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Das Virus kommt
In Freiburg stand ich in der Straßenbahn, die vom Hauptbahnhof zum Stadion fuhr, und fühlte mich nicht wohl in dieser Situation. Die Leute drängten sich im Waggon, und auf einmal schien das grundsätzlich falsch zu sein, weil plötzlich überall die Rede von einem Virus war, das SARS -CoV-2 hieß und sich angeblich schneller verbreitete als sonstige Grippeviren und viel gefährlicher war. Es löste eine Krankheit aus, die COVID -19 hieß und vor allem die Lunge befiel.
Knapp zwei Wochen zuvor, als ich mit Trimmel und Busk nach Köpenick gefahren war, hatte der Däne sein Smartphone hervorgeholt und Szenen einer Dokumentation aus dem dänischen Fernsehen gezeigt, die in Wuhan gefilmt worden waren, einer Millionenstadt in Zentralchina, von der wir zuvor noch nie gehört hatten. Inzwischen war die Stadt, in der fast elf Millionen Menschen lebten, wegen eines Virusausbruchs geschlossen worden. Niemand durfte mehr vor die Tür gehen, und Busk zeigte uns Bilder, wie Kranke aus ihren Häusern gezerrt und von Leuten mit Atemschutzmasken in Wagen geschafft und abtransportiert wurden. Es sah wie in einem dieser apokalyptischen Filme aus, in dem die Menschheit verzweifelt ums Überleben kämpft. Als wir uns das anschauten, hatte das sehr fern gewirkt. Aber dann gab es auch in Deutschland einige Fälle, erschreckend viele in Norditalien, aber teilweise auch im Elsass, nicht so weit von Freiburg entfernt.
Ich versuchte, mich in der Straßenbahn von den Mitfahrern abzuwenden, schaute angestrengt aus dem Fenster und war erleichtert, als wir endlich an der Haltestelle ankamen, von der es nur noch wenige Meter bis zum Stadion waren.
Noch waren Händeschütteln und Abklatschen nicht tabu, aber ein gewisses Unbehagen hatte sich schon eingeschlichen.
Für Union waren die Tage in Freiburg nicht so gut verlaufen, wie ich nach Fischers Mannschaftssitzung nach dem Pokalspiel in Leverkusen vermutet hatte. Wir waren erst nach Basel geflogen und von dort nach Freiburg gefahren, wo der Himmel grau war und es regnete. Die Spieler mochten das Hotel nicht, wo die Zimmer klein, die Betten zu hart und das Essen mittelmäßig war. Freitags trainierten sie auf dem Platz eines Amateurklubs vor den Toren der Stadt zwischen einer Bahnlinie, Containern und einer Anlage für Altpapierverarbeitung, es war bitterkalt und zog lausig.
So ganz war die Niederlage in Leverkusen nicht abgearbeitet, Trimmel war immer noch sauer auf Gikiewicz, der öffentlich die Fehler der Mitspieler beklagt hatte. »Jetzt habe ich mal einen Fehler gemacht, und man merkt gleich, wie Einzelne rausgepickt werden«, sagte er. Für seine Verhältnisse war er geradezu aufgebracht. Das Spiel beim Sportclub schließlich passte zur bedeckten Stimmung, die 1:3-Niederlage war verdient und eine der schlechtesten Leistungen der Saison. Es war von beiden Seiten kein sonderlich gutes Spiel gewesen, aber Freiburg war ekliger und entschlossener gewesen. Im dritten Anlauf hatten sie es endlich geschafft, Union mit den eigenen Waffen zu schlagen.
Ich fuhr nach dem Spiel mit Dirk Zingler und Marc Lettau, dem Assistenten von Oliver Ruhnert, zum Flughafen in Basel, wir checkten ein, was auch für gecharterte Flugzeuge nötig war. Doch an der Sicherheitskontrolle konnte das Personal mit unseren Bordkarten nichts anfangen, unser Flugzeug gab es angeblich nicht. Als es endlich doch im System auftauchte, gingen wir zum Gate und machten uns auf den Heimweg. Kurz vor der Landung in Berlin bat ich die Stewardess, ein Taxi vorzubestellen, wie uns das letztes Mal gesagt worden war. Aber sie schaute mich befremdet an und sagte, dass wäre nicht möglich. Ich kam mir wie ein Schnösel vor, der absurde Wünsche äußerte.
Vier Tage später war endlich wieder ein schöner Tag. Es regnete nicht, zwischendurch schien sogar die Sonne, und wenn der Wind eine Pause machte, fühlte es sich an, als ob der Frühling begonnen hätte. »Die Sonne macht schon mal vierzig Prozent bessere Laune«, sagte Robert Andrich, als er im Stadion am Seitenrand stand, mit dem Ball jonglierte und darauf wartete, bei der nächsten Trainingsübung wieder auf den Platz zu kommen. Fischer ließ das Anlaufen gegen die Bayern üben, das Umschaltspiel, und auch sonst sollte dieses Training das Spiel gegen den größten Klub des Landes simulieren.
Am Tag zuvor hatte das Bezirksamt Köpenick verkündet, dass Zuschauer zu diesem Spiel zugelassen seien, obwohl wegen des Coronavirus nach und nach fast überall in der Bundesliga die Zuschauer ausgeschlossen worden waren. Zingler hatte zum ersten Mal in der Saison der Instinkt für die richtigen Worte verlassen, als er Journalisten sagte: »Herr Spahn hat ja auch nicht empfohlen, dass BMW die Produktion in Berlin einstellt. Dann kann er uns auch nicht empfehlen, dass wir unseren Betrieb einstellen.« Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hatte empfohlen, Veranstaltungen mit mehr als 1000 Besuchern abzusagen. Auf Zinglers Äußerung hin war ein Shitsorm losgegangen, sogar ich hatte wütende Nachrichten bekommen, ob sie bei Union noch alle Tassen im Schrank hätten. Ich wollte gar nicht wissen, was Zingler selbst sich anhören musste.
Seit der Rückkehr aus Freiburg war ich nicht mehr bei der Mannschaft gewesen. Nicht am Sonntag, am Montag und Dienstag. Längst war die Welt eine andere geworden, in der es darum ging, die Verbreitung des Coronavirus zu verlangsamen. Vor allem aus Norditalien kamen schreckliche Nachrichten. Es hatte sich daher schon montags falsch angefühlt, dass in Stuttgart noch ein Zweitligaspiel in einem voll besetzten Stadion ausgetragen worden war und dienstags RB Leipzig gegen Tottenham Hotspur in der Champions League vor Zuschauern spielen durfte. Für den Mittwochabend waren erstmals Zuschauer ausgeschlossen worden, in der Bundesliga beim Nachholspiel zwischen Borussia Mönchengladbach und dem 1. FC  Köln und in der Champions League zwischen Paris St. Germain und Borussia Dortmund.
Dieses Virus war auf dem Weg zu uns, und langsam rückten wir auseinander. Inzwischen war ich nicht mehr einer der wenigen, die das Desinfektionsmittel am Eingang der Tribüne benutzten. Wir klatschten morgens nicht mehr ab, sondern gaben uns nur noch Fistbumps mit unseren desinfizierten Händen.
Am Mittwochmorgen wurde für 9.20 Uhr kurzfristig eine Mannschaftsbesprechung in der Kabine angesetzt, nicht im Essraum. Wittmann fuhr sein Pult und sein Laptop hinein und schloss es an den Bildschirm an, auf dem Urs in der Halbzeitpause sonst seine taktischen Erklärungen machte. Er konnte dort auf dem Bildschirm Striche und Pfeile einzeichnen. Aber relativ schnell wurde klar, dass Fischer etwas anderes umtrieb als das richtige Anlaufen des Gegners, das Verschieben und Durchsichern. »Sind wir immer noch auf dem gleichen Weg?«, fragte er, nachdem er ein paar Szenen gezeigt hatte. »Sind wir immer noch der Meinung, es ist eine Sensation, wenn Union die Klasse hält? Oder ist es eine Katastrophe, wenn wir absteigen?«
Er schaute sich um. »Herr Andrich, was hast du im Kopf? Ist das eine Katastrophe?« Adrian sagte, dass er einen Abstieg angesichts der guten Tabellenposition und der 30 Punkte schon enttäuschend fände. Auch Neven Subotic meldete sich, dass wir eigentlich im grünen Bereich wären. So richtig zufrieden war Fischer nicht mit diesen Antworten. »Urteilen wir immer noch gleich? Akzeptieren wir, dass wir in jedem Spiel der Underdog sind? Ich glaube schon: Wir sind immer noch die Gleichen. Wenn wir gegen Freiburg spielen, ist Freiburg ein Highlight, nicht nur die Bayern. Wenn wir es packen, ist das eine Sensation. Mit unseren Mitteln, und die sind laufen, laufen, laufen. Und lange Bälle. Nicht Spielfortsetzung, sondern eklig zu sein.«
Ich verstand, worauf er hinauswollte, und fühlte mich selbst erwischt. Es war mittlerweile auch mein Gefühl gewesen, dass Union inzwischen eine ganz normale Bundesligamannschaft war, die mit fast jedem Gegner mithalten konnte, wenn auch mit ihren Mitteln. Als Sebastian Bönig die Kabine verließ, sagte er im Vorbeigehen zu mir: »Ich glaube, das hat jetzt nicht zur Stimmung der Mannschaft gepasst.« Das sagte er wohl auch Fischer, denn einige Minuten später rief er mich ins Trainerzimmer: »Christoph, komm mal!« In den vorangegangenen siebeneinhalb Monaten hatte Fischer mich nie nach meiner Meinung gefragt, aber jetzt tat er es: »Wie hast du das gerade empfunden?«
Ich hatte hinten gesessen und nicht die Gesichter aller Spieler gesehen. Ich hatte nicht genau verstanden, was Subotic gesagt hatte, aber Fischers Botschaft durchaus. In Freiburg war Union dem Gegner zum ersten Mal seit langer Zeit in dem unterlegen gewesen, was eigentlich die Stärke der Mannschaft war. Freiburg war mehr gelaufen, hatte mehr Zweikämpfe gewonnen, war ekliger gewesen. Fischer hatte es nicht gefallen, dass sich der Mannschaftsrat bei ihm über das Hotel in Freiburg beschwert hatte. »Das waren immer noch sechs Sterne im Vergleich zum Hotel am Müggelsee«, sagte er und zuckte mit den Achseln.
Ich verstand ihn, aber ich verstand auch die Spieler und sagte: »Du bist wie ein Lehrer, der einer Klasse, die glaubt, im Leistungskurs zu sein, wieder mit Inhalten des Grundkurses kommt.« Fischer nickte. »Aber es ist wahrscheinlich sogar richtig, denn sie haben immer dann gut gespielt, wenn sie über den Grundkurs gekommen sind, und nicht umgekehrt«, sagte ich.
Später auf dem Trainingsplatz sah man die aktuellen sportlichen Probleme. Gikiewicz brachte im Moment kaum einen der langen Abschläge zu Andersson, dem Zielspieler. Schon in Freiburg hatte er große Probleme mit diesen Bällen gehabt, die so wichtig für das Spiel der Mannschaft waren. Flogen sie ins Aus oder landeten sie bei einem Mitspieler, der im Kopfballduell nicht so gut war wie der Schwede, ging ein wichtiger Teil des Spielkonzepts nicht auf, und die Mannschaft musste viel Energie aufwenden, um sie zurückzuerobern.
Bei der Sitzung nach dem Spiel in Freiburg war Gikiewicz von Fischer deutlich dafür kritisiert worden, was wohl auch eine erzieherische Maßnahme war, weil der Pole nach der Partie wieder einmal zu laut die Fehler seiner Mitspieler benannt hatte. Andererseits hatte der Trainer den Mannschaftsrat einbestellt, um zu besprechen, wie man Gikiewicz helfen konnte, wieder seinen Fokus zu finden. Inzwischen war im Prinzip klar, dass sein Vertrag nicht verlängert werden würde, trotzdem brauchten sich beide Seiten. Union benötigte den besten Gikiewicz, um die Saison erfolgreich zu Ende zu bringen, und ihm würde es helfen, anderswo einen so gut dotierten Vertrag zu bekommen, wie er sich das vorstellte.
Doch im Moment hatte ich den Eindruck, dass es zwischen Trainer und Keeper knirschte. Fischer stand am Seitenrand und fluchte halblaut vor sich hin, wenn Gikiewicz den Ball mal wieder nicht dahin schlug, wohin er hätte hinkommen sollen. Und der Keeper fragte mich, als ich bei einer Flankenübung hinter dem Tor stand: »Warum ist der Trainer so nervös?«
In einer normalen Woche wären das die Probleme gewesen, die man irgendwie zu lösen versucht hätte. Doch das, was normal war, änderte sich gerade fast stündlich. Morgens in der Trainerrunde hatte Fischer gesagt, dass er sich kaum vorstellen könne, dass samstags gegen die Bayern vor Publikum gespielt würde, und während des Trainings kam die Bestätigung. Das Bezirksamt Treptow-Köpenick teilte via Twitter mit: »Aufgrund einer Anordnung unseres Amtsarztes wird das Spiel @fcunion/@FCB ayern unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden!« Fischer hatte das Training da schon ins Stadion verlegt, um die Spieler an die Atmosphäre zu gewöhnen, vor leeren Rängen zu spielen.
Keine zwei Stunden später, während der Mittagspause, wurde gemeldet, dass sich ein Spieler von Hannover 96 mit dem Coronavirus infiziert hatte. Florian Hübner skypte daraufhin in der Sofaecke mit einem ehemaligen Mannschaftskameraden in Hannover. Sie machten Witze darüber, in welchem Nachtklub der Spieler sich wohl angesteckt hatte. Zum Glück hatte der Hannoveraner Profi schnell genug reagiert und den Kontakt zum Rest der Mannschaft gemieden. Es war aber trotzdem nur eine Frage der Zeit, wann die erste Mannschaft in Quarantäne würde gehen müssen.