Besser werden im Niemandsland
Nach der Minipause reisten wir auf eine Weise nach Spanien, die wenig mit einer Reise zu tun hatte. Wir fuhren zwar an einen anderen Ort, brachten aber unseren kompletten Hausstand mit: unsere Bälle und Trikots, unsere Stangen und Hürden, unsere Tapes und Pflaster. Sogar Wittmanns schwarzen Plastiksarg, in dem sein ausfahrbares Stativ ruhte, zog er auf den Trainingsplatz nahe der Costa Blanca hinter sich her wie einen treuen Hund. Die meisten Spieler würden am Ende des Trainingslagers, in dem die Rückrunde vorbereitet werden sollte, nicht einmal am Meer gewesen sein, obwohl es bis zum Strand keine zehn Kilometer waren. Dabei konnte man das Meer von der Terrasse unseres Hotels aus in der Ferne sehen, wenn auch nicht an jedem Tag.
Das Real Club de Golf Campoamor Resort, eine Autostunde südlich von Alicante, war eine abgeschlossene Welt, zu der noch ein Stadtviertel voller Ferienwohnungen gehörte und eine Golflandschaft, die unser Hotel umgab. Nichts hier war gewachsen, alles war gemacht, erschaffen wie eine Märklin-Landschaft ohne Eisenbahn. Die drei Fußballplätze, auf die wir hinunterschauten, waren wie drei Stufen einer überdimensionierten Treppe aus der Landschaft geschabt worden, an einer der Längsseiten ragten gerade Sandsteinwände auf, an denen man die Spuren sehen konnte, die riesige Bagger hinterlassen hatten.
Das Hauptgebäude auf der Kuppe eines Hügels war ein Pseudo-Herrenhaus im spanischen Stil, mit schweren Steinböden und holzgetäfelten Decken. Spieler, Trainer und Betreuer hatten ein Nebengebäude für sich, im Untergeschoss gab es einen Kraftraum, Umkleidekabinen mit Whirlpool und Sauna und einen Aufenthaltsraum mit einem Tischkicker. Davor war eine Schwimmhalle und daneben Plätze für Tennis und Paddle-Tennis, was vor allem das Trainerteam gerne spielte. In den Gängen hingen gerahmt die
Fußballtrikots der Mannschaften, die hier schon einmal Station gemacht hatten, viele spanische, das österreichische Nationalteam und der VfL Bochum.
Für die Dauer von acht Tagen beschränkte sich der Radius der Spieler des 1. FC
Union Berlin weitgehend auf die Fußballplätze in Sichtweite, ihre Hotelzimmer und den Gang von ihrem Teil des Hotels zum Haupthaus, wo wir einen eigenen Speiseraum hatten. Den Weg trotteten die Spieler morgens zum Frühstück hin, trotteten anschließend wieder zurück. Gingen auf ihre Zimmer, kamen zum Training heraus. Kamen vom Training zurück und trotteten zum Mittagessen. Dann trotteten sie wieder zurück, gingen auf ihre Zimmer und kamen zum Nachmittagstraining wieder hervor. Danach ruhten sie sich auf ihren Zimmern aus, trotteten zum Abendessen, trotteten wieder zurück und gingen auf ihre Zimmer.
Wobei »trotten« vielleicht gar nicht der richtige Begriff dafür ist, wie Fußballspieler sich bewegen, wenn sie nicht über den Fußballplatz rennen müssen. Ich konnte das studieren, wenn sie zum Essen kamen. Von ihrem Gebäude führte eine leichte Steigung auf das Haupthaus zu, und sie nahmen sie, die Hände in die Taschen ihrer Sweatjacken oder Daunenjacken gesteckt. Es gab Spieler wie Grischa Prömel, dessen Körper immer unter Spannung stand, oder Anthony Ujah, der einen schlackernd-schwankenden Gang hatte, aber die Mehrzahl ihrer Kollegen versuchte, sich mit dem geringstmöglichen Energieaufwand fortzubewegen. Sie waren in Bewegung, versuchten das aber mit Minimalaufwand zu machen.
Wenn das Leben daraus besteht, dass man ständig dazu angetrieben wird, noch einmal zu sprinten, von vorne nach hinten und wieder zurück, mit so wenig Pausen wie möglich – und im Trainingslager bestand es fast vollständig daraus –, ist die langsame Bewegung oder das Schlurfen ein Moment der Freiheit, vielleicht gar der Rebellion. Es mochte auch eine Rolle spielen, dass sich junge Männer seit jeher nicht gerne eilig bewegen, weil das tendenziell aufgeregt und nicht cool wirkt. In diesem Schlurf-Zusammenhang besonders lustig fand ich es, dass Florian Hübner seine Adilette quasi heruntergetuned hatte. Normalerweise ist die Schlaufe,
in die der Fuß schlüpft, handbreit, aber er hatte sie auf einen dünnen weißen Streifen von vielleicht anderthalb Zentimetern Breite reduziert – eine Riemchen-Adilette.
Der Trott wurde dadurch unterbrochen, dass es an einem Tag statt eines Vormittagstrainings ein Testspiel gegen einen belgischen Zweitligisten gab und am gleichen Nachmittag ein weiteres Testspiel gegen einen anderen belgischen Zweitligisten. Am Tag vor der Abreise gab es noch einen dritten Test gegen Ferencvaros Budapest, den ungarischen Rekordmeister. Zweimal war nachmittags frei, Christian Gentner, Felix Kroos und Jakob Busk gingen mit Co-Trainer Markus Hoffmann Golf spielen. Robert Andrich traf sich mit Freunden aus Berlin, die Union ins Trainingslager gefolgt waren.
In der Mittagszeit gaben die Spieler Interviews, einige Journalisten begleiteten die Mannschaft, durften aber nicht in der Hotelanlage wohnen. Sie kamen zum Training, schauten zu, warteten auf die Spieler, mit denen sie am jeweiligen Tag sprechen konnten, und gingen wieder.
Obwohl ich die Spieler eine Woche begleitete, wurde mir nicht klar, was sie auf ihren Zimmern machten. Nichts, sagten die einen. Ausruhen, die anderen. Einige spielten Uno, andere zockten auf der Playstation oder am Computer, vor allem aber schliefen sie unheimlich viel: morgens nach dem Frühstück, zwischen Training und Mittagessen, zwischen Nachmittagstraining und Abendessen und abends wieder. Im Trainingslager war überdies das Programm anstrengend und trug dazu bei, ihr Leben jenseits des Trainingsplatzes auf Grundfunktionen zu reduzieren: essen und schlafen. Zum Glück war ich der Einzige, dem die Matratzen im Hotel zu hart waren.
Einmal gab es eine Zimmerparty, zu der Trimmel Bier, Wein und Knabberkram besorgt hatte, das Ganze mit Erlaubnis des Trainers. Knapp die Hälfte der Spieler schaute vorbei. Es klang nicht nach der rauschendsten Feier des Jahres, aber darum ging es nicht. Trainingslager sind kein Vergnügen, und sie dienen keinen touristischen Zwecken. Reisen bildete hier nicht, öffnete keine neuen
Perspektiven, wozu die Costa Blanca in all ihren verbauten Grässlichkeiten sowieso nicht der richtige Ort gewesen wäre. Es ging darum, sich auf die Rückrunde vorzubereiten. Es tat gut, dass jeden Tag die Sonne schien und es mittags richtig warm wurde. Allerdings nur in der Sonne, schon ein paar Schritte weiter im Schatten war man schnell zu dünn angezogen, und abends fielen die Temperaturen auf ein paar Grad über null.
Die Pause war so kurz gewesen, dass es anders als im Sommer nicht so sehr darum ging, physische Grundlagen zu schaffen, das Thema war ein anderes. »Wir müssen besser werden«, sagte Fischer in der Besprechung vor den beiden Spielen gegen die Belgier. »Wichtige Themen: aufdrehen, saubere Ballannahme, saubere Pässe.« Im Grunde war es der gleiche Lehrplan, den er schon einmal zu Saisonbeginn hatte, was aber zugunsten eines einfacheren Fußballs etwas beiseitegelegt worden war. Wobei seine Mannschaft ja besser gespielt hatte, als das nicht mehr von ihr verlangt wurde. Nun sollte es gelingen, noch besser zu spielen, obwohl
es von ihr verlangt wurde. Sie sollten sich etwa, wenn sie den Ball mit dem Rücken zum gegnerischen Tor bekamen, sofort drehen, damit sie das Spiel vor sich hatten. »Dazu müssen drei Meter reichen«, sagte Fischer. Drei Meter, die der Gegner entfernt war, also ungefähr anderthalb Sekunden.
20 Tore hatte seine Mannschaft in der Hinrunde geschossen, nur vier Mannschaften hatten noch seltener getroffen. Die Hälfte davon war nach Eckbällen, Freistößen und Elfmetern gefallen, also nur zehn Tore waren herausgespielt worden. Um die Chancen auf den Klassenerhalt zu steigern, war hier das größte Verbesserungspotenzial.