Wie ich zur Legende wurde
Ich schaute Michael Gspurning irritiert an. »Warum soll ich singen?«
»Jeder, der zur Mannschaft gehört, muss zum Einstand singen. Und weil du im Sommertrainingslager nicht dabei warst, musst du das halt nachholen.«
»Aber so richtig gehöre ich nicht dazu. Und angestellt bin ich schon gar nicht«, sagte ich.
»Natürlich gehörst du dazu«, sagte er.
Das war sehr nett, aber ich dachte, dass sich das Thema schon verlieren würde. Schließlich war ich der Einzige in der Reisegruppe »Wintertrainingslager«, der nicht zum Erfolg des Ganzen beitrug. Bestenfalls stand ich ihm nicht im Weg. Außerdem war es jetzt nicht so, dass die anderen am Tisch Gspurning gleich begeistert unterstützt hätten.
Die Tage gingen dahin, und von der Singerei war keine Rede mehr, bis Laura Tiedekens am Frühstückstisch sichtlich aufgeregt erzählte, dass sie abends singen müsse. Die Mittzwanzigerin arbeitete seit Kurzem in der Medienabteilung und malte sich schon morgens aus, wie schlimm es für sie abends werden würde, auf einem Stuhl zu stehen und vor einer Gruppe von Jungs in ihrem Alter zu singen. Zumal Sebastian Polter schon früh an der Kaffeemaschine mit einem Haifischlächeln zu ihr sagte: »Ich freue mich schon darauf, wenn du singst.«
Als ich nachmittags am Kraftraum vorbeikam, trainierte dort gerade Grischa Prömel. »Christoph, du musst heute Abend auch singen«, sagte er. Ich sagte wieder mein Sprüchlein auf, und Prömel schaute enttäuscht.
Als das Abendessen vorbei war, stand Christopher Trimmel auf, ging durch den riesengroßen, leicht hallenartigen Speiseraum und schloss feierlich die große Holztür. Jetzt sollte es wohl losgehen!
Als Erster trat Fisnik Asllani nach vorne, ein Nachwuchsstürmer, der mitgereist war, um sich an den Männerfußball zu gewöhnen. Ein Stuhl mit rotem Polstersitz und hoher Rückenlehne wurde in die Mitte des Raums geschoben. Vorher musste aber noch technischer Kram erledigt werden. Ich dachte, der Gesangsvortrag würde bedeuten, dass man halt singt. Aber die Sache war komplizierter, Fisnik hielt sein Smartphone in der Hand, und ein kleiner Lautsprecher wurde herangebracht. Er koppelte beides, stieg auf den Stuhl, stellte sich vor und sagte: »Ich singe ein albanisches Lied.« Dann erklang aus der Box der Song, den er sang, den Text dazu las er von seinem Smartphone. So ging das also!
Fisnik sang nicht sonderlich toll, aber es war auch nicht schlimm, zumal er von seinem Publikum freundlich behandelt wurde. Bei solchen Aufnahmeritualen geht es im Prinzip darum, sich vor den anderen zum Deppen zu machen. Aber die Jungs waren nicht grausam zu dem armen Youngster auf dem Stuhl. Es gab nicht nur keine gehässigen Zwischenrufe, sie versuchten sogar mitzuklatschen. Selbst als der junge Torwart Leo Oppermann, ebenfalls ein Spieler aus dem Nachwuchs, einen Song von Seed gesanglich in die Knie zwang, wurde er nicht verspottet. Im Gegenteil, auch ihm halfen sie über die Peinlichkeit hinweg. Der Physiotherapeut Robert Kemna hingegen konnte seinen Song von Justin Bieber richtig gut singen. Es hieß, dass er ab und zu als Sänger auftreten würde. Er bekam rauschenden Beifall, aber zugleich war es leicht enttäuschend, denn zum Deppen machte er sich so nicht. Danach sangen eine Mitarbeiterin und ein Mitarbeiter der Medienabteilung kompetent ein Duett. Und dann nahm die Sache eine unerwartete Wendung. Michael Gspurning rief durch den Raum: »Jetzt muss aber der Biermann singen.« Ich winkte ab und setzte darauf, dass die Jungs lieber die junge Laura als den alten Christoph sehen wollten. Aber da hatte ich mich getäuscht, am Spielertisch formierten sich die ersten »Christoph, Christoph«-Sprechchöre. Ab jetzt wäre es blöd gewesen zu kneifen.
Eine der Freuden, wenn man älter wird, ist es, dass einem weniger peinlich ist. Trotzdem war ich nicht begeistert davon, in
meinem Union-Poloshirt, meiner Union-Ausgehhose und den verdammten himbeerroten Turnschuhen auf einem Stuhl zu stehen und zu singen. Dass ich nicht singen kann, war noch das geringste Problem, aber ich kannte weder Lieder auswendig, noch war ich auf diese ganze Playback-plus-Text-auf-dem-Smartphone-Situation vorbereitet. Jetzt aber minutenlang nach etwas zu suchen, wäre ein echter Downer gewesen. Also musste was Simples mit wenig Text her, und mir fielen zum Glück die Toten Hosen ein.
Vor vielen Jahren hatten sie mal ein sehr erfolgreiches Sauflied mit einem sehr übersichtlichen Text gemacht, den ich nicht mal nachschauen musste. Das war die Rettung!
Also stieg ich auf den Stuhl und fing an:
Eisgekühlter Bommerlunder
Bommerlunder, eisgekühlt
Eisgekühlter Bommerlunder
Bommerlunder, eisgekühlt
Ich hatte keine Ahnung, ob die Jungs das noch kannten, immerhin war das Lied älter als die meisten von ihnen. Aber offensichtlich gehörte es auch zu Beginn der Zwanzigerjahre des neuen Jahrhunderts immer noch zum Partybestand, war ein Ballermann-Klassiker oder was auch immer. Jedenfalls machten sie fast sofort mit.
Und dazu:
Ein belegtes Brot mit Schinken (Schinken!)
Ein belegtes Brot mit Ei (Ei!)
Das sind zwei belegte Brote
Eins mit Schinken und eins mit Ei
Der Witz des Liedes ist es, den übersichtlichen Text immer wieder von vorne und dabei immer schneller zu singen. Und weil alle mitsangen und mitklatschten, wurde ich immer lauter und immer schneller und wippte dabei mit. Wobei dieses Wippen eher ein In-die-Knie-Gehen war, weil ich aufpassen musste, nicht vom Stuhl
zu fallen. Inzwischen machte mir die Sache sogar Spaß, vielleicht war ich auch einfach nur unheimlich erleichtert. Mein Publikum hatte sich ihre weißen Stoffservietten geschnappt und wirbelte sie herum. Also grölte ich immer schneller vor mich hin, bis ich vom Stuhl sprang und den unverdienten Applaus genoss.
Als ich mich erleichtert wieder an den Tisch setzte, grinste Grischa Prömel mich an und zeigte mir den hochgereckten Daumen. Laura sang noch »Country Roads«, und nun war ich in Feierlaune. Von mir aus hätte es noch weitergehen können mit dem Singen, aber leider war die 20-minütige Miniaufregung vorbei. Beim Verlassen des Raums gaben mir einige Spieler Fistbumps, und Christian Gentner schlenderte summend an mir vorbei: »Eisgekühlter Bommerlunder«. Offensichtlich hatte ich was richtig gemacht.
Zwei Tage später stand der Fanabend an, von dem mir einige Spieler schon Wochen vorher erzählt hatten, ohne dass ich mir letztlich eine genaue Vorstellung hatte machen können, wie so etwas aussah. Für sie stand dieser Abend aber beispielhaft für die Nähe des Klubs zu ihren Fans. Wir fuhren also am Samstagabend in einem Bus von unserer Hotelanlage Richtung Meer hinunter, bogen auf die Nationalstraße in Richtung Alicante, kurvten durch ein paar Kreisverkehre, bis der spanische Fahrer in eine Seitenstraße fuhr, drehte und parkte. Nur, wo waren wir jetzt?
Ein Restaurant war so wenig zu sehen wie Union-Fans. An der Ecke war ein Fitnessstudio, gegenüber eine Immobilienagentur. Also lungerten wir herum, während der Verkehr der N-322 an uns vorbeirauschte und hektische Telefonate geführt wurden. Es war eine klassische Union-unterwegs-Situation. Nach ein paar Minuten setzte sich der Tross aus Spielern, Trainern und Betreuern in Bewegung und trottete entlang der Straße vorbei an einem indischen Restaurant und durch Souvenirshops. »Ah, schau, da gibt es Boomerangs, typische Mitbringsel aus Spanien«, sagte Markus Hoffmann im Vorbeigehen. Nach fünf Minuten kamen wir endlich an dem Restaurant an, wo schon rund 250 Unioner auf uns warteten, gingen durch ein Treppenhaus in die erste Etage und wurden direkt verlost
.
In einem durchsichtigen Plastikeimer lagen nämlich zusammengefaltete Zettel mit Nummern, wir Neuankömmlinge mussten einen ziehen und uns an den Tisch setzen, dessen Nummer wir gezogen hatten. Ich stand als Letzter unschlüssig rum, es waren aber noch drei Nummern im Eimer, also wurde auch ich verlost.
»So, ich bin Christoph, ich bin die Niete in der Lotterie«, stellte ich mich an meinem Tisch vor. Ich erklärte den Umsitzenden, was ich machte, was aber niemanden interessierte. Mir schräg gegenüber saß Jungprofi Julius Kade, mit dem meine Tischgenossen auch nicht so richtig was anfangen konnten. Also bestaunte ich die roten und weißen Luftballons und Luftschlangen und kaute auf den frittierten Tintenfischringen herum.
Weil die Frau neben mir anfangs nicht mitbekommen hatte, wer ich war, erklärte ich es ihr noch einmal. Aber so richtig mitgerissen wirkte sie weder davon, noch, als ich ein paar Dinge erzählte, die ich mit der Mannschaft erlebt hatte, was ich erstaunlich fand. Immerhin verbrachten diese Unioner einen Teil ihres Jahresurlaubs hier, schauten bei den Trainingseinheiten zu und den Testspielen, um ihre Spieler zu sehen. Oder nicht? »Ich muss dir mal was sagen, das musst du aber für dich behalten: Mein Mann und ich sind Schalker«, gestand sie. Mit ihrem Mann, der neben ihr saß, war sie eigentlich ins nur eine halbe Stunde entfernte Trainingslager von Schalke 04 gefahren. Sie kamen aber aus Berlin, sogar aus Köpenick. »Ich bin 1978 zum ersten Mal zu Union gegangen«, erzählte ihr Mann, und früher war er regelmäßig zu Auswärtsspielen mitgereist. Als Union nach der Wende aber durchs Mittelmaß dümpelte, waren sie an Schalke geraten und dort hängen geblieben. Inzwischen fuhren sie fast nur noch zu Schalker Auswärtsspielen, auch international, was auf eine Weise, die ich nicht richtig verstand, mit ihrer Begeisterung für Wohnmobile zusammenhing. In 15 Ländern waren sie mit Schalke schon gewesen, in 83 Städten. Die Heimspiele hingegen ließen sie inzwischen fast komplett aus.
Sporadisch gingen die beiden aber auch zu Union. Sie hatte sogar ein Union-Shirt an, genauso wie ihr Sohn, der am anderen Ende
des Tisches saß, aber auch Schalke-Fan war. Außerdem kannten sie viele Unioner, Freunde hatten sie zum Fanabend mitgebracht. (Er kostete 40 Euro Eintritt, inklusive Essen und Getränke, dabei wurde offensichtlich die Religionszugehörigkeit nicht abgefragt.) Andererseits hatte sie ihr Vergnügen an Auswärtsfahrten nicht nur zum Pokalspiel von Union in Halberstadt geführt, sondern auch zum ersten Auswärtsspiel in Augsburg.
Nach und nach löste sich die strenge Sitzordnung auf, und ich quatschte mit ein paar Fans vor der Tür. Sebastian Polter spielte Billard mit einigen jungen Ultras, Neven Subotic schaute zu und machte beiläufig Stretchingübungen. Ihm waren mal wieder die Stühle zu unbequem. Nach inzwischen fast drei Stunden, es lief laute Musik, versuchte ich dem Holländer Sheraldo Becker das Konzept des Kölner Karnevals zu erklären. Der Außenbahnspieler staunte mich so freundlich an, dass ich mir bis heute nicht sicher bin, ob er verstand, was ich ihm da erzählte. Becker mochte die Fanveranstaltung, und auch Marius Bülter gefiel es: »Aber jetzt werden die Leute langsam betrunken, das macht es etwas anstrengend.« Inzwischen erklärte ich Becker, dass ich den Deutsch-Rap nicht mochte, der oft in der Kabine lief. Wieder schaute er mich freundlich ungläubig an und fragte, was ich denn gerne hören würde.
Bevor ich ihm das genauer erklären konnte, hatte sich Robert Andrich das Mikrofon geschnappt, und obwohl ich nicht richtig mitbekam, was er sagte, war mir schnell klar, worauf das hinauslief: Ich sollte noch mal »Eisgekühlter Bommerlunder« anstimmen. Also ging ich nach vorne, wo eine kleine Bühne stand, und legte direkt los. Anders als bei der Mannschaft war mir klar, dass ich hier problemlos Mitsänger finden würde, und so war es auch. 250 teilweise schon ordentlich betrunkene Fußballfans und die Mannschaft stimmten sofort mit ein, selbst Manager Oliver Ruhnert. Es störte auch niemanden, dass ich es schon leicht angeschickert wahrhaftig schaffte, mich im Text zu verhaspeln, was bei dessen Übersichtlichkeit eine echte Kunst war. Der Beifall war trotzdem tosend, fleißig wurde ich abgeklatscht und schulterbeklopft
.
Zurück am Tisch, wo inzwischen Andrich saß, sagte er zu mir: »Ich glaube, dass dir das echt Spaß macht. Du hast nicht gezögert, nach vorne zu gehen.« Er schaute mich dabei an, als hätte er gerade mein dunkles Geheimnis entdeckt. Lauerte in mir ein Animateur, der plötzlich freigelassen worden war? Sollte ich eine Karriere am Ballermann starten? Dann brauchte ich allerdings noch ein zweites Lied, mit zweieinhalb Minuten dauernden Auftritten würde ich meinen Lebensunterhalt kaum bestreiten können.
So langsam näherte sich der Abend seinem Ende, um kurz nach zehn wurde zum Aufbruch geblasen. Der Busfahrer hatte das Etablissement inzwischen auch gefunden und wartete an der Ecke auf uns. Als ich neben Rafał Gikiewicz ging, wandte er sich mir zu, schüttelte langsam den Kopf und sagte: »Du bist Legende.« Und Michael Gspurning, der ursprüngliche Initiator des ganzen Singens, kniete auf dem Bürgersteig vor mir nieder und verneigte sich mit erhobenen Händen mehrfach. Meine »Kunst« schien extrem Torwart-kompatibel zu sein.
»So, jetzt ist aber erst mal Schluss mit dem Gesinge, das nächste Mal gibt’s das bei der Nichtabstiegsfeier«, sagte ich zu Andrich. »Da mache ich mit«, sagte er, und wir schlugen ein.