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Ein Klub in der Big City
Am Tag vor dem Spiel gegen Leverkusen kam Zingler zu Beginn des Abschlusstrainings zu mir herüber und sagte zur Begrüßung grinsend: »Wir sind ganz schön langweilig.« Es war klar, worauf er anspielte, die ganze öffentliche Aufmerksamkeit in Berlin zog gerade Lokalkonkurrent Hertha BSC auf sich. Nach nur 76 Tagen war Jürgen Klinsmann unter spektakulären Umständen als Trainer zurückgetreten. Zunächst war der ehemalige deutsche Nationaltrainer im Herbst Aufsichtsratsmitglied bei Hertha geworden, als Abgesandter des Investors Lars Windhorst, der für insgesamt 224 Millionen Euro 49 Prozent der Anteile an Unions Lokalrivalen gekauft hatte. Überraschend hatte Klinsmann dann Ende November Ante Covic als Trainer abgelöst, nachdem dieser vier Spiele in Folge verloren hatte, unter anderem jenes bei Union. Die 0:1-Niederlage im Lokalderby war aber nicht nur Teil der Niederlagenserie gewesen, sie hatte gezeigt, dass die großen Ambitionen, die mit dem Einstieg des Investors und den neuen finanziellen Möglichkeiten verbunden waren, und die sportliche Wirklichkeit nicht zusammenpassten. Die Gesänge vom »Stadtmeister, Stadtmeister, Berlins Nummer eins«, die Hertha auf dem Weg zurück in den Westen hinterhergerufen wurden, durften besonders wehgetan haben.
Klinsmann übernahm mit großer Geste, nannte Hertha einen »Big City Club« und sprach davon, in wenigen Jahren um Plätze in der Champions League mitzuspielen. Er stellte ein neues Trainerteam zusammen, und im Winter gab der Klub fast 80 Millionen Euro für neue Spieler aus, so viel wie kein anderer Verein auf der Welt es in der Transferperiode getan hatte. Die Leistungen blieben dennoch bescheiden, und drei Tage nach einer Heimniederlage gegen Mainz, als zur gleichen Zeit Union in Bremen siegte, hatte Klinsmann via Facebook seinen Rücktritt verkündet, ohne es vorher jemanden beim Klub wissen zu lassen. Hertha und der Investor waren düpiert.
Ich hatte erwartet, dass Zingler vielleicht spöttische Bemerkungen machen würde, aber das lag ihm fern. Er hatte überlegt, Herthas Präsidenten Werner Gegenbauer zu schreiben, den er persönlich sehr schätzte, sich aber dagegen entschieden. »Aber das ist eine Woche, in der man selbst noch einmal gut reflektieren kann, wer man ist«, sagte er. Auch Union, so erzählte Zingler, bekäme immer wieder Angebote von Investoren, sich an dem Klub zu beteiligen. Prinzipiell hätte er nichts gegen Investoren einzuwenden, aber für ihn ging es um die Frage: »Wer hält die Kontrolle? Wir leihen uns auch Geld, aber wir holen uns niemanden ins Haus, der mitbestimmt.« Inzwischen kannte ich diese Denkweise bereits, nach seiner Ansicht musste »der Verein« immer die Kontrolle behalten, das galt auch gegenüber Spielern und Trainern. Dass einer wie Klinsmann den Verein vorgeführt hatte, war für Zingler komplett inakzeptabel.
»Wir haben mal nur einen Tag davorgestanden, Felix Magath zu verpflichten«, erzählte er mir unvermittelt. Das lag fast sechs Jahre zurück, Union hatte damals den jungen Trainer Norbert Düwel unter Vertrag, über den im Klub immer noch alle sehr lobend sprachen, obwohl er letztlich am Widerstand aus der Mannschaft gescheitert war. Vor einem Spiel gegen den SV Sandhausen hatte Unions Präsidium geplant, ihn im Fall einer Niederlage durch Magath zu ersetzen. Alles war vorbereitet gewesen, Magath hätte am kommenden Tag anfangen können. Ich war verblüfft, weil Magath eigentlich nur Spitzenteams trainiert hatte, mit dem FC Bayern und dem VfL Wolfsburg war er Deutscher Meister geworden.
Weil Union das Spiel gegen Sandhausen gewann, blieb Düwel. »Hinterher haben wir uns gefragt, ob das mit Magath gut gegangen wäre«, sagte Zingler. Das war keine Kritik an Magath, mit dem er seitdem einen regelmäßigen persönlichen Austausch hatte. Aber Magath war als Trainer ein typischer Autokrat mit dem Wunsch nach totaler Kontrolle .
Fast zwangsläufig landeten wir mal wieder bei der Identitätsfrage. Ich hatte den Eindruck, dass Zingler sich stets neu fragte, was für ein Klub Union war, wofür er stand und welche Folgen das für seine Entscheidungen hatte. »Sind wir ein Golf oder ein Maybach? Können wir aus einem Golf einen Maybach machen? Und wollen wir das überhaupt?«, fragte er. Ich antwortete darauf, dass der SC Freiburg in den 1980er-Jahren noch ein namenloser badischer Provinzverein gewesen und heute ein etablierter Erstligist sei. Er hatte sich also, wenn man im Bild bleiben wollte, von einem Fiat 500 in einen Volvo verwandelt. Warum also sollte sich Hertha nicht von einem Mittelklassewagen in eine Luxuslimousine verwandeln. Vielleicht mussten sie das sogar, um die 80000 Plätze im Olympiastadion füllen zu können. Und dazu brauchte man Stars.
Meiner Ansicht nach war Union hingegen ein Klub, der keine Stars brauchte. »Was sind denn Stars?«, fragte Zingler zurück. Leute, die das Publikum kennt und mit denen es etwas verbindet, antwortete ich. Spieler oder Trainer, derentwegen Leute ins Stadion kommen, weil man die sehen will, über die viel gesprochen wird. Zingler zuckte mit den Achseln: »Für mich ist unser Trainer ein Star.« Das stimmte, weil Urs Fischer von den Anhängern des Klubs geliebt wurde. Das galt auch für Michael Parensen, weil er so lange da war und sich die Fans mit ihm identifizieren konnten. Sebastian Polter war hier ein Star, obwohl er so selten spielte. Aber sie waren keine Stars, zu denen das Publikum aufschaute, weil sie so tolle Sachen konnten und dadurch zu medialen Erscheinungen wurden. Sie strahlten kaum über Köpenick hinaus. Die Ausnahme war Neven Subotic, dessen Namen auch schon mal jene gehört hatten, die sich nicht so genau für Fußball interessierten. Aber Subotic war halt ein Antistar.
Hertha lieferte ein interessantes Gegenbild zu Union, weil der Begriff vom »Big City Club« mit dem Versprechen von Glamour und Stars einherging. Dagegen war nichts einzuwenden, es gehorchte nur einer anderen Logik, nämlich der des Unterhaltungsgeschäftes .
Zingler beendete die vormittägliche Reflexionsrunde mit den Worten: »Für Leverkusen habe ich ein gutes Gefühl.« Ich nickte, denn ich hatte es auch, obwohl ich morgens in der Mannschaftsbesprechung an einem Sättigungspunkt angekommen war. Inzwischen konnte ich sagen, wohin ein Spieler hätte laufen müssen, wohin er hätte spielen müssen und wohin auf keinen Fall. Ich hatte das jetzt drin.
Nach dem Spiel gegen Leverkusen umfasste mich eine seltsame Melancholie. Mir kam es so vor, als wäre Union am 22. Spieltag, also nach zwei Dritteln der Saison, am Ziel angekommen. Noch nie hatte ich diese Mannschaft so gut spielen sehen. Das Resultat, eine 2:3-Niederlage, war eher eines dieser Irrtümer, die im Fußball unablässig produziert werden. Noch vor Wochen hatte ich mir nicht vorstellen können, dass die Spieler zu dieser Leistung gegen eine der besten Mannschaften der Bundesliga in der Lage wären, und dachte jetzt: Das ist eine richtige Bundesligamannschaft und kein Underdog, der untaugliche Mittel mit viel Herz und Zusammenhalt wettmachen muss. Die Mittel waren absolut bundesligatauglich, und die Spieler waren es auch. Gerade all jene, die vorher nie in der Bundesliga gespielt hatten: Es hatte sie keine Laune des Schicksals in diese Spielklasse geführt, sondern sie konnten mithalten, Woche für Woche. Und vielleicht würde der eine oder andere noch ein Star werden.
Ich stand in der Kabine, in der es alle eiliger als sonst hatten, weil es noch zum Mannschaftsabend gehen würde, erst in ein Restaurant in Kreuzberg und danach in einen Klub in Mitte, und ich hatte plötzlich das Gefühl, die Geschichte der Saison sei schon vorbei. Ich hatte sie als Welpen in die Bundesliga ziehen sehen, und nun waren sie Männer nach der Arbeit, die am 22. Spieltag der Bundesliga leider verloren hatten, die aber nicht an sich, an ihrem Team und dem Weg, den ihnen ihr Trainer vorgegeben hatte, zweifeln mussten. Die nicht auf dünnem Eis unterwegs waren und ständig Angst haben mussten einzubrechen.
Aber ganz so einfach war es dann doch nicht.