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Das Geschenk
Grischa Prömel saß auf der Holzbank in der Umkleidekabine des Dortmunder Westfalenstadions und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie glücklich er war. Um sein rechtes Knie war ein Eisbeutel gebunden, aber das war nur eine Vorsichtsmaßnahme. Nach fünf langen Monaten hatte er endlich wieder auf dem Platz gestanden. Für 25 Minuten nur, aber das war erst einmal egal, ein Neuanfang war gemacht.
Schon das Abschlusstraining vor dem Saisonstart hatte er abbrechen müssen, hatte aber trotzdem gespielt, wie auch eine Woche später in Augsburg, obwohl er Knieschmerzen hatte, die kaum auszuhalten waren. Danach verwandelte er sich in ein Gespenst. Morgens bei der Trainerbesprechung referierte Christopher Busse, wo er sich gerade aufhielt. Mal war Prömel nach Mönchengladbach gefahren, wo ein ehemaliger Physiotherapeut von Union arbeitete, dem Prömel besonders vertraute. Dort machte er eine Stoßwellentherapie. Die Beschwerden an der Patellasehne blieben. Dann kam er zurück, und Werner Leuthard wurde extra eingeflogen, um mit ihm zu arbeiten. Fischer und Hoffmann kannten den Athletiktrainer, er hatte zu ihrem Trainerteam beim FC Basel gehört. Leuthard ging inzwischen auf die 60 zu und war ein Mann mit einem breiten bayrischen Akzent und noch breiterem Brustkorb als Martin Krüger. Ein paar Tage machte er mit Prömel Übungen, kam noch einmal wieder, auch das half nicht. Prömel arbeitete mit Busse. Prömel konsultierte einen Kniespezialisten in Berlin und machte eine ACP -Therapie. Das Kürzel steht für Autologes Conditioniertes Plasma, bei der Behandlung wird dem Patienten Blut abgenommen und in einer Zentrifuge aufbereitet. Der Teil des Blutplasmas, der die körpereigenen regenerativen arthrose- und entzündungshemmenden Bestandteile enthält, wird dem Patienten gespritzt. Auch das sorgte für keine durchschlagende Besserung. Prömel wurde darauf untersucht, ob er einen Beckenschiefstand hatte oder Dysbalancen im Körper, die das Patellasehnensyndrom verursachten.
Prömels Freundin studierte Medizin, er selber hatte mal ein Fernstudium der Volkswirtschaftslehre begonnen, nun studierte er seine Verletzung. »Ich bin ein Typ, der will das verstehen. Über die Sehne könnte ich eine Doktorarbeit schreiben«, hatte er mir im Trainingslager in Spanien erzählt. Wir saßen auf meinem Zimmer, redeten, und Prömel hob im Sitzen das rechte Bein immer wieder an, streckte und befühlte es dabei mit der Hand. Er merkte gar nicht mehr, wie sehr sein Leben um dieses Knie kreiste.
Ich hatte in den Monaten, wo er mal da und wieder weg gewesen war, Mitleid mit Prömel gehabt. Mir taten alle verletzten Spieler leid, weil es für sie besonderen Stress bedeutete, nicht trainieren und spielen zu können. Jemand anders würde ihren Platz übernehmen, und damit verbunden waren auch wirtschaftliche Folgen. Man bekam weniger Punkteprämien, vielleicht gab es im Vertrag auch Klauseln, die Zusatzzahlungen bei einer bestimmten Zahl erreichter Spiele vorsahen. Bei den meisten Verletzungen war allerdings ziemlich genau klar, wie lange die Genesung dauern würde, selbst bei so schweren Verletzungen wie der von Akaki Gogia, der sich das Kreuzband gerissen hatte. Es gab relativ verlässliche Fahrpläne, wann wieder trainiert und gespielt werden könnte. Bei Prömel hingegen war nicht klar, woher die Reizung der Patellasehne kam, wie man ihr beikommen könnte und wie lange das alles dauern würde.
»Im Wegstecken bin ich gut«, sagte er. Aber die ersten Wochen waren ein Albtraum gewesen. Bei der Behandlung versuchte man, dem Gewebe, das sich um die Sehne gebildet hatte, mit Gewalt beizukommen, damit sie frei wurde. Die Übungen taten teilweise so weh, dass er sich eine Socke in den Mund steckte, um nicht zu schreien. »Die schlimmste Übung waren Beinstrecker. Die kamen immer am Schluss, und ich hätte lieber stundenlang etwas anderes gemacht als nur eine Wiederholung davon.« Beinstrecker, das war die Bewegung, die er bei mir im Hotel gemacht hatte .
»Wenn man einen Athleten suchen würde, wie man ihn auf griechische Amphoren gemalt hat, könnte man Grischa nehmen«, hatte Mannschaftsarzt Gwinner mal über Prömel gesagt. Entdeckt hatte ihn Julian Nagelsmann, der damals noch Nachwuchstrainer in Hoffenheim war, und ihn von Stuttgart dorthin geholt. Nagelsmann, das war Prömel unvergessen, hatte seinen Nachwuchsspielern gesagt: »Ihr seid 20 Mann mit der gleichen Chance, aber um in die Bundesliga zu kommen, müsst ihr Maschinen werden.« Prömel hatte daraufhin beschlossen, eine Maschine zu werden. Auf diese Weise war er Deutscher A-Jugendmeister mit Hoffenheim geworden, hatte mit der deutschen Mannschaft das Endspiel der Olympischen Spiele in Rio de Janeiro erreicht und war in der Bundesliga angekommen.
Doch nun stotterte die Maschine zum ersten Mal. »Es war eine ekelhafte Zeit«, sagte er, vor allem die Ungewissheit war schlimm. Er verließ Berlin und machte die Reha weiter in München, wo er für fünf Wochen bei Freunden lebte. Marvin Friedrich, Prömels bester Kumpel in der Mannschaft, rief ihn täglich an. In München kam Prömel auch ins Stadion, als Union bei den Bayern spielte. Seine Brüder hatten Karten für den Gästeblock gehabt, er kam mit und stand in der ersten Reihe des Oberrangs neben Vossi. Prömel sang auch mit. »Ich mag dieses Gemeinschaftsgefühl, vielleicht war es Ersatz dafür, dass ich nicht auf dem Platz stehen konnte.« Schon in Berlin war er nach der Verletzung bei einigen Heimspielen in die Kurve verschwunden und hatte sich zu den Ultras gestellt.
Doch nun konnte er endlich wieder spielen, und daran änderte sich auch in den folgenden Wochen nichts. Nach dem Training und nach dem Spiel kühlte er sein Knie immer noch mit Eis, sicher war sicher. Jeden Tag machte er vorsorglich Übungen auf dem schrägen Brett, die Fußspitzen nach vorne, die Fersen oben, mit maximaler Belastung auf die Patellasehne, drei mal 15 Wiederholungen. Er ging in sieben Sekunden langsam in die Knie und schneller wieder hoch. Wenn ihn Profikollegen oder auch Amateursportler via Instagram anschrieben, was man bei einem Patellasehnensyndrom tun könne, antwortete er immer. Er wusste ja, wie schlimm das war. Allerdings wusste er letztlich nicht, was das Leiden wirklich beendet hatte.
Rafał Gikiewicz hatte ihm von Julian Schuster erzählt, mit dem er in Freiburg zusammengespielt hatte. Dessen Abschiedsworte an die Mannschaft nach seinem Karriereende seien gewesen: »In den letzten zwei Jahren war ich so professionell, dass ich mich gefragt habe, warum ich das nicht früher gemacht habe. Wie lange hätte ich spielen können, wenn ich sechs Jahre früher angefangen hätte.« Prömel war jetzt 24 Jahre alt und unter dem Eindruck der Verletzung noch professioneller geworden. »Ich weiß jetzt, was für ein Geschenk es ist, gesund zu sein«, sagte er.