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Der Himmel als Puzzle
Martin Krüger saß nachdenklich im Sessel in seinem Hotelzimmer im Trainingslager. Übers Bett waren Brustgurte und schwarz glänzende GPS -Sender verstreut, mit denen er den Herzschlag der Spieler beim Training maß. Das Laptop war aufgeklappt, mit dem er bei jeder Trainingseinheit an der Seitenlinie stand, nicht nur hier in Spanien. Am Vortag war Joshua Mees unter Schmerzen vom Platz geführt worden, alleine hätte er nicht mehr gehen können. Inzwischen war er bereits zurück nach Deutschland geflogen, und die Befürchtungen hatten sich nach der Untersuchung im MRT bestätigt. Mees hatte sich einen Muskelbündelriss zugezogen, es war also nicht nur eine einzelne Muskelfaser gerissen, sondern gleich mehrere. Das tat nicht nur weh, er würde auch wochenlang fehlen und im schlechtesten Fall die komplette Rückrunde nicht mehr spielen können.
»Seine Verletzung nehme ich auf meine Kappe«, sagte Krüger zu meinem Erstaunen, denn als er den Fall gegen sich eröffnete, war die Beweislage nicht eindeutig. Krüger war als Athletiktrainer für die Belastungssteuerung der Spieler verantwortlich, also dafür, dass sie genug trainierten, um die kompletten 90 Minuten eines Bundesligaspiels auf höchstem Niveau bestreiten zu können. Zugleich durften sie aber nicht so stark belastet werden, dass sie sich verletzten. Was also war bei Mees falschgelaufen?
Es war auf zwei Plätzen gleichzeitig trainiert und die Spieler waren dazu in Gruppen aufgeteilt worden. Einige von ihnen machten bei Krüger ein hochintensives Lauftraining, an dessen Ende Dauerläufer Andrich zufrieden verkündete: »Ah, das hat richtig gutgetan!« Hoffmann und Bönig hatten nebenan taktische Übungen gemacht, und Fischer leitete auf dem anderen Platz eine halbe Stunde lang ein Schusstraining der Offensivspieler an. Dabei mussten sie erst an Mannequins und Stangen vorbeiziehen, dem Torschuss ging also ein kurzer Sprint voran. Joshua Mees hatte zu dieser Gruppe gehört.
»Ich habe nicht gefragt, wie die Übung genau aussieht. Wenn Josh dabei ist, müssen wir uns eigentlich immer genauer besprechen«, sagte Krüger. Mees hatte bereits in der Vergangenheit immer mal wieder Muskelverletzungen gehabt, meistens nach Torschüssen, denen Sprints vorangingen. Das war schwer zu erklären, denn Mees absolvierte ein abgestimmtes Kraftprogramm, ließ sich regelmäßig von den Physios pflegen und achtete auf seine Ernährung. Er hatte sich sogar Shakes besorgt, die etwaige Defizite maßgeschneidert ausgleichen sollten. Aber irgendwas sorgte offensichtlich dafür, dass er trotzdem mehr von Verletzungen bedroht war als andere.
Wenn ein Spieler hingegen im Rasen hängen blieb und sich das Knie verdrehte, war das genauso ein Unfall, wie wenn er einen Tritt oder Schlag abbekam. Muskelverletzungen hingegen unterlagen dem Verdacht, vermeidbar zu sein, durch passende Belastungssteuerung, gute Pflege und richtige Ernährung. Auch deshalb absolvierte Krüger jeden zweiten Tag vor dem Training einen Erholungstest mit allen Spielern, nicht nur hier im Trainingslager. Sie legten sich dazu auf Gymnastikmatten und bewegten sich zwei Minuten lang nicht. In dieser Zeit wurde über Brustgurte und Sensoren ihre Herzfrequenzvariabilität gemessen, der Abstand zwischen zwei Kontraktionen der Herzkammer. Krüger konnte das Ergebnis auf seinem Laptop ablesen. Es gab ihm Aufschluss darüber, wie erholt ein Spieler war.
Im Trainingslager hatte der Wert gewaltig variiert – zwischen sieben und fast 100 Prozent. Doch Krüger verglich nicht die Spieler miteinander, einige erholten sich generell besser, andere kamen selten auf mehr als mittlere Erholungswerte. Wichtiger war die Abweichung von vorherigen Messungen. Wenn ein Spieler, der sonst bei 95 Prozent lag, plötzlich nur noch 50 Prozent erreichte, merkte Krüger auf.
Der Grad der Erholung hatte nicht nur mit der Belastung durchs Training zu tun. Fiel der Wert, konnte auch eine Infektion im Anzug sein, oder persönliche Probleme waren der Grund. Vielleicht hatte der Spieler schlecht geschlafen, weil er ein kleines Kind hatte, das nachts schrie. Vielleicht hatte er Ärger mit seiner Frau, Beziehungsstress mit seiner Freundin oder ein Elternteil oder Freund war schwer krank. Oder ihn quälte, dass er gerade nur Reservist war oder nicht einmal im Kader stand. Es gab viele Gründe für eine schlechte Erholung. Im Trainingslager spielte bei einigen Spielern auch die Abwesenheit von zu Hause eine Rolle. »Es gibt Heimscheißer, die es stresst, nicht im eigenen Bett zu liegen«, sagte Krüger. Auch die sportliche Situation spielte eine Rolle. »Die Ergebnisse des Erholungstests waren nie so gut wie nach dem Spiel gegen Freiburg«, sagte Krüger, also dem wichtigen Sieg am siebten Spieltag, nachdem vorher vier Spiele verloren gegangen waren.
Diese Messung verwandelte den Spieler nicht gleich in einen gläsernen Athleten. Er mochte einen schlechten Wert haben, aber sich trotzdem gut fühlen oder umgekehrt. »Aber wenn wir sie fragen, trauen sie sich oft nicht, etwas zu sagen«, erklärte mir Krüger. Gelegentlich fragte Fischer in großer Runde: »Na, wie geht’s, Jungs, seid ihr müde?« Meist bekam er keine Antwort. Vermutlich hatten die Spieler in der Vergangenheit zu oft mit Trainerteams zu tun gehabt, die ihre Müdigkeit nicht ernst nahmen oder sie gar gegen sie auslegten. Bei Fischer war das anders. »Die Spieler wissen, dass sie nicht aussortiert werden, wenn sie sich müde melden«, sagte Krüger. Sie wurden aber geschont. So führte der Belastungstest dazu, dass ein Spieler mal einen Tag nicht mit auf den Trainingsplatz ging, sondern locker lief, im Kraftraum auf dem Fahrrad fuhr oder ein paar Gewichte stemmte.
Wie viele Athletiktrainer war Krüger ein Fitnessfreak. Bei Auswärtsspielen verschwand er in die nächstgelegene Niederlassung einer bundesweiten Kette von Fitnessstudios, wo er via einer App an Wettkämpfen teilnehmen konnte, von denen er zufrieden erschöpft zurückkehrte. Im eigenen Stadion machte er an Nachmittagen, wenn die meisten Spieler weg waren, manchmal im Kraftraum noch zu lauter Musik Klimmzüge, stemmte Gewichte oder schwang Kettlebells. Wenn noch Spieler da waren, zeigten sie ihm hinter seinem Rücken den Vogel oder machten andere Gesten. Krüger wusste das und hatte Spaß daran.
Er schien vor lauter Kraft aus seinem Hemd zu platzen, und wenn er durch die Gänge ging, schob er seinen gewaltigen Brustkorb demonstrativ vor sich her. Sein Profilname bei Instagram war iron_martink. Sein Ton war oft rotzig, wenn er von »unseren Schnecken im Mittelfeld« sprach, weil die Mittelfeldspieler halt keine Sprinter waren. Wenn ich mal ein paar Tage nicht da gewesen war, musste ich mir fast immer einen Kommentar anhören: »Ah, lässt du dich herab, hier mal wieder vorbeizukommen?« Dabei schaute er mich aus dem Augenwinkel an und grinste. Die demonstrative Ruppigkeit täuschte schlecht darüber hinweg, dass Krüger mehr Harmoniemensch als der Supermacho war, den er gerne vorführte.
Er war 40 Jahre alt und in den letzten Jahren der DDR als Leistungsschwimmer auf einer Sportschule gewesen. Er hatte mit dem Schwimmen aufgehört, weil ihm der Trainingsaufwand zu groß war, um bei der nationalen Meisterschaft letztlich nur Siebter oder Neunter zu werden. Er probierte Speerwerfen aus, Gewichtheben und Fußball. »Ich kann alles, aber nichts richtig«, sagte er. Er hatte eine Ausbildung als Steuerberater gemacht, sie beendet und beschlossen, »dass ich nicht die kommenden 40 Jahre im Büro sitzen wollte«. Also studierte er Sportwissenschaft, arbeitete parallel im Nachwuchs des Basketballklubs Alba Berlin. Er ging von dort zum Olympiastützpunkt Berlin, den Fußballerinnen von Turbine Potsdam und zurück zu Alba. Er wurde Cheftrainer bei zwei Teams im Amateurfußball und kam 2015 als Athletiktrainer ins Nachwuchsleistungszentrum von Union. Ein Jahr später war er bei den Profis.
Er arbeitete nun in der fünften Saison bei dem Klub und war beim Thema Fitness äußerst passioniert. In einer geschlossenen Facebook-Gruppe stritt er sich mit Kollegen über richtige Trainingssteuerung. Wenn er davon erzählte, hatte man den Eindruck, dass es bei diesen Diskussionen ziemlich hoch herging. Es gab Kollegen, mit denen er regelrechte Fehden führte.
Erstaunlich für einen Sportfreak war, dass Krüger eine Affinität zu Zahlen hatte, weshalb das mit dem Steuerbüro gar keine so absurde Idee gewesen war. Krüger studierte stets ausführlich die Spieldaten, die auswiesen, wie viel seine Jungs während einer Partie gelaufen und in unterschiedlichem Tempo gesprintet waren. Er knobelte gerne daran, wie die Belastung im Training gestaltet werden musste, denn es war ein wichtiger Unterschied, ob eine Belastung drei Minuten dauerte oder vier. Es war zu beachten, ob die Spieler vier gegen vier spielten oder sechs gegen sechs, weil sie im zweiten Fall weniger in Bewegung waren. Und es war mehr als ein Detail, ob die Pause zwischen zwei Übungen nun 60 oder 90 Sekunden dauerte.
Insofern war seine Selbstkritik, nachdem sich Joshua Mees verletzt hatte, durchaus ernst zu nehmen. Innenverteidiger machten im Spiel vielleicht zehn Sprints über insgesamt 200 Meter, Außenbahnspieler oder Mittelstürmer Sebastian Andersson kamen auf die dreifache Zahl, also mussten sie unterschiedlich vorbereitet sein. Es gab Spieler, die sich im Training eher schonten, oder Jungs wie Christopher Lenz, die noch in der banalsten Übung bis an die Leistungsgrenze gingen. Wenn Krüger bei Übungen im Training das Zeichen für den nächsten Durchgang gab, schaute er auf sein Laptop und wartete darauf, dass alle wieder im grünen Bereich waren, sich ihr Herzschlag also wieder ausreichend beruhigt hatte. All diese Daten waren zu berücksichtigen wie auch der subjektive Eindruck, seine Erfahrung. Krüger hatte also ein kompliziertes Puzzle zusammenzusetzen.
»Es ist, wie das Puzzle eines Himmels zusammenzusetzen«, sagte er, und ich stellte mir all diese blauen Puzzleteile vor. Dass er so ausdauernd versuchte, die Teile richtig zusammenzusetzen, lag auch daran, dass er von Urs Fischer eng in die Trainingsplanung eingebunden wurde. »Bei manchen Trainern ist der Athletikcoach nur eine Art Aufwärmtrainer, das ist bei ihm nicht so«, sagte Krüger. Er bekam Verantwortung übertragen und übernahm sie auch. Nach der Rückkehr aus Spanien setzte er durch, dass er ein System zum Monitoring aller Laufwerte im Training bekam. Wunderbar, nun gab es noch mehr Zahlen. Das Puzzle des Himmels hatte noch mehr Teile.