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Dicke Titten
Wie schön Siege sind und wie doof glücklich sie machen! 2:0 hatten die Jungs gegen den FC Augsburg gewonnen, endlich wieder gewonnen, nach sieben langen Wochen, und in der Kabine lief »Dicke Titten, Kartoffelsalat«.
»The music is shit«, grinste Manni Abdullahi, der noch verletzt war. »Katastrophe, was da läuft«, sagte Akaki Gogia, der endlich wieder in Berlin war, um seine Reha nach dem Kreuzbandriss fortzusetzen. Er grinste ebenfalls. Überhaupt grinsten alle dämlich zufrieden darüber, dass sie total bescheuerte Musik vom Ballermann hörten. »Mit der Flinte im Arm und ’ner Bürste in der Hand, ’nem Eimer auf dem Kopf stehn wir am Waldesrand«, donnerte ein Künstler namens Ikke Hüftgold durch die Kabine »Hey Christoph, sing mal ›Eisgekühlter Bommerlunder‹«, sagte Sebastian Polter, und ich erklärte ihm, dass ich das erst wieder bei der Nichtabstiegsparty machen würde, die, sollte es sie geben, vermutlich ultimative Verblödung.
Aber ich guckte mindestens genauso behämmert aus der Wäsche wie alle anderen. »Das war wichtig«, sagte Michael Gspurning, als ob ich das nicht selbst gewusst hätte. Fast 50 Tage waren seit dem letzten Sieg vergangen, und selbst wenn die Winterpause dazwischenlag und die Vorbereitung auf die Rückrunde, fühlte sich das unheimlich lang an. Als Gikiewicz in die Kabine kam, versuchte ich wegen seiner Weltklasseparade kurz vor Schluss ein Kompliment loszuwerden. Was für ein Reflex! Aber er wollte keine Komplimente oder tat zumindest so. Jedenfalls jetzt nicht. Später gab er zu: »Eine meiner besten Paraden überhaupt.«
»Scheißegal, Hauptsache, drei Punkte«, sagte er jetzt und wedelte mit seinem Smartphone herum, auf dem er sich gerade die Tabelle angeschaut hatte. Wie fast immer kam Trimmel als Letzter in die Kabine, weil er wieder vor alle Kameras gezerrt worden war. »Was für ein Drecksspiel«, sagte er und grinste ebenfalls. Jakob Busk, der von der Tribüne aus zugeschaut hatte, stellte fest: »Die erste Halbzeit war …« Er suchte nach dem richtigen Wort: »… sie war lang.« Ich musste lachen, sie war unfassbar lang gewesen, weil 22 Menschen wild um den Ball kämpften, aber nie der Fluss eines Fußballspiels zustande kam. Anthony Ujah saß auf dem Fahrrad, radelte sich den Stress des Spiels aus dem Körper und quasselte ihn sich aus dem Kopf: »Von vorne nach hinten, Kopfbälle, Zweikämpfe, du musst rennen. That’s Abstiegskampf.«
Es hätte alles ganz schön deprimierend werden können an diesem Berliner Wintertag, an dem es nie richtig hell wurde, weil eine betongraue Wolkendecke über der Stadt lag. Kurz vor dem Spiel, als die Mannschaftsaufstellungen kamen, brach in der Trainerkabine zudem Hektik aus, denn Augsburg hatte umgestellt und spielte anders als erwartet. »Die bringen Power und Größe rein«, sagte Bönig. Das hatte Auswirkungen auf die Standardsituationen, weshalb er noch mal seine Anweisungen dazu änderte, die er zu jedem Spiel in der Kabine aushängte. »Adi, schreib mal die Füße auf«, rief er Adrian Wittmann daraufhin zu, der auf der Mannschaftsaufstellung der Augsburger Spieler noch hinzufügte, wer Rechts- und wer Linksfuß war. Fischer erklärte in der Kabine kurz, was die Veränderungen taktisch bedeuten könnten. Vielleicht würde Augsburg erstmals in dieser Saison mit einer Fünferabwehr spielen und nicht mit einer Viererkette wie sonst. Aber den eigenen Plan würde er nicht verändern. »Wichtig ist, was wir wollen, und nicht das, was sie provozieren wollen«, sagte er.
Wichtig war letztlich etwas anderes in diesem Fußballspiel, in dem wenig gespielt wurde. Die ganzen schönen Dinge, die im Trainingslager geübt worden waren, hatten keine Rolle gespielt. Die Bälle flogen hoch und weit, und das Spiel zerfiel in Millionen und Abermillionen von Zweikämpfen. Keine Ahnung, ob man dabei unten auf dem Rasen trotzdem ein gutes Gefühl entwickeln konnte. Das erste Tor für Union fiel kurz nach der Halbzeitpause nach einer Ecke, Bönigs Zettel waren richtig überarbeitet worden. Wieder ein Tor nach einem Standard also, genau das, was Fischer für die Rückrunde vorgegeben hatte. Neven Subotic traf zum ersten Mal seit fünf Jahren in der Bundesliga wieder. Das zweite Tor fiel eine Viertelstunde später und war schön herausgespielt von Christopher Lenz und Robert Andrich, Marcus Ingvartsen schoss ins lange Eck. Dann gab es noch eine weitere Million Zweikämpfe, teilweise Durcheinander im Strafraum von Union, Gikiewicz’ Superreflex und Jubel. Sie hätten auch verlieren können, so wie sie gegen Hoffenheim hätten gewinnen können oder in Düsseldorf. Es war alles eng beieinander.
Als die dicken Titten und der Kartoffelsalat in der Kabine verklungen und die Spieler in den zusätzlichen freien Tag verschwunden waren, den Urs Fischer ihnen gegeben hatte, saßen wir im Trainerzimmer zusammen. Ich schlug vor, dass wir was trinken. »Jetzt gehen schon die an die Flaschen, die am wenigsten beigetragen haben«, sagte Martin Krüger streng. Doch als der Trainer von der Pressekonferenz wieder zurück war, sagte er: »Es ist schon schlimm, dass Christoph uns ans Feiern erinnern muss.« Er holte eine Flasche Brandy hervor, den Whisky, den Christian Arbeit mitgebracht hatte, und den Rum, den der Präsident zum Sieg gegen Köln ausgepackt hatte. Wir stießen an, dann verschwand Markus Hoffmann, der schnell noch einen Flug nach Salzburg gebucht hatte, zum Flughafen. Inzwischen waren Arbeit und Hannes Hahn gekommen, Placzi und Ilti tauchten auf, und es wurde richtig gemütlich, auch weil man merkte, wie sehr Fischer die Geselligkeit gefiel. Er entspannte sich, wie er sich selten entspannte, und mochte nicht einmal mit Adrian Wittmann das Video des Spiels anschauen. Jedenfalls nicht an diesem Abend. Spiele zu gewinnen, war einfach schön.
Aus dem Trainerzimmer sah ich Christopher Trimmel über den Parkplatz zu seinem Auto gehen. Für ihn war dieses Spiel auf eine Weise besonders gewesen, von der seine Mannschaftskameraden nichts wussten. Ich hatte es auch nur deshalb erfahren, weil ich am Tag zuvor vom Abschlusstraining mit ihm nach Hause gefahren war. Er war nur kurz unter die Dusche gesprungen und eilig aufgebrochen, weil sich mittags Freunde trafen, um den 36. Geburtstag einer Freundin zu feiern, von dem alle wussten, dass es ihr letzter sein würde. Sie hatten einen Kinosaal gemietet, um einen Film anzuschauen. Bei den Dreharbeiten war die kranke Freundin noch zu Besuch gewesen, weil sie eine der Schauspielerinnen gut kannte. Ins Kino kam sie im Rollstuhl, wo ihr die Gäste nach und nach gratulierten, doch schon bald winkte sie Trimmel zu sich heran. Er konnte sie erst nur schwer verstehen, weil sie nicht mehr die Kraft hatte, sich deutlich zu artikulieren. Dann verstand er: Sie wünschte sich von ihm ein Tattoo, einen kleinen Elefanten, weil der ihr Lieblingstier war und so stark. Und sie fand, dass sie auch stark sei. Also schauten sie erst gemeinsam den Film an und danach Erinnerungsfotos, die alle mitgebracht hatten und die nun in Erinnerung an bessere Zeiten als Diashow liefen. Es flossen viele Tränen, dann gingen sie zu Trimmel und seiner Frau nach Hause. Er tätowierte ihr einen kleinen Elefanten auf den Unterschenkel. Sie schlief dabei ein. Als er fertig war, wollten auch andere diesen Elefanten, also tätowierte er bis weit in den Abend hinein noch weitere acht Elefanten. Am nächsten Morgen stand er früh auf, fuhr zum Stadion, hörte sich an, wie gegen Augsburg gespielt werden sollte, fuhr mit ins Hotel, aß, schlief, fuhr zum Stadion zurück. Dann lief er elf Kilometer durch dieses Drecksspiel, schoss die Ecke, die zum Führungstreffer führte, und nun fuhr er nach Hause.