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Wie hip können Weihnachtslieder sein?
Nein, natürlich war es noch nicht gut damit.
Denn am nächsten Tag, wie immer am 23. Dezember, stand noch das Weihnachtssingen an, zum 17. Mal. Wer jetzt vielleicht denkt, dass sein Verein auch ein Weihnachtssingen im Stadion macht, dem sei gesagt: Erfunden wurde es bei Union Berlin. Und wie dort so oft hatten es Fans erfunden, 89 an der Zahl, die am 23. Dezember 2002 über den Zaun kletterten, um sich auf der Gegengerade auf Höhe der Mittellinie An der Alten Försterei zu treffen und dort Weihnachtslieder zu singen. Der Verein hatte es zugelassen, und vermutlich werden auch die ersten Weihnachtssänger eines Tages ein Denkmal oder eine Ehrentafel bekommen.
So ganz hatte ich die Motivation, sich zum gemeinsamen Singen von Weihnachtsliedern im Fußballstadion zu treffen, nicht verstanden. Zumal in Ostberlin – Weihnachten ist ein christliches Fest, und die DDR war ein atheistisches Land. Aber das Ganze hatte von Beginn an einen Nerv getroffen, beim zweiten Mal kamen schon 500 Leute, die nicht mehr über den Zaun klettern mussten. Inzwischen war die Veranstaltung seit Jahren weit im Voraus ausverkauft und wurde im Fernsehen übertragen. Spätestens seit dem Bundesligaaufstieg war es fast unmöglich, Karten zu bekommen. Sie kosteten fünf Euro, aber der Eintritt war eher eine Aufwandsentschädigung, denn fürs Singen musste der Rasen mit Kunststoffplatten abgedeckt werden, was diesem mitten im Winter nicht gerade guttat. Der Platzwart hatte mir erklärt, dass ein Problem auch das Kerzenwachs war, das zwischen den Ritzen der Platten auf den Rasen lief. Nach dem Singen wurde der Rasen ausgewechselt.
Der geübte Zuschauer wusste, dass er beim Weihnachtssingen jedes Jahr das Gleiche bekam, man hatte eine Erfolgsformel gefunden. Christian Arbeit moderierte, als Hilfestellung beim Singen fungierte der Chor des Emmy-Noether-Gymanisums aus Köpenick, und auch die anderen Programmpunkte waren die gleichen wie in den Jahren zuvor. Diesmal ging es eine Viertelstunde später los, weil sich erst der Einlass verzögerte und »die Menschen« noch mal »Stadtmeister, Stadtmeister, Berlins Nummer eins« singen wollten. Anschließend stimmten sie es zwischen fast allen Liedern an. »Das schönstes Weihnachtslied des Jahres«, sagte Arbeit.
Als wir so dastanden und »Stille Nacht, heilige Nacht« oder »Es ist ein Ros’ entsprungen« sangen, wurde mir erst einmal klar, wie lange ich, abgesehen von Fußballspielen, nicht mehr gesungen hatte und wie schön das war. Allerdings brauchte ich eines der Texthefte, die jeder Besucher bekam. Schon die zweite Strophe von »O Tannenbaum« war nicht einmal mehr in den hintersten Regalen meines Gehirns abgelegt. Typisch unionerisch war, dass man dieses Heft mit Liedtexten bekam, sie aber nicht einfach in der Reihenfolge abgedruckt waren, wie sie gesungen wurden, sondern durcheinander, sodass Arbeit immer »Findet ihr auf Seite …« sagen musste.
Man bekam übrigens nicht nur ein Heft, sondern auch eine weiße Kerze mit einem Windfang aus Plastik (ab 2020 recyclingfähig). Die Kerzen spielten in der Weihnachtssingen-Mythologie eine besondere Rolle, seit 2016 sind sie Teil einer festen Choreografie. Damals wurde der Wechselgesang »Eisern« – »Union« zwischen den Tribünen zum ersten Mal dadurch begleitet, dass die Stadionseite, die gerade an der Reihe war, die Kerzen hochhielt. 2016 war ein ganz besonderes Jahr gewesen, denn zwei Tage zuvor war der Attentäter Anis Amri mit einem Lkw über den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz gefahren und hatte zwölf Menschen getötet. Jene, die damals ins Stadion gekommen waren, erinnerten sich noch genau an die besondere Atmosphäre: »Wir lassen uns unser Leben nicht kaputt machen.« Nach etlichen Jahren, in denen schon einige das Gefühl bekamen, die ganze Singerei sei so langsam ein hohles Ritual geworden, entwickelte sie nach dem Attentat wieder ihre ganze Kraft .
Ich habe über 20 Jahre in Köln gelebt und mochte Karneval sehr, und mich erinnerte das Weihnachtssingen in Köpenick zu meiner eigenen Verblüffung an Karneval, wobei der Unterschied zwischen überschwänglichen rheinischen Katholiken im Rheinland und den leicht verstockten protestantisch-atheistischen Preußen kaum größer sein könnte. Die Verbindung zum Karneval ergab sich aus dem gemeinsamen Singen, aber vor allem »Der Weihnachtsmann« erinnerte mich daran. Er kam jedes Jahr an die Alte Försterei, um die Ereignisse aus Fansicht zusammenzufassen, war sehr beliebt und wurde mit »Weihnachtsmann, Weihnachtsmann, Berlins Nummer eins«-Gesängen begrüßt. (Ich konnte es langsam nicht mehr hören.) »Dort von der Waldseite komm ich her, ich muss euch sagen: Es weihnachtet sehr«, war sein Entree, und dann ging er in Reimen durchs Jahr – wie ein Büttenredner.
In diesem Jahr war’s proppenvoll,
Union, das zieht, Union ist toll.
Tickets werden jetzt verlost,
so manchen Fan hat das erbost.
Doch wie soll man es sonst gestalten,
wenn man will Gerechtigkeit erhalten?
Von der Ticketvergabe kam er zur Aufforderung, das Stadion auszubauen. Er beschwor noch einmal den Aufstieg gegen Stuttgart, erinnerte an den Auftakt gegen Leipzig und das letzte Spiel von Fabian Voss als Einheizer. Dazu gab es »Vossi«-Sprechchöre, bevor »Der Weihnachtsmann« zum Grundsätzlichen schritt.
Schnell wurde jedermann bewusst
auf uns hat Fußballdeutschland Lust.
Da kommt ein Stadtbezirksverein
und hat Erfolg, wie kann das sein?
Der Zaubertrank heißt Fußball pur,
heißt Mitbestimmung, Fankultur .
Und aus dem Köpenicker Wald
erscheint Union als Lichtgestalt.
Zeigt einen Weg aus der Misere,
Zeigt auf, wie schön der Sport doch wäre
Sind nichts Besonderes. Und man lernt
Die anderen haben sich entfernt
Vom eigentlich sozialen Zweck,
sie schmeißen ihn für Kohle weg.
Denn was ich sage, ist kein Scherz
Sie opfern alles dem Kommerz.
Ob Stadionname Fußballspiel
Da geht verloren das Wirgefühl
Drum Eiserne, seid auf der Hut
Und erhaltet euch dies hohe Gut.
Eure Form der Leidenschaft
Aus der ihr zieht unbändig Kraft
Lasst uns die Konsumenten schocken
Und weiter diese Liga rocken.
Beim Weihnachtssingen war ich Stefan Osterhaus über den Weg gelaufen, der von Berlin aus seit Jahren für die »Neue Zürcher Zeitung« arbeitet und eine Legende unter seinen Kollegen ist, weil er immer mit dem am weitesten aufgeknöpften Hemd erscheint, und das gerne einen Hauch zu spät. Er schrieb Topgeschichten und machte auch längere Beiträge fürs Radio, weshalb er beim Weihnachtssingen mit einem zigarettenschachtelgroßen Aufnahmegerät herumlief. Als wir uns unterhielten, sagte er: »Ich wollte die eigentlich doof finden, aber …« Er schaute sich demonstrativ um und zuckte mit den Achseln. Es war nicht einfach, das doof zu finden.
Womit wir beim komplizierten Thema »Union im Spiegel der Medien« wären. Dazu muss man zunächst aber etwas zu den seltsamen Verläufen der öffentlichen Wahrnehmung sagen. Sie verlaufen im Prinzip nach dem gleichen Prinzip wie bei technischen Neuerungen. Dort gibt es die »Early Adopters«, also die Technikfreaks und Neuigkeiten-Enthusiasten, die ein Smartphone haben wollen, wenn andere noch sagen: Was soll der Quatsch, mir reicht es, wenn ich mit einem Telefon telefonieren kann. Der Vergleich mit einem Fußballklub hakt auf den ersten Blick, ein Fußballklub ist schließlich eher eine kulturelle Hervorbringung, kein Produkt (auch wenn das inzwischen teilweise anders gesehen wird). Aber es gibt interessante Parallelen.
Nun spielte der 1. FC  Union Berlin lange Zeit hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen in der Vierten, Dritten und lange in der Zweiten Liga. Jenseits von Köpenick interessierte das eigentlich niemanden so richtig. Auf jeden Fall kam der Korrespondent der »Neuen Zürcher Zeitung« nicht vorbei, um zu schauen, was beim Zweitligakick gegen Fürth oder Bielefeld so los war. Doch schon damals gab es erste journalistische »Early Adopters«, die mitbekamen, dass dahinten in Köpenick etwas Besonderes passierte. Mit tödlicher Sicherheit benutzt dann jemand den Begriff »Kultverein«, der immer herangezogen wird, wenn ein Verein sportlich nicht so doll erfolgreich ist, seine Fans ihn aber trotzdem lieb haben.
Es gibt einige solcher Vereine, es gibt sie in den unterschiedlichsten Ländern, und es gibt Fans, die solche Geschichten lieben. Wenn so ein Verein sportlich besser wird, wächst das Interesse an diesen Geschichten, bis sogar der »Guardian« aus London nach Berlin kommt, um sie zu erzählen. Über das erste Lokalderby in der Bundesliga etwa machte »Copa90«, ein englischer Internetkanal, einen Film. Man konnte ihn auf Youtube anschauen, eine atmosphärisch überbordende, hart geschnittene Reportage mit einem Presenter, der als eine aufgespeedete Version von Sir Richard Attenborough fürs 21. Jahrhundert daherkam und den Eindruck vermittelte, das Lokalderby in Berlin sei der geilste Scheiß auf Fußballgottes Erden. Dabei wurde die Geschichte von Union als aufrechter Dissidentenklub zu finsteren DDR -Zeiten und alles andere wieder von vorne erzählt, weil’s ja immer noch Leute gab (Late Adopters), die von all dem noch nie gehört hatten .
Das Problem mit solchen Entwicklungen ist nur, dass die Early Adopters so etwas irgendwann nicht mehr hören können, weil sie zu oft gehört haben, wie geil, einzigartig und besonders Union ist. Im Grunde ist es so ähnlich wie früher beim Pop, wo anfangs ein paar coole Hipster eine angesagte Band für sich alleine hatten und sie im kleinen Kreis der Eingeweihten feierten. Bis die Band plötzlich in Stadien auf der Bühne steht, aus 500 Früherleuchteten 50000 Nachzügler geworden sind, und man die Nase rümpft, weil die Band »zu kommerziell« geworden ist oder gar »Ausverkauf« betreibt.
Auch Union erlebte das nun, der Berliner »Tagesspiegel« etwa hatte schon vor dem ersten Spieltag einen Text veröffentlicht, in dem stand: »Nach dem Aufstieg der Köpenicker in die Bundesliga konnte man überall lesen, welch außergewöhnlicher Verein da neuerdings ganz oben mitmischen darf. Was für eine Sensation das sei, wie romantisch in Zeiten des durchkommerzialisierten Fußballs! Ich habe genug von dieser Verklärung, der Selbstinszenierung, packt die Klischeekeulen wieder ein! Es nervt gewaltig – und zwar seit Jahren!«
Trotzdem stimmte es, was »Der Weihnachtsmann« gesagt hatte: »Auf uns hat Fußballdeutschland Lust.« Wohin Union bislang gekommen war, fiel die Begrüßung freundlich aus, ob bei den Vereinen oder in den Artikeln der Lokalpresse. »Fußballdeutschland« gefiel es, dass dieser Klub durch die Bundesliga tourte. Den Unionern wiederum gefiel das, aber so wahnsinnig beeindruckt davon waren sie nicht, man machte eben gerne sein Ding für sich. Sie mochten nun ein vom großen Publikum gerade erst entdeckter Volksstamm sein, für dessen seltsame Riten es sich begeisterte, aber was sollten die Unioner machen? Die Entscheidung war einfach: weiter halt.