Erstaunlich bei der Autogrammstunde im Supermarkt war, dass Sebastian Polter nicht dort gesessen hatte, und noch erstaunlicher war, dass nicht er das Gesicht und der Pappaufsteller dieser Klebebild-Kampagne war. Entschieden worden war das schon zu Beginn der Saison, als noch gar nicht absehbar war, dass es für Unions populärsten Spieler ein nicht ganz einfaches Jahr werden sollte.
Polter war 1,92 Meter groß, wirkte aber größer. Er hatte altmodisch stämmige Beine und einen mit vielen Tätowierungen versehenen Körper. Der wuchtige Eindruck verflog jedoch, wenn man mit ihm sprach. Er hatte eine sanfte Stimme, tief und warm, ich erlebte ihn fast immer als freundlich und höflich. Von allen Spielern bei Union war er derjenige, der am liebsten Fußballstar war. Vielen seiner Kollegen mochte es insgeheim gefallen, dass sie erkannt und hofiert wurden, dass man sie nach Selfies fragte oder dass sie allein durch ihre Anwesenheit bei den Leuten für eine Grundaufregung sorgten. Aber Polter erfüllte es, einer der Publikumslieblinge An der Alten Försterei zu sein. Er schien sich zu freuen, wenn ihn Fans in ein Gespräch verwickeln wollten, und ließ sich geduldig mit ihnen fotografieren. Er unterhielt sich bereitwillig mit den Journalisten, manche von ihnen riefen ihn einfach an, und so gab es über ihn mehr zu lesen als über die meisten anderen Spieler.
Selbst während des Spiels war Polter im Dialog mit dem Publikum, wo viele seiner Kollegen das Drumherum nur am Rande registrierten. »Ich bekomme mit, was auf den Rängen passiert, und lasse mich davon auch leiten, vom Raunen der Zuschauer, von den Gesängen, vom Jubel«, hatte er mir im Winter erzählt, als wir uns während des Trainingslagers zum ersten Mal länger unterhielten.
Zum Teil erklärte sich seine Popularität dadurch, dass er als Mittelstürmer für die Tore sorgte, die das Publikum bejubeln konnte.
2014 hatte er schon mal für ein Jahr bei Union gespielt, er war damals vom Bundesligisten Mainz ausgeliehen gewesen und hatte 14 Tore geschossen. Union hatte sich eine feste Verpflichtung aber nicht leisten können, und Polter wechselte zu den Queens Park Rangers in die zweite englische Liga. 2017 kehrte er nach Berlin zurück. Zingler war persönlich zu ihm nach London gefahren, um Polter von dem Wechsel zu überzeugen. Für den bis dahin teuersten Transfer der Vereinsgeschichte überwies Union eine Ablösesumme von 1,6 Millionen Euro.
Innerhalb von zweieinhalb Jahren schoss er in der Zweiten Liga 26 Tore, und das, obwohl er in der Aufstiegssaison wegen eines Achillessehnenrisses sechs Monate gefehlt hatte. Polter hatte auch das erste Tor der neuen Saison geschossen, im Testspiel gegen die Dänen aus Bröndby. Anschließend allerdings traf er nur noch zweimal, jeweils per Elfmeter. Einen Strafstoß hatte er bei der 1:2-Niederlage in München verwandelt, den zweiten eine Woche später im Derby gegen Hertha BSC
– das Siegtor und sein Moment der Saison. Nur zweimal hatte er bei Bundesligaspielen in der Startelf gestanden, im Pokal war er keine Minute zum Einsatz gekommen, von den drei Mittelstürmern war er die Nummer drei. Dennoch wurde kein Trikot so oft verkauft wie das mit seinem Namen auf dem Rücken.
Ich fragte mich, wann seine Saison eigentlich die falsche Ausfahrt genommen hatte, und dachte manchmal an jenen Samstagmorgen im November, als die Mannschaft im Essraum zur üblichen Besprechung vor einem Heimspiel zusammengekommen war. »So beginnen wir«, sagte Fischer, wie er das am Spieltag immer sagte, und Wittmann zeigte wie immer die Mannschaftsaufstellung. Sebastian Polter, so war es der Grafik zu entnehmen, würde gegen Borussia Mönchengladbach als zweite Spitze neben Sebastian Andersson anfangen. »Ich sehe meinen Namen, und mein Herz geht auf«, erzählte mir Polter. Nur ging sein Herz zu Unrecht auf, denn ein Fehler hatte sich eingeschlichen. Nicht er, sondern Anthony Ujah stand in der Startformation.
Als Einzigem im Trainerteam fiel Bönig das auf, doch er
verpasste den richtigen Moment zur Korrektur. Erst als er zum Ende wie üblich die Standardsituationen vorstellte, sagte er: »Jungs, uns ist da ein Fehler unterlaufen. Wir beginnen mit Tony und nicht mit Polti.« In dem Moment reagierte im Raum niemand, doch hinterher zogen einige Spieler Polter damit auf. Ich bekam mit, wie Manuel Schmiedebach zu Markus Hoffmann sagte: »Was willst du dafür, dass du Polti gleich im Spiel zur Auswechslung holst und sagst: ›Ach nee, wir haben es uns anders überlegt.‹«
»Für mich war das damals ein Amateurfehler«, sagte Polter, und das teilte er dem Trainerteam auch mit. Sie entschuldigten sich bei ihm, aber in der Woche danach meldete sich sein Berater und sagte: »Ich werde nicht zulassen, dass Sebastian Polter bei Union ein 08/15-Spieler wird.« Den Bedeutungsverlust hatte er damit nicht aufhalten können. »Ich war nie drin in der Saison. Ich bekam nie das Gefühl vermittelt: Du bekommst eine Chance«, fasste Polter seine Wahrnehmung zusammen. Er hätte in der Vorbereitung die meisten Tore geschossen und seiner Meinung nach auch die konstantesten Leistungen gezeigt. »Wenn du dann vorm ersten Spiel gesagt bekommst ›Du bist nur Stürmer Nummer drei‹, ist das ein Schlag ins Gesicht.«
Es war nicht so, dass Polter sich hängen ließ, aber er war nicht der Typ Spieler, der sich übers Training so anbot, dass die Trainer eine Idee mit ihm bekamen. »Ich habe nie konstant stark trainiert, auch früher nicht, aber ich war bei den Spielen immer da«, sagte er. Im Wintertrainingslager in Spanien hatte ich ihn bedauert, weil ihm für jeden sichtbar kaum was gelang. Das mochte auch damit zu tun haben, dass ihm Manager Ruhnert eine Verlängerung seines auslaufenden Vertrages in Aussicht gestellt hatte, um ihn als Identifikationsfigur zu binden, allerdings sollte darüber erst nach Saisonende gesprochen werden. Außerdem würde das Angebot deutlich leistungsbezogener ausfallen, bislang war Polter der bestbezahlte Spieler im Team. »Aber das ist für mich keine Wertschätzung«, sagte er mir.
»Es gibt Spieler, die das Gefühl brauchen, Stammspieler zu sein«, hatte mir Bönig erklärt, und Polter sei so einer. Ich fand das eine
faszinierende Logik, wie es sie vielleicht nur im Fußball gab. Wie sollte der Trainer ihm das Gefühl geben, ein Stammspieler zu sein, wenn er nicht sonderlich überzeugend trainierte? Das wäre unfair gegenüber den beiden anderen Stürmern gewesen. »In den Fluss bin ich nicht reingekommen, weil ich den Vertrauensvorschuss nicht bekommen habe. Den hatte ich die Jahre zuvor und habe ihn auch klar zurückgezahlt«, sagte Polter. Vielleicht war der angebliche Vorschuss in der Vergangenheit aber auch nur deshalb zustande gekommen, weil Polter vorher durch Tore eingezahlt hatte.
Am Tag nach der Autogrammstunde im Supermarkt erschien ein großes Interview mit Polter in der »Berliner Morgenpost«, einer Lokalzeitung. Er hatte es nicht mit dem Verein abgesprochen, wie das eigentlich vertraglich vorgesehen war. Er beklagte darin das fehlende Vertrauen in ihn und kündigte an, dass er Union zum Saisonende verlassen würde. Nicht nur ich stellte mir die Frage, welches Ziel er damit verfolgte. Der ebenfalls um einen neuen Vertrag ringende Rafał Gikiewicz sagte zu mir: »Kannst du nicht machen, hast du keine Argumente.«
Aber vielleicht ging es gar nicht um Argumente. Mir war dieser Schritt in die Öffentlichkeit wie ein Schrei nach Liebe vorgekommen. Eine Reaktion auf den Liebesentzug des Trainers, der ihm kein Vertrauen schenkte, des Managers, der ihm keinen großen Vertrag mehr anbot, des Präsidenten, der sich nicht mehr privat mit ihm traf, wie er das früher mal gemacht hatte. Und vielleicht auch, dass er nicht das Gesicht einer Kampagne war, die der Verein mit einem Sponsor machte. Doch Polter erklärte es anders: »Ich bin ein Mensch, der geradeheraus ist. Und ich musste im Kopf abschließen und das auch nach außen zeigen.« Und war ihm das gelungen? »Ja, danach habe ich mich befreit gefühlt.«