen und vor die Tür gehen mussten, damit die Dinge nicht zu sehr aus dem Ruder liefen.
Die morgendliche Diskussion zeigte, dass es durchaus unterschiedliche Ansichten dazu geben konnte, wie man eine Situation auf dem Platz bewertet, wie man den Gegner einschätzte und welche Mittel gegen ihn besonders erfolgreich sein würden. Wittmann war ganz selbstverständlich daran beteiligt, was unter Fischers Vorgängern nicht immer so war. Auf Geheiß von Fischer hatte Wittmann seinen Schreibtisch im Nebenzimmer bei den Athletik- und Torwarttrainern bezogen. Sein Spind war ebenfalls in der Umkleidekabine der Trainer, und erstmals war er vor der Saison mit auf dem Mannschaftsfoto. Nur Autogrammkarten hatte er keine.
Wichtiger als die formale Anerkennung der Arbeit war aber die praktische. Kein Wunder, dass Wittmann nicht darüber klagte, morgens um halb sechs in Brandenburg an einer Bushaltestelle zu stehen, damit er die Spielersitzung morgens um neun so vorbereiten konnte, dass der Ablauf saß. Er klagte nicht, wenn Fischer ein Spiel gleich abarbeiten wollte, selbst wenn das bis Mitternacht ging. Er fuhr an solchen Tagen nicht mehr nach Hause und legte sich auf eine der Liegen im Aufenthaltsraum der Spieler. Oder der Trainer lieh ihm seinen Wagen, damit er noch nach Hause kam, nachts dauert das nur eine gute halbe Stunde.
»Alles gründet auf Vertrauen bei ihm«, sagte Wittmann über Fischer. Der Trainer hatte selber Spiele analysiert, als er
Jugendtrainer in Zürich war. Er wusste, was Wittmanns Job ausmachte. Er zeigte ihm, was er von seinem Spielanalytiker wollte, und lehrte ihn seine Sicht aufs Spiel. »Urs hat mich entwickelt«, sagte Wittmann. Zum Ende der Saison sprach mitunter er in den Besprechungen zu den Spielern.
Zum Training betrat Wittmann den Platz meistens etwas später und brachte eine kleine schwarze Tasche mit, in der eine Videokamera steckte. Er ging damit zu einer schwarzen Kunststoffkiste von der Größe eines Sarges, die unter einer Trainerbank lag. Er nahm ein silbernes Gestell heraus, dessen vier Beine er auf Höhe der Mittellinie ausklappte. Er fixierte sie, befestigte die Kamera an der Spitze des Mastes und schob die Teleskopstangen aus, bis die Kamera aus einer Höhe von neun Metern das ganze Spielfeld erfasste. Ursprünglich war diese Konstruktion mal entwickelt worden, um Verkehrsunfälle zu dokumentieren.
Von unten konnte er mit Blick auf einen kleinen Bildschirm den Mast schwenken und den Bildausschnitt verändern, sodass die Videos dem Scoutingfeed der Bundesligaspiele ähnelten. Wittmann zeichnete nur jene Trainingsübungen auf, in denen es um taktische Fragen ging. Urs Fischer stand am Seitenrand in der Nähe von Wittmann, sodass der Spielanalytiker meist der erste Adressat für die Beschwerden des Trainers war, wenn die Spieler etwas falsch machten. Sebastian Bönig stand einige Meter weiter entfernt auf Höhe des Strafraums und Markus Hoffmann auf der anderen Seite des Spielfelds. Athletiktrainer Martin Krüger kontrollierte auf seinem Laptop die Herzfrequenz der Spieler.
Wittmann hatte Fischers Spielprinzipien zu Papier gebracht und in der Kabine aufgehängt. Sie wurden auf dem Trainingsplatz ständig wiederholt, immer wieder eingeübt, von Wittmann aufgezeichnet und in Mannschafts- oder Einzelbesprechungen gezeigt. Eine Dauerschleife der Rückmeldungen und Verbesserungen, eine Verschmelzung von Theorie und Praxis. Aber zum Fußball gehören auch jene Momente, die sich der Planbarkeit entziehen.
Wie in der 23. Minute des Spiels bei Schalke 04.
Bis dahin hatte Union gut gespielt, keine Torchance zugelassen
und selber eine gehabt. Der Plan, an dem das Trainerteam mit der Mannschaft gearbeitet hatte, war bislang bestens aufgegangen. Doch dann rauschte Keven Schlotterbeck im Mittelfeld mit einem Gegenspieler zusammen. Der Schiedsrichter beurteilte das als Foul und zeigte Schlotterbeck die Gelbe Karte, während er vom Platz geführt wurde. Der Innenverteidiger hatte sich verletzt, und während sich draußen Florian Hübner hastig den Trainingsanzug auszog, um zum ersten Mal in dieser Saison eingewechselt zu werden, ging das Spiel weiter. Die Freistoßflanke köpfte Sebastian Andersson aus dem Strafraum, auf Schalkes linke Angriffsseite. Die Flanke von dort wehrte Marvin Friedrich per Kopf fast an die gleiche Stelle zurück. In dem Wissen, dass die Mannschaft in Unterzahl war und einer der drei Innenverteidiger fehlte, kamen fast alle Spieler von Union in den eigenen Strafraum zurück. Das zeugte von dem unbedingten Wunsch, helfen zu wollen, war aber nicht schlau. Nun hingen alle tief im eigenen Strafraum, aber sicherten den Rückraum nicht mehr. Die nächste Flanke prallte aus einer Spielertraube zurück an die Strafraumgrenze, von wo aus ein Schalker Spieler den Ball fast unbedrängt ins Tor schießen konnte.
Die Szene tauchte Monate später noch einmal in einem Video auf, das Wittmann für die Schulung der Spieler zusammengeschnitten und »Verhalten in außergewöhnlichen Situationen« genannt hatte. Die außergewöhnliche Situation in der 23. Minute kippte das Spiel, das Union letztlich durch ein Tor kurz vor Schluss mit 1:2 verlor, in eine ganz andere Richtung. Ohne diese Szene hätte es zweifellos eine andere Dynamik bekommen, vielleicht zugunsten von Union. Aber sicher war das nicht.
Deutlicher als je zuvor wurde mir klar, dass Fußball generell ein Spiel der Momente ist. Nicht nur der Momente, die sich durch außergewöhnliche Situationen wie die Verletzung eines Spielers ergeben. Es ging wahnsinnig viel Aufwand darein, Momente des Gegners zu verhindern, dass er aufs Tor schoss, sich durchkombinierte oder nach einer Ecke einen Kopfball anbringen konnte. Und gleichzeitig ging es darum, solche Situationen selber zu
haben. Beides galt es ins Gleichgewicht zu bringen, und trotz der Niederlage bei Schalke gelang der Mannschaft das inzwischen ziemlich gut.