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Saufi, saufi!
Morgens um kurz nach sieben am Bahnhof Lichtenberg lag nicht die hibbelige Aufregung vor einem Abenteuer in der Luft, die ich eigentlich erwartet hatte. Der Sonderzug, bei dem auf einigen Waggons »Partyzug« zu lesen war, stand auf Gleis 16, die Zugänge wurden von Ordnern in roten Westen kontrolliert, und langsam trudelten die 750 Mitfahrer ein. Um halb acht sollte es losgehen, alles vom V.I.R.U.S. selbst organisiert, dem eifrigen »Verein Infizierter Rotweißer Union-Supporter«. Oben auf dem Bahnsteig ging es entspannt zu, wie bei einem Familienausflug. Einerseits gab es wirklich Familien, also Mama, Papa, Kinder oder zumindest Papas mit Sohn oder Tochter, daneben Wahlfamilien, wie etwa die jungen Frauen, die in Waggon 1 ein All-Girls-Abteil belegten. Aber vor allem waren es Jungscliquen und Fanklubs.
Auswärtsfahrten zu Fußballspielen sind oft ein Adrenalin-Ding für wilde Jungs, aber wilde Jungs waren hier eher keine dabei. Einige mochten sich vielleicht jung und wild fühlen, aber die übrige Besetzung im Zug sorgte für ein Mischungsverhältnis, das den Abenteueranteil eher verdünnte. Es waren einfach zu viele Zeitungsleser dabei, Quizspieler, Gemütlich-ein-Bier-Trinker, ältere Herrschaften, die noch ein Nickerchen machen mussten. Stark vertreten waren Ausflügler mit Provianttaschen, die so übervoll gepackt waren, als ginge es nicht ins Ruhrgebiet, sondern an den Baikalsee.
Dabei fuhren an diesem Tag wahrscheinlich wenige Züge durch Deutschland, in denen es so viel zu trinken gab wie in unserem. Mir ist es immer ein Rätsel gewesen, warum man vor dem Spiel oder beim Spiel so viel Bier trinkt, dass man das Spiel nicht mehr sieht, jedenfalls nicht klar und deutlich. Aber ich fragte niemanden, auch nicht, wie sie schon morgens um Viertel nach acht Kümmerling herunterbekamen oder Wodka-Orange, von Bier ganz zu schweigen, das nicht als Alkohol zählte, sondern mit der gleichen Selbstverständlichkeit getrunken wurde, wie man die Luft einatmet.
Das Besondere an Sonderzügen ist, dass sie nicht anhalten und niemand aus- oder zusteigen kann. Sie fahren einfach so dahin, und weil sie die Parias im Schienennetz sind, ausrangiert wirkende Waggons außerhalb des regulären Fahrplans, rollen sie über Nebenstrecken und bleiben auch mal eine halbe Stunde irgendwo stehen. Dann kann man rausschauen und hat keine Ahnung, wo man ist. Also schaute ich, als wir das erste Mal länger stoppten, bei Google Maps, wo Oebisfelde angezeigt wurde und das Vogelschutzgebiet Dromling. Das half mir so richtig nicht weiter, was aber völlig wurscht war, weil es sowieso darum ging, in seiner eigenen kleinen Welt durchs Land zu rollen. Wer der Ansicht ist, dass der Weg das Ziel ist, für den sind Sonderzüge zu Bundesligaspielen ideal.
In unserer rollenden Kapsel gab es einen Partywaggon, in dem die Fenster mit kaum durchsichtiger Folie beklebt waren, sodass es drinnen dunkel war und man nicht sah, ob draußen Oebisfelde, das Vogelschutzgebiet Dromling oder sonst was existierte. Hier war das Epizentrum des Ausflugs, ausgestattet mit einer Bar, an der es Kümmerling aus kleinen Plastikschnapsgläsern gab und Wodka und Bier natürlich, aber auch Brötchen mit faustgroßen Buletten, die zu essen einer gewissen Geschicklichkeit bedurfte, wenn man sie nicht zwischendurch vom Boden aufheben wollte, der von einem satten Film aus verschüttetem Alkohol und Schweiß überzogen war. Beliebt war auch gefüllter Streuselkuchen, der als echter Geheimtipp galt.
Herrscher über das Schattenreich des Partywaggons war DJ Smily, der zusammengesunken in seiner DJ -Kabine saß (er hatte, so wurde anerkennend erzählt, vorher auf einem Neujahrsempfang aufgelegt und war von dort aus im schwarzen Anzug direkt zum Sonderzug gekommen, konnte also nicht viel geschlafen haben). DJ Smily, der übrigens nicht DJ Smiley heißt, befand sich schon seit Mitte der 1980er-Jahre im Besitz einer staatlichen Spielerlaubnis für DJ s, wofür er in der DDR eine Prüfung ablegen musste. Er war ursprünglich Facharbeiter in der Eisenbahntransporttechnik und speziell für den Stellwerkdienst, vermutlich fühlte er sich deshalb im Sonderzug auch so wohl, jedenfalls war er schon ewig DJ in Union-Sonderzügen.
Man konnte DJ Smily nicht vorwerfen, dass er sich selbst verwirklichen wollte, indem er neue Sounds ausprobierte. Bei ihm galt die Devise: All killers, no fillers! Also legte er einen bombensicheren Mix aus Mitsingklassikern wie »Irgendwo, irgendwann« von Nena (wobei mir klar wurde, dass darin eigentlich eine Fußballhymne steckt, heißt es doch: »Ich geh mit dir, wohin du willst, auch bis ans Ende dieser Welt«), Songs aus dem Schatz der Union-Lieder und Ballermann-Smashhits. Das war ein Genre, in dem ich trotz meiner Schulung durch die Union-Profis noch immer nicht ganz so trittsicher war, ließ mich aber gerne begeistern. Etwa für »Saufi, saufi« von Tobee:
Saufi, saufi
Noch zehn Bier
Saufi, saufi
Alle hier wollen saufi, saufi, Polizeirevier
Saufi, saufi
Alle hier wollen sau, sau, sau, sau, sau, sau, sau, sau, sau, sau, sau, sau, sau (Prost)
Saufi, saufi
Saufi, saufi
Ich feier’ richtig hart, ich bin ein Saufautomat
An einem Samstagmorgen um Viertel nach neun in einem abgedunkelten Partywaggon kurz hinterm Vogelschutzgebiet ein paar Dutzend Menschen, die in einer Bierpfütze stehen, »Saufi, saufi« grölen zu hören und »Ich bin ein Saufautomat«, hat einen eigenen Zauber. Er wurde auch nicht durch einen sonst in Saufzusammenhängen schnell ausbrechenden Saufzwang zerstört. Trotz des im Partywaggon unbedingten Willens zum Alkohol blieb man dort liberal gegenüber Nichttrinkern. Es gab sogar noch ein gewisses Restverständnis dafür, dass ich morgens um zehn einen Kaffee bestellte.
Im Hauptbahnhof Hannover hielt unser Zug kurz an, weshalb wir die Fenster runterließen und die wartenden Reisenden auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig darüber aufklärten, mit wem sie es zu tun hatten. »Wir sind Unioner, wir sind die Kranken, wir durchbrechen alle Schranken.« Die Reisenden nahmen das erstaunt zur Kenntnis, einige winkten, wirkten aber nicht ganz unfroh darüber, dass zwischen ihnen und den Schrankenbrechern noch ein tiefes Gleisbett lag. Dass wir in einem schönen alten Zug unterwegs waren, in dem man noch die Fenster herunterlassen konnte, sorgte für weitere Wortmeldungen entlang der Bahnstrecke und ermöglichte es auch, dass geraucht werden durfte.
Ich kam innerlich immer besser ins Rollen. Von mir aus hätte es statt nach Dortmund auch noch weiter gehen können, gerne auch mit Kümmerling und Bier und faustgroßen Frikadellen, die in Berlin Buletten heißen. Ich hörte mir von Carsten Baum, der in der Fangastronomie An der Alten Försterei arbeitete, Geschichten darüber an, wie schön es früher bei Union war, als jeder noch jeden kannte. Lars Schnell von Unions Fanbetreuung erzählte, dass er in der Nacht vor der Fahrt so viel Alkohol getrunken hatte, dass er über einem Freund im Bett eine Tube Shampoo geleert hatte. Außerdem gab dieser durchaus erwachsene Mann zum Besten, wie er im Trainingslager in Spanien mit einer gewissen Ausdauer Konfettikanonen in die Autos anderer Fans abgefeuert hatte und diese daraufhin nachts sein Auto komplett in schwarze Folie eingepackt hatten. Ich bekam Fotos davon zu sehen, die auf eine so hohe handwerkliche Umsetzung schließen ließen, dass sie sich beim Verpackungskünstler Christo hätten bewerben können. So verging die Zeit, und ich war fast enttäuscht darüber, dass unser Zug nach fünfeinhalb Stunden Fahrt – nur zwei Stunden länger als regulär – in Dortmund ankam. Er hielt aber nicht am Dortmunder Hauptbahnhof, sondern um kurz vor eins an der Stadionhaltestelle, also direkt vor der Tür .
So gemütlich die Anreise gewesen war, so blöd wurde der gesamte Rest. Die Dortmunder Polizei hatte drei Busse mit Mitgliedern der Ultras auf dem Parkplatz vor dem Stadion eingekesselt, um jeden einzeln erkennungsdienstlich zu behandeln. Für echte Wildheit hätte ich wohl da mitfahren müssen. Auf der Fahrt hatten einige Businsassen an einem Rastplatz angeblich Schilder beschmiert und Zivilbeamte in einem Pkw bedroht. Durch das Fehlen der lautesten Gruppe Fans kamen die gut 7000 anderen Fans nicht richtig in Schwung, teilweise schwiegen sie auch aus Solidarität.
Auf dem Rasen lief es ebenfalls nicht besser, nach knapp 20 Minuten führte Dortmund mit 2:0, und Union war so unterlegen, dass ich dachte, es könnte ein sehr langer Nachmittag werden. Im Laufe der zweiten Halbzeit motzte nicht einmal Adrian Wittmann mehr, sondern schwieg innerlich schnaubend mit verschränkten Armen. Nach dem 5:0 packte er kurz vor Schluss seine Sachen ein und ging wütend weg. Die Spieler konnten froh sein, dass nicht er der Trainer war.
In der Kabine war hinterher von einer großen Depression trotzdem wenig zu sehen, bei der Niederlage in Düsseldorf kurz vor Weihnachten war es viel schlimmer gewesen. »Auf das Spiel habe ich schon lange gewartet«, sagte Markus Hoffmann, als er beim Auslaufen zu meiner Überraschung zufrieden grinsend auf dem Rasen stand. Ich schaute ihn fragend an, und er erklärte: »Bislang haben wir gegen starke Mannschaften zumeist ganz gut ausgesehen, aber heute war der Tag, an dem ein sehr guter Gegner einen guten und wir einen schwachen Tag hatten.« Auch die Spieler zuckten eher mit den Achseln, der Gegner war an diesem Tag haushoch überlegen gewesen, selbst eine deutlich bessere Leistung hätte am Ausgang des Spiels wenig geändert.