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Abschlusstraining
Abends schaute ich mir das erste Bundesligaspiel in 57 Bundesligajahren, das ohne Zuschauer ausgetragen wurde, im Fernsehen an. Man sah leere Sitzschalen, hörte die Rufe der Spieler und Trainer, zwischendurch rief jemand »Come on, FC !«. Der 1. FC  Köln verlor trotzdem, und die Spieler von Borussia Mönchengladbach verließen hinterher den Platz, gingen die leeren Ränge der Nordkurve hoch, um mit einigen Hundert Fans zu feiern, die draußen im Regen gewartet hatten, was nun nicht der Idee entsprach, dass Menschen voneinander Abstand halten sollten, um das Virus nicht zu verbreiten.
Am Donnerstagmorgen eröffnete Fischer die Besprechung mit der Frage: »Was meint ihr? Ist Corona ein Riesenthema?« Christian Gentner sagte, dass es schon möglich sei, sich auf das Spiel zu konzentrieren, »wenn es stattfindet«. Es waren noch zwei Tage bis zur Partie gegen Bayern, doch wirkte es jetzt schon absurd, dass sie stattfinden sollte. Es wirkte auch absurd, dass Fischer Videosequenzen der Bayern vorstellte und darüber sprach, sie zu stressen und ihren Rhythmus zu brechen. Wie nicht anders zu erwarten, tat er seine Pflicht, und pflichtschuldig hörten die Spieler zu, aber ich zweifelte daran, dass sich jemand in diesem Raum richtig darauf konzentrieren konnte. »Versucht, euch über das Spiel zu unterhalten und nicht über jede neue Nachricht«, sagte der Trainer am Ende der Besprechung. Es klang wie eine Beschwörung.
Als ich am Freitagmorgen mit Verspätung auf den Trainingsplatz kam, überholte mich Hannes Hahn. »Wird gespielt«, sagte er mir im Vorübergehen und steuerte auf Fischer zu. Die Spieler unterbrachen ihre Übung, schauten zu Hahn hinüber, und weil er weder etwas sagte noch eine erklärende Geste machte, blickten sie mich an. Neven Subotic bewegte seine ausgestreckten Hände übereinander hin und her und zog fragend die Schultern hoch. Ich schüttelte den Kopf. Dann rief Fischer die Spieler kurz zusammen und sagte ihnen, dass die DFL beschlossen hatte, dass gespielt werden würde.
Ich setzte mich auf die Bank, wo Martin Krüger wie üblich die Pulsrate der Spieler im Auge behielt. Adrian Wittmann schwenkte die Kamera oben auf dem Mast. Fischer stand auf unserer Seite des Spielfelds an der Mittellinie, Sebastian Bönig ein paar Meter weiter links auf Höhe des Strafraums. Markus Hoffmann schaute dem Spiel von der anderen Seite aus zu, und Michael Gspurning hatte sich neben eines der Tore gestellt. Es war also wie immer bei den fast 30 Abschlusstrainings, die es in dieser Saison gegeben hatte.
Nachdem die Nachricht gekommen war, dass nun definitiv gespielt würde, zog das Training an und wurde richtig gut. Es würden am nächsten Tag keine Zuschauer im Stadion sein, aber immerhin würde es gegen die beste deutsche Mannschaft gehen. Dann verließen die meisten Spieler den Platz und nahmen den Weg zurück in die Kabine. Wie üblich blieben nur jene, die an den Standardsituationen beteiligt waren. Mannschaftskapitän Christopher Trimmel schlug die Flanken wie immer, und die andere liefen so in diese Flanken hinein, wie es ihnen Bönig vorher gezeigt hatte. Dann war das Abschlusstraining vorbei, und das Wort sollte eine andere Bedeutung bekommen. Es würde nämlich fast zwei Monate dauern, bis wieder alle zusammen trainieren würden.
Dirk Zingler kam und diskutierte mit den Trainern und Oliver Ruhnert die Situation. Morgens hatte das Bundesland Bremen das Heimspiel von Werder abgesagt, zuvor waren der Zweitligist aus Hannover wegen des infizierten Spielers doch in Quarantäne geschickt worden und die Mannschaft des 1. FC  Nürnberg auch. Während wir zusammensaßen, hieß es plötzlich, dass auch Steffen Baumgart, der Trainer des SC Paderborn, mit dem Virus infiziert sei oder einer seiner Spieler. Paderborn sollte abends bei Fortuna Düsseldorf spielen. Es wurde diskutiert, wie viele Tage sie der Mannschaft nach dem Bayern-Spiel freigeben sollten. Ruhnert plädierte für zwei freie Tage: »Die brauchen mal Abstand, weil sie seit Tagen über das immer Gleiche reden.«
Währenddessen passierte das, was ich schon häufiger beobachtet hatte. Zingler nutzte das Gespräch, seine Gedanken zu ordnen, quasi mit sich selbst zu debattieren, und kam schließlich zu einem Entschluss: »Ich rufe jetzt mal Seifert an.« Offensichtlich wollte er den Geschäftsführer der Deutschen Fußball Liga davon überzeugen, den Spieltag komplett abzusagen: »Er kämpft um jedes Spiel, aber es geht nicht nur um den wirtschaftlichen Schaden, sondern auch um den ideellen.« Es fühlte sich inzwischen ganz und gar falsch an, dass am nächsten Tag ein Fußballspiel stattfinden sollte. Die Spieler waren mit ihren Gedanken woanders, und auf der Austragung unbedingt beharren zu wollen, vermittelte in der Öffentlichkeit den Eindruck, als ginge es den Bundesligisten nur ums Geld, also darum, wenigstens die Einnahmen aus den Fernsehverträgen weiter kassieren zu können. Ich zeigte Zingler, was Thiago gerade getwittert hatte, der spanische Mittelfeldspieler des FC Bayern: »Das ist verrückt. Bitte hört auf, Witze zu machen, und stellt euch der Realität. Ehrlicherweise gibt es viel wichtigere Prioritäten als Sport.«
Die Spieler von Union empfanden es ähnlich. Trimmel rief nachmittags noch mal den Trainer an: »Nach dem Training war die Stimmung zu 100 Prozent, dass wir nicht spielen wollen.« Auch Michael Parensen hatte sich beim Präsidenten gemeldet, um seine Bedenken loszuwerden, und Rafał Gikiewicz ging wieder mal gleich in die Öffentlichkeit. »Fußballer werden in dieser Situation behandelt wie Affen im Zirkus«, twitterte er.
Als ich das Stadion verließ, zeigte mir Hannes Hahn noch eine Nachricht, die er von einem Bayern-Fan bekommen hatte, den er persönlich nicht kannte. Er schrieb: »Ich weiß, dass ich mir wahrscheinlich selbst ins Knie schieße … aber anders kann ich dir nicht sagen, was mir das morgen bedeutet … wenn ich morgen reinkommen würde, zahle ich dir 10000 €.« Der Absender hatte erfahren, dass Hahn, der Bayern-Fan war, die Liste jener Journalisten betreute, die zum Bayern-Spiel ins Stadion kommen durften. Doch zwei Stunden später hätte auch ein noch wilderer Bestechungsversuch nichts mehr ausrichten können. Um 16.12 Uhr, zweieinviertel Stunden vor Beginn der Freitagsspiele in der Zweiten Bundesliga, wurde der Spieltag in den beiden Bundesligen komplett abgesagt und der fürs folgende Wochenende ebenfalls.