Dass ich mich als Sänger vor der Mannschaft zum Deppen gemacht hatte, hatte eine erstaunliche Folge: Ich hatte nun einen Spitznamen. Beziehungsweise gleich mehrere. Robert Andrich nannte mich unter dem Eindruck meiner Performance im Trainingslager erst »Bommerlunder« und dann »Eisgekühlter«, was ich einen ziemlich coolen Spitznamen fand.
Prömel hingegen fragte mich, höflich, wie er war, ob ich es in Ordnung fände, wenn ich »Schleicher« genannt würde, und ob ich sonst Spitznamen hätte. Hatte ich nicht, hatte ich noch nie gehabt und mich auch immer strikt dagegen verwehrt, aber nun fand ich es in Ordnung. Ich sagte Prömel, dass ich mit dem »Schleicher« gut leben könne, und anscheinend nannte nicht nur er mich so, denn etwas später begrüßte Felix Kroos mich als »Schleichi«.
Rafał Gikiewicz, immer ein Mann für den Sonderweg, hatte schon früher angefangen, mich »Picasso« zu nennen, schließlich schrieb ich ein Buch … Eher zufällig erfuhr ich davon, dass auch die Trainer mir einen Spitznamen oder eher eine Verballhornung meines Namens verpasst hatten. Sie nannten mich »Bierbaum« und wohl auch mal »Bierbauch«, aber nie, wenn ich dabei war. Markus Hoffmann erklärte mir, dass sie so was häufiger machten, weil sie auf diese Weise über Leute reden könnten, ohne dass Außenstehende verstünden, um wenn es ging. Das erschien mir leicht abwegig, der Weg von »Biermann« zu »Bierbaum« dauert keine Tagesreise, aber er ließ sich nicht von dieser Argumentation abbringen.
Letztlich war diese Fußballmannschaft, wie die meisten engen Gemeinschaften, eine große Fabrikationsstätte von Namensmanipulationen. Besonders beliebt war das Prinzip Kosename mit »i«- Endung, wie diese Übersicht zeigt
:
Christopher Trimmel – Trimmi
Keven Schlotterbeck – Schlotti
Anthony Ujah – Tony
Sebastian Polter – Polti
Marius Bülter – Bülti
Christopher Lenz – Lenzi
Lennard Maloney – Lenny
Florian Hübner – Hübi
Rafał Gikiewicz – Giki (oder Rafa)
Florian Flecker – Flecki
Suleiman Abdullahi – Manni
Diese »i«-Endung galt aber nicht nur für die Spieler, sondern auch fürs Trainerteam und den Staff:
Markus Hoffman – Hoffi
Sebastian Bönig – Böni
Adrian Wittmann – Adi
Frank Placzek – Placzi
Sven Weinel – Svenni
Susanne Kopplin – Susi
Das alles folgte dem klassischen Modell im deutschen Fußball, wo sich »i«-Fußballer traditionell großer Beliebtheit erfreuten, weil die Fans so gut »Williiii«, »Sigiiii« oder »Manniii« rufen konnten. In einigen Fällen wurde auch leicht um die Ecke gedacht, wenn Michael Gspurning zu Gspurti wurde oder Akaki Gogia nicht zu Aki, sondern zu Andi. Da erschloss sich die Ableitung von Suleiman Abdullahi zu Manni schon leichter. Der innere »i«-Zwang war so groß, dass Urs Fischer zu Christian Gentner stets Genti sagte, obwohl er auf seinen Schuhen »Le Gente« stehen hatte.
In einem Fall kam es zur »o«-Endung, nämlich bei Nicolai Rapp, der Rappo gerufen wurde. Rappi hätte sich auch doof angehört. Es gab aber auch eine Reihe Spieler, bei denen einfach der Vorname gekürzt wurde
.
Sebastian Andersson – Seb
Moritz Nicolas – Mo
Michael Parensen – Micha
Robert Andrich – Rob
Joshua Mees – Josh (oder Joshi)
Marvin Friedrich – Marv
Physiotherapeut Maximilian Perschk – Max
Rehatrainer Christopher Busse – Chris
Wobei mir Busse leidtat, denn Fischer nannte ihn meist »Busse«, wie er auch Athletiktrainer Martin Krüger zumeist »Krüger« nannte oder »Herr Krüger«. In einem weiteren Einzelfall wurde der Nachname gekürzt, Manuel Schmiedebach wurde zu »Schmiede«.
Der einzige Fall eines Spielers mit echtem Spitznamen war der Nachwuchskicker Maurice Opfermann Arcones, der wie die Vereinslegende Torsten Mattuschka »Tusche« genannt wurde. Für den Youngster war es bestimmt nicht einfach, Widergänger eines Publikumslieblings zu sein, aber das hatte sich schon in den Jugendmannschaften so ergeben. Es gab auch Leute, die Torhüter Gikiewicz »Beton« nannten, aber vor allem wohl er selber. Eine etwas längere Geschichte steckte hinter dem nicht eben groß gewachsenen Masseur Thomas Riedel, den einer der früheren Trainer »Iltis« genannte hatte, nachdem er mal im Kofferraum des Mannschaftsbusses herumgewieselt war. Mit einem Iltis verglichen zu werden, fand Riedel aber nicht so schön und schaffte es über die Jahre, »Ilti« als gültigen Namen zu etablieren.
Dagegen wurden Neven Subotic, Felix Kroos, Ken Reichel, Jakob Busk, Grischa Prömel, Julius Kade, Sheraldo Becker, Leo Oppermann, Marcus Ingvartsen und Julian Ryerson einfach bei ihren Vornamen gerufen, wobei die drei anderen Skandinavier den jungen Norweger »Professor« nannten. Ryerson trug im Alltag eine Brille, mit der er wie ein Student oder eine aufstrebende Nachwuchskraft in einem Architekturbüro aussah. Sebastian Andersson wiederum nannten sie »Basse«, was die in Schweden wohl übliche Abwandlung des Namens war. Und manchmal reichte ein
Sondername nicht, weshalb Trimmel auch »Trimbo« war oder Bülter zu »Bülle« wurde.
Letztlich ging es bei diesen Verballhornungen, Spitz- und Kosenamen um Zusammengehörigkeit. Dazu gehörten auch Witze auf meine Kosten, etwa wenn meine An- und Abwesenheiten thematisiert wurden. »Wer bist du noch mal?«, fragte Susi, wenn ich mal ein paar Tage nicht gekommen war. Florian Hübner etablierte den Running Gag, dass ich nur zum Essen kommen würde. Er fragte also demonstrativ aufmerksam, ob ich schon gefrühstückt hätte, wenn er mich morgens sah. Er fragte mich, ob ich schon wissen würde, was es zu Mittag gäbe, oder ob ich genug bekommen und ob es mir geschmeckt hätte. Er bot mir an, nach den Spielen in der Kabine extra für mich ein belegtes Brötchen bereitzuhalten oder ein Stück des notorischen Mamorkuchens. Ein Versprechen, das er natürlich nicht einhielt. Worüber ich mich bei ihm wiederum bitterlich beschwerte. Bald war es so weit, dass wir kaum noch darüber sprechen mussten, sondern nur noch Grinsen und kurze Gesten austauschten, weil wir beide schon wussten, was der Text war.
Es war eine Zeit lang vergangen, seit ich mit meinem Kanu am Seitenarm des Amazonas in Köpenick festgemacht hatte, aber als wir auf dem menschenleeren Flughafen von Murcia darauf warteten, nach Berlin zurückzufliegen, hatte ich das Gefühl, dass mich dieser Volksstamm nun wirklich aufgenommen hatte.