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Das gute Gefühl
Christopher Lenz war nach der Niederlage beim ersten Spiel der Rückrunde in Leipzig mit einem schlechten Gefühl vom Platz gekommen, er war mit einem schlechten Gefühl in den Bus gestiegen, und das schlechte Gefühl war nicht verflogen, als der Bus von Leipzig um kurz nach Mitternacht wieder in Köpenick ankam. Lenz war vom Stadion aus nach Hause gefahren, quer durch die Stadt bis nach Charlottenburg, und hatte bis drei Uhr nachts nicht einschlafen können. Als er am Sonntagmorgen aufstand, um gegen halb neun wieder in der Kabine zu sein, hatte er dieses schlechte Gefühl immer noch. Wie in den Spielen zuvor hatte er auch in Leipzig auf der linken Außenbahn gespielt. Auf dieser Position sind die Spieler ein Hybrid aus Außenverteidiger und Außenstürmer, sie müssen sowohl nach vorne attackieren als auch in der Abwehr aushelfen, was nicht zuletzt physisch sehr fordernd ist.
»Der Trainer hat mir gesagt, dass ich häufiger die Chance suchen sollte, nach vorne zu gehen, aber ich hatte nie das Gefühl, im 3-4-3 zu spielen«, sagte er, als wir morgens beim Frühstück saßen. Die Leipziger hatten dafür gesorgt, dass Lenz kaum mal etwas anderes als ein Außenverteidiger war. Das hatte damit zu tun, dass sie darauf lauerten, auf den Außenpositionen hinter Unions Abwehr zu kommen, was Lenz 90 Minuten lang gestresst hatte – so wie auf der anderen Seite Julian Ryerson, der bereits eiskalte und zugleich schweißnasse Hände hatte, als ich ihn nachmittags noch vor dem Spiel im Mannschaftshotel begrüßte.
Auch Sebastian Andersson schlich am Sonntagmorgen nach dem 1:3 in Leipzig unzufrieden durch die Kabine. Er hatte zwar den Führungstreffer von Marius Bülter vorbereitet, aber im weiteren Verlauf des Spiels hatte sich sein Job als besonders undankbar herausgestellt. Oft waren Marcus Ingvartsen und Bülter so viel damit beschäftigt gewesen, nach hinten zu sichern, dass er einsam vorne stand, und das gegen den fürchterlichen Dayot Upamecano. Der 21-jährige Franzose wirkte wesentlich größer und mächtiger als die Körpergröße von 1,85 Metern vermuten ließ, war unglaublich schnell und auch noch geschickt. Er kombinierte also körperliche Vorteile mit starker Technik und wirkte wie eine Ein-Mann-Armee. »Das ist der beste Verteidiger der Bundesliga«, sagte Andersson, als er missmutig Gewichte für sein Krafttraining auflegte.
Wie immer hatten Urs Fischer und Adrian Wittmann das Spiel noch auf der Rückfahrt im Bus analysiert und dabei Szenen herausgesucht, um sie den Spielern, die in der Startelf gestanden hatten, gleich morgens zeigen zu können. Die anderen kamen später, weil sie nachmittags noch in einem Testspiel zum Einsatz kommen sollten. Das Debriefing begann um Viertel nach neun, und Fischer fragte: »So kurz nach dem Spiel, wie sieht es aus?« Lenz schwieg, und Andersson tat es auch, aber Christian Gentner, Michael Parensen und Robert Andrich antworteten, die üblichen Verdächtigen also. Gentner wirkte nicht unzufrieden: »Wir haben viel von dem umsetzen können, was wir uns vorgenommen haben.« Aber gegen einen Gegner mit solcher Qualität müsse »schlussendlich« – er sagte wirklich »schlussendlich«, und wir grinsten uns hinten auf den Sofas an – alles passen. Parensen fand, dass es gute Phasen gegeben hätte und schlechtere, während Andrich beklagte, sie hätten zu viel hinter den Leipzigern herlaufen müssen.
»Hattet ihr das Gefühl, dass wir viel hinterherlaufen mussten? Ich meine nicht ›viel laufen‹, das müssen wir immer. Aber ›hinterherlaufen‹ ist etwas anderes«, fragte Fischer. Die kleine Gruppe schwieg.
Fast eine Dreiviertelstunde lang zeigten Fischer und Wittmann Spielszenen, und es entstand das Bild eines anderen Spiels, als es Lenz, Andersson und vielleicht auch Parensen und Andrich im Kopf hatten. Ich hatte in Leipzig vage den Eindruck gehabt, dass dieses Spiel trotz der Niederlage einen Schritt nach vorne bedeutete. Für mich hoch oben auf der Tribüne, ohne einen dieser jungen, wahnsinnig schnellen Leipziger im Nacken, war das leicht dahergesagt. Aber es war den Jungs viel häufiger gelungen, als ich das erwartet hätte, die beste Hinrundenmannschaft vom eigenen Tor wegzuhalten. Union hatte immerhin 15 Torschüsse abgegeben, die Gastgeber kamen nur auf vier mehr.
Es gab allerdings eine Szene, in der Leipzig fast anderthalb Minuten lang am Ball gewesen war und Union hinterherlaufen musste, was körperlich und mental unheimlich anstrengend war. Am Ende nahm Rafał Gikiewicz den Ball auf, und man konnte sehen, wie eine Handvoll Spieler für einen Moment abschalteten, nicht in Richtung des Balls schauten, weil sie Luft schöpften. Der Torwart entschied sich in dieser Szene aber nicht für einen langen Ball nach vorne, sondern spielte zu Parensen und der zu Lenz. Weil noch nicht alle wieder im Spiel waren, sich teilweise wegdrehten, hatte Lenz, sofort bedrängt, keine Anspielstation gefunden. Es war eine dieser Aktionen, vor der im Training immer wieder gewarnt wurde: »Nicht in den Druck spielen!« Lenz geriet in Panik und spielte den Ball halbherzig zurück, sodass die Leipziger ihn kurz vor dem Berliner Strafraum erobern konnten. Letztlich passierte nichts, der Ball wurde geklärt, aber es hätte leicht ein Gegentor sein können. Fischer machte Lenz keinen Vorwurf: »Er muss das ausbaden, ein ganz schlechtes Beispiel.« Die Spieler diskutierten mit gereiztem Unterton darüber, wer sich hätte wie verhalten müssen. Aber Fischer ging es nicht darum, einen Schuldigen zu benennen. Er spielte kein blame game , sondern wollte seine Mannschaft darauf einschwören, der gleichen Idee zu folgen. Entweder waren alle bereit für einen langen Abschlag oder alle darauf eingestellt, von hinten heraus zu spielen. Aber in dieser Szene hatte die eine Hälfte der Spieler die eine, die andere Hälfte eine andere Idee im Kopf.Letztlich war das die einzige Szene, die Fischer seiner Mannschaft vorhielt, und eigentlich geriet dieser Sonntagmorgen zu einer kleinen Lobeshymne. Man konnte sehen, wie die Spieler immer wieder gut verschoben, um Überzahl am Ball zu schaffen. Die Innenverteidiger rückten im richtigen Moment heraus, die Mittelfeldspieler halfen unablässig mit. Immer wieder ließ Fischer das Bild anhalten, deutete mit dem Laserpointer auf einzelne Positionen, um zu zeigen, wie gut geordnet das war.
Auch die Arbeit im Trainingslager zahlte sich aus, die Spieler drehten auf, wenn sie mit dem Rücken zum gegnerischen Tor an den Ball kamen, sie boten sich an, gingen in die Tiefe, andere kamen entgegen. Mir fiel die Analyse nach dem Spiel am siebten Spieltag in Wolfsburg ein. Nun waren wir am 18. Spieltag, und die Mannschaft war inzwischen nicht wiederzuerkennen. Sie verteidigte immer noch gut, vielleicht sogar besser, aber nun spielte sie auch mit größerer Selbstverständlichkeit. Sie entwickelte sich weiter.
»Was sagt ihr jetzt, wo ihr die Bilder gesehen habt?«, fragte Fischer.
»Na ja, sie hatten in der ersten Halbzeit viele Chancen, das war schon eine verdiente Niederlage«, sagte Robert Andrich, was ein wenig so klang, als hätte er den Eindruck, sein Trainer würde das Spiel besserreden, als es war. Doch Fischer ließ sich nicht irritieren. Die Auswahl der Szenen mochte am Morgen eines Spieltags vor allem der Ermutigung dienen, aber jetzt war das nicht so, er sah wirklich eine Entwicklung. Am Dienstag vor dem Spiel in Leipzig hatte Markus Hoffmann gesagt, das Training sei »supergut« gewesen. Man konnte dieses Lob kaum unterschätzen, Hoffmann neigte nicht zu Überschwang. Wenn er eine Trainingsleistung »supergut« fand, war sie mehr als das.
»Es gibt viele gute Dinge, die wir mitnehmen können. Es gibt vielleicht noch einen oder zwei Gegner wie Leipzig – Bayern und Dortmund. Es muss uns ein gutes Gefühl geben fürs Spiel gegen Augsburg«, sagte er. Das war er also, der Spin, den Urs Fischer der Geschichte geben wollte. Die Botschaft war: Wir sind auf dem richtigen Weg. Wir sind noch nicht an seinem Ende, wir können es noch besser. Aber die Richtung stimmt. Bei Christopher Lenz kam die Botschaft auf jeden Fall an, die Zweifel der Nacht waren verscheucht. »So gut hatte ich das nicht gesehen«, sagte er, als er nach Hause fuhr, um sich endlich auszuschlafen.
Im Laufe der vorangegangenen Wochen war mir aber noch etwas aufgefallen. Fischer hatte oft den Begriff »gutes Gefühl« benutzt, und inzwischen hörte ich das ständig. Es war wie bei Schwangeren, die plötzlich nur andere Schwangere und Eltern mit Kindern sehen. Erst hatte ich ihn überhört, doch plötzlich war das »gute Gefühl« überall, bisweilen auch sein böser Bruder, das »schlechte Gefühl«. Ständig war die Rede davon, und ich brauchte, bis der Groschen fiel, was damit gemeint war. Es hatte nichts damit zu tun, dass die Spieler gefühlige Emo-Typen waren, die in einen harmonischen Kuschelzustand versetzt werden mussten. Es ging um etwas anderes.
Diese Mannschaft konkurrierte mit Teams, die in der Regel besser besetzt waren als sie selbst. Das bedeutete, dass alle Spieler in fast jeder Partie an ihre Leistungsgrenze kommen mussten, um mithalten zu können. Manchmal reichte nicht einmal das, wie etwa in Leipzig. Um die Leistungsgrenze erreichen zu können, brauchten die Spieler ein »gutes Gefühl«. Dazu gehörte es, sich körperlich bereit zu fühlen, gesund, fit und austrainiert zu sein. Dazu gehörten gute Rahmenbedingungen, eine angenehme Anreise, ordentliche Hotelbetten, vernünftiges Essen oder funktionierendes WLAN auf den Zimmern, um Serien schauen zu können, mit den Kindern zu skypen oder online zocken zu können.
Sie brauchten aber auch Aufgaben auf dem Platz, die ihnen ein gutes Gefühl gaben. Für Christopher Lenz war das in Leipzig nicht so gewesen oder für Sebastian Andersson, während Marvin Friedrich auf meine Frage, wie er das Spiel erlebt hätte, mit leichtem Achselzucken »Gut« antwortete. Auch Christian Gentner hatte im Spiel ein gutes Gefühl gehabt, während er nach dem Spiel gegen Hoffenheim kurz vor Weihnachten darüber geklagt hatte, dass die Ereignisse weitgehend an ihm vorbeigelaufen seien, weil beide Mannschaften vor allem lange Bälle über seinen Kopf hinweg spielten. Rafał Gikiewicz wiederum fühlte sich unwohl, wenn er Rückpässe unter Bedrängung annehmen musste. Robert Andrich dagegen vermittelte meistens den Eindruck, als könne ihm kaum etwas ein schlechtes Gefühl machen, aber vielleicht täuschte das auch.
In Leipzig hatte man zu Beginn sehen können, dass die Mannschaft dieses »gute Gefühl« hatte. In Führung zu gehen, stärkte das noch. Aber das gute Gefühl ist kein treuer Begleiter, einzelne Situationen auf dem Platz, Fehlentscheidungen der Schiedsrichter, taktische Änderungen oder auch einfach Leistungssteigerungen des Gegners können es zu einem schlechten Gefühl werden lassen. Für einige Spieler ist das gute Gefühl wichtiger als für andere. Vermutlich hat das auch mit Erfahrung zu tun. Routinierte Spieler wie Christopher Trimmel und Christian Gentner wirkten nicht so beeindruckt, wenn auf dem Platz etwas schieflief.
Lenz hätte in der Situation, als er in Bedrängnis angespielt wurde, den Ball wegschlagen müssen oder einfach ins Aus. Er tat es aber nicht, und auch solche Fehlentscheidungen konnten für ein schlechtes Gefühl sorgen. Von daher war es wichtig, dass ihn der Trainer in dieser Situation nicht zum Schuldigen machte, sondern als jemanden sah, der letztlich eher das Opfer der Fehlentscheidungen anderer war. Auch deshalb konnte er mit besserem Gefühl nach Hause fahren, sich erholen und guter Dinge in die neue Arbeitswoche starten.
Schon im Trainingslager in Spanien hatte ich mit Grischa Prömel über das Phänomen des guten und schlechten Gefühls gesprochen, und er hatte mit heiligem Ernst gesagt: »DAS GEFÜHL AUF DEM PLATZ IST ALLES !« Er erzählte auch, dass Rafał Gikiewicz im Abschlusstraining Bälle auch schon mal mit der Begründung durchlasse: »Das ist fürs gute Gefühl.«
Zur Gefühlswelt gehörten auch die Gesamtumstände. Zehn Tage vor Weihnachten hatte Union noch sieben Punkte Vorsprung auf den Relegationsplatz und sogar elf auf einen direkten Abstiegsplatz. Doch aus den Spielen in Paderborn, gegen Hoffenheim, in Düsseldorf und Leipzig hatte die Mannschaft nur einen Punkt geholt, der Vorsprung betrug inzwischen nur noch drei bzw. fünf Punkte. Der 1. FC  Köln, der nach dem 0:2 an der Alten Försterei komplett erledigt gewirkt hatte, hatte danach vier Spiele gewonnen und war völlig unerwartet punktgleich. Gegen Augsburg wäre also ein verdammt gutes Gefühl nötig.