Hinter einem der Tore auf dem Trainingsplatz befand sich eine Böschung, die dicht mit Sträuchern bewachsen war, manchmal mussten wir die Bälle darin suchen. Nach dem Ende eines Vormittagstrainings sprang Anthony Ujah deshalb mit Anlauf ins Gebüsch und lief die Böschung hoch. »I used to be a hunter«, rief er mir zu, als ich ihm verblüfft dabei zuschaute, wie er sich durchs Gestrüpp pflügte. Als Kind hatte er im Gebüsch um das Feld seines Vaters Buschratten oder Eichhörnchen in den umstehenden Bäumen gejagt, erzählte er mir, als er mit dem Ball in der Hand herunterkam. Das Fleisch der Tiere galt in Nigeria als Spezialität. »I love bushmeat«, sagte Ujah.
Sein Vater arbeitete als Bibliothekar in der örtlichen Fachhochschule, während seine Mutter einen Job in der Steuerbehörde der Lokalverwaltung hatte, aber am Wochenende fuhr die Familie mit dem Auto aus der Stadt, parkte es an der Straße und lief noch 20 Minuten zu einem Feld von der Größe eines Fußballplatzes. Dort baute die Familie Mais an, Maniok und Gemüse. »Ich habe dort gelernt, dass man für das arbeiten muss, was man bekommen will. Fußball ist deshalb für mich eine Form von Landwirtschaft. Ich muss etwas anbauen, muss Fußball spielen, um mir Essen kaufen zu können«, sagte Ujah.
Zwei Tage nach seinem Ausflug ins Gebüsch saßen wir mittags im Hotel zusammen, und ich hörte mir seine Geschichte an. Ujah war als fünftes Kind, er hatte einen Bruder und drei Schwestern, in der Kleinstadt Ugbokolo im Bundesstaat Benue im Südosten des Landes geboren worden. Seine Eltern legten viel Wert darauf, dass die Kinder zur Schule gingen und gut ausgebildet wurden. Sein Vater war ein talentierter Fußballspieler gewesen, doch Mitte der 1970er-Jahre war eine Fußballkarriere in Nigeria noch unsicherer als heute, und als Ujahs Vater ein Stipendium für ein
Studium in England angeboten bekam, hörte er mit dem Fußballspielen auf.
»Es ist in Afrika sehr schwierig, Fußball und Schulausbildung zu verbinden«, sagte Ujah. Es gibt in Ländern wie Nigeria kaum Einrichtungen, in denen Talente gefördert und zugleich Wert auf die Schule gelegt wird. Viele Jungs setzen ganz auf den Traum der Fußballerkarriere, um letztlich ohne Job auf der Straße zu landen. Er hingegen durfte nur so viel Fußball spielen, dass es seine schulischen Leistungen nicht beeinträchtigte. Also kickte er in seiner Schulmannschaft und in einem lokalen Amateurteam. Einmal durfte er in den Ferien bei einem Drittligisten mittrainieren. »Als ich 17 Jahre alt war, hat mir mein Vater ein Jahr gegeben, um mich im Fußball durchzusetzen.«
Also fuhr Ujah in die sechs Autostunden entfernte Hauptstadt zu einer Talentsichtung des FC
Abuja, einem Klub aus der nigerianischen Premier League. Er wohnte bei einem entfernten Verwandten. »Sein Apartment war nicht einmal groß genug für eine Person, und trotzdem hat er mich aufgenommen.« 300 Spieler waren gekommen, nach einer Woche blieben nur noch drei übrig, einer von ihnen Anthony Ujah. Plötzlich stand der Youngster mit Spielern auf dem Platz, die er aus dem Fernsehen kannte. Der Trainer kam nach ein paar Tagen auf ihn zu und fragte, von welchem Klub er kommen würde, denn der FC
Abuja war gerade erst aufgestiegen und wollte sich mit Spielern verstärken, die schon Profierfahrung hatten. »Erst wollte ich ihm irgendeinen Vereinsnamen nennen, weil ich Angst hatte, dass er mich nicht ernst nimmt. Aber letztlich war ich ehrlich und habe gesagt, dass ich bislang nur in der Mannschaft von meiner Schule und in Amateurteams gespielt hatte.«
Nach einem halben Jahr beim Aufsteiger wechselte er zu einem etablierten Erstligisten in einen anderen Bundesstaat, den Warri Wolves. Die Mannschaft qualifizierte sich für das afrikanische Pendant der Europa League, und dort fiel Ujah einem Scout auf, der ihm ein Probetraining in Norwegen verschaffte. Mit 19 Jahren, keine zwei Jahre nach seinem Ausflug zum Probetraining nach Abuja, war er Fußballprofi in Europa
.
Es gab allerdings ein Problem, denn eigentlich fehlte ihm die fußballerische Grundausbildung. »Schon bei meinen Klubs in Nigeria sind sie davon ausgegangen, dass die Spieler schon alles konnten. Deshalb habe ich bis heute Defizite in der Technik.« Es war nicht zu übersehen, dass ihm hin und wieder der Ball zu weit versprang, wenn er ihn annehmen wollte. Immer wieder musste er seine Dynamik und Beweglichkeit dazu einsetzen, technische Fehler auszubügeln. Aber das hatte nicht verhindert, dass Ujah sich in Europa durchgesetzt hatte. Nach anderthalb Jahren bei Lilleström wechselte er zum 1. FSV
Mainz 05. Es folgten drei sehr erfolgreiche Jahre beim 1. FC
Köln und ein gutes Jahr in Bremen, bevor er für anderthalb Jahre nach China ging und für zwei Jahre nach Mainz zurückkehrte. Nach dem Aufstieg von Union war er nach Berlin gewechselt, im Laufe der Saison wurde er 29 Jahre alt.
»Ich bin stolz darauf, in einer großen Liga wie der Bundesliga zu spielen. Jeden Morgen wache ich auf und denke, dass es ein Traum ist.« In seinen acht Jahren in Deutschland war er heimisch geworden und liebte vor allem Köln, wo er ein Haus hat. Inzwischen hatte er den Einbürgerungstest und den Sprachtest bestanden und wartete darauf, die deutsche Staatsbürgerschaft zu bekommen. »Meine Sicht auf das Leben hat sich in Deutschland sehr verändert, und ich bin stolz darauf, Deutscher zu werden.«
Ujah hatte diese bemerkenswert raumgreifende schlenkernde Art, zu gehen und zu laufen, er drehte dabei den Oberkörper weit hin und her. Das sah lustig aus, wie er überhaupt eine eher jungenhafte Ausstrahlung hatte. Das wurde dadurch unterstrichen, dass er fast immer Sportswear trug. Er verfügte über eine bemerkenswerte Sammlung von Trainingsanzügen, selten sah man ihn zweimal im selben. Das stand im Kontrast dazu, wie ernsthaft und erwachsen er über seine Rolle als im Ausland erfolgreicher Spieler redete.
Für deutsche Verhältnisse war er ein wohlhabender junger Mann, aber in seinem Heimatland war er schlichtweg reich. »Es ist in der afrikanischen Kultur üblich, nicht nur für die Familie, sondern auch für Freunde und Nachbarn zu sorgen, wenn man dazu
in der Lage ist. Es ist eine sehr lange Liste, und auch ich habe diese Verantwortlichkeit.« Ujah war schon früh klar geworden, dass er damit anders umgehen musste als viele andere afrikanische Profis. Diese finanzierten das Leben einer Fülle von Menschen, doch wenn ihre Karriere vorbei war, war das nicht mehr möglich. »Wenn man Geld verteilt, wird man nie ein Ende finden. Aber wenn man ihnen eine Gelegenheit zu arbeiten gibt, habe ich weniger Verantwortung.«
Bereits sein erstes selbst verdientes Geld beim FC
Abuja hatte er in ein Stück Land investiert. »Danach war ich zwar gleich wieder pleite, aber es fühlte sich gut an, als ich zum ersten Mal zu meinem Grundstück gefahren bin.« Seine wachsenden Einkünfte investierte er im Laufe der Jahre in eine Vielzahl von Unternehmen. Er baute eine große Tankstelle, an die ein kleines Einkaufszentrum angeschlossen war, und legte sich eine kleine Flotte eigener Tankwagen zu. Er ließ eine Halle mit 1000 Plätzen errichten, die man für große Hochzeiten und Familienfeiern, Gottesdienste oder Konferenzen mieten konnte. Er baute Mietshäuser und Wohnanlagen, außerdem gründete er die Tony Ujah Foundation, eine Stiftung.
Dass sich diese Stiftung vor allem um Witwen kümmerte, hatte nicht nur damit zu tun, dass es für sie in Nigeria wenig staatliche Unterstützung gab. Als Ujah einst in den Ferien beim Drittligisten trainierte, hatte er bei einem Schulfreund gewohnt, der keinen Vater mehr hatte. »Da habe ich gesehen, wie schwer es für alleinerziehende Frauen ist. Sie hat mich damals aber trotzdem bei sich aufgenommen. Obwohl das Essen für fünf Kinder kaum reichte, saß ich als sechstes Kind mit am Tisch.« Als er später zu Geld gekommen war, revanchierte er sich. Er richtete der Mutter des Schulfreundes das Haus ein und schenkte ihm eine Abfüllanlage für Mineralwasser, sodass er ein eigenes Unternehmen daraus machen konnte. Dessen kleinem Bruder bezahlte er Schule und Studium. Der wurde Architekt und baute Häuser für Ujah.
»Was mich als Fußballspieler glücklich macht, sind nicht Rolex oder Lamborghini, sondern dass ich das Leben von Menschen
verändern kann. Sie bekommen kein Auto von mir, sondern können durch mich ihre Universität abschließen oder einen Doktortitel machen. Das Auto ist nach fünf Jahren verschlissen, aber die Ausbildung verliert keinen Wert, und davon können sie sich 20 Autos kaufen.« Auch die Ausbildung seiner Geschwister hatte er unterstützt. Zwei seiner drei Schwestern studierten in England, sein Bruder machte sogar den Doktortitel.
Insgesamt 50 Menschen ernährten ihre Familien inzwischen durch die Arbeit bei Ujahs Unternehmen oder von Unternehmen, deren Gründung er unterstützt hatte. Wenn er in der Sommer- oder Winterpause zurück nach Nigeria kam, warteten viele Menschen vor seiner Tür. »Die meisten wollen Geld, aber viele wissen inzwischen auch, dass ich sie unterstütze, wenn sie selber aktiv werden wollen.« Das alles bedeutete eine große Verantwortung für einen letztlich erst 29-Jährigen, auch wenn seine Familie ihn dabei unterstützt. Der Stiftung sitzt seine Mutter vor, die Tankstelle führt sein Vater, der inzwischen in Rente ist. Seine große Schwester kümmert sich um die Eventhalle.
Ujah sprach von einem »Happy Load«, einer Belastung, die froh macht. Aber es blieb eine Belastung. Wenn er mit dem Training bei Union fertig war, galt es, lange To-do-Listen abzuarbeiten. »Viele Spieler wissen nicht, was sie nach dem Ende ihrer Karriere machen sollen, bei mir ist das relativ klar.« Von den bestehenden Aktivitäten abgesehen, will Ujah sich um junge afrikanische Spieler in Europa kümmern. »Ich will unbedingt, dass sie ihr Potenzial richtig ausschöpfen. Das Talent ist da, das Problem besteht im Kopf. Sie leben zwar hier, aber sind mit ihren Gedanken zu Hause. Außerdem können viele Afrikaner nicht mit Geld umgehen, gerade im Fußball. Das macht sie so durcheinander, dass sie sich nicht mehr auf Fußball konzentrieren können.« Damit war er wieder beim Problem der mangelhaften Ausbildung in seinem Land. Einige Profis aus Afrika können nicht einmal richtig lesen und schreiben, oder es fällt ihnen schwer, sich zu artikulieren, weil selbst ihr Englisch nur rudimentär ist und sie nur eine der vielen lokalen Sprachen beherrschen
.
Anthony Ujahs Bruder Paul war als Politiker zur Wahl fürs Parlament des Bundesstaats angetreten. Nachdem er nicht gewählt worden war, hatte die Familie ihn bekniet, sich nicht weiter um Politik zu kümmern, weil sie in Nigeria nicht ungefährlich war. »Aber er ist ganz schön stur«, sagte Ujah. Ich fragte ihn, wie es für ihn war, dass seine Landsleute aus Nigeria weggingen, um die lebensgefährliche Reise durch die Sahara und über das Mittelmeer zu versuchen. »Es ist für einen Afrikaner schlimm, das zu sehen, darüber zu lesen und zu sprechen. Wenn im Fernsehen Nachrichten über die Menschen kommen, die auf dem Meer ertrinken, mache ich aus. Es passiert immer wieder, immer wieder und immer wieder. Aber die einzige Möglichkeit, die ich habe, um mein Gefühl zu verbessern, ist, da zu helfen, wo ich helfen kann. Dann weiß ich, dass ich der Grund bin, warum sie nicht aufs Boot gehen.« Während wir miteinander sprachen, hatte am anderen Ende des Raums ein Interview mit Urs Fischer begonnen. Er wurde über seine Bilanz der Hinrunde befragt, doch zumindest in diesem Moment fühlte sich das ganz weit weg an.