Am Samstagmorgen, dem 14. März 2020, schien die Sonne in einer so sagenhaften Unverschämtheit vom Himmel, dass man ihr am liebsten eine reingehauen hätte. Was für ein wunderbares Frühlingslicht warf sie auf das Stadion An der Alten Försterei, und wie großartig wäre es gewesen mitzuerleben, wie die Sonne sich zum Abend langsam zurückgezogen hätte, um dem Gleißen der Flutlichtmasten Platz zu machen. Mit klopfenden Herzen, voller Vorfreude und Stolz wären die Menschen gekommen, um ihre Mannschaft gegen den FC
Bayern spielen zu sehen, den größten und erfolgreichsten Klub des Landes. Und sie würden nicht zu einem Freundschaftsspiel kommen, sondern zum 26. Spieltag der Bundesligasaison 2019/20. Aber nun saßen wir morgens im fensterlosen Essraum, vampirhaft vor dem Sonnenlicht versteckt, damit wir nicht zu Staub zerfielen, weil man uns nicht mehr brauchte.
Der Fußball in Deutschland stand nun komplett still, alle Spiele von der Bundesliga bis zur untersten Spielklasse waren abgesagt worden. Der Raum war gerammelt voll mit Spielern, Trainern und Betreuern. Wir trugen an diesem Vormittag, an dem wir für lange Zeit zum letzten Mal zusammenkamen, eng beieinandersaßen und frühstückten, schon nicht mehr unsere Rudelkleidung, abgesehen von Susi, Svenni und der medizinischen Abteilung. Sebastian Andersson und Yunus Malli hatten, vielleicht aus einem Reflex, ihre Trainingshemden angezogen. Der Rest waren nun Privatleute in Sweatshirts, Hoodies oder sportlichen Pullovern, auf denen Balenciaga stand, Live Fast oder Maison Kitsune. Junge Männer, die nun in einen Urlaub geschickt werden sollten, der keiner war, nicht so verstanden werden sollte und von dem niemand wusste, wie lange er dauern würde. Vielleicht ging die Saison an diesem Tag sogar zu Ende. Aber wer wusste gerade überhaupt noch was, außer dass man besser noch
Toilettenpapier zu Hause hatte, weil es in den Supermärkten keines mehr gab.
Sicher war nur: Diese jungen Männer würden nach dem Frühstück nicht rausgehen, um anzuschwitzen, ins Hotel zu fahren, einen Mittagsschlaf zu machen oder was immer sie taten, um die Zeit bis zum Anpfiff totzuschlagen, dann mit Svenni ins Stadion zu fahren und schließlich die Bayern wegzuhauen. Oder zumindest vom Sensationssieg zu träumen.
Seltsamerweise überfiel mich Melancholie ausgerechnet angesichts der Schieferplatten, auf denen das immer gleiche Rauchfleisch lag, die Salami und Putenwurst, der Schnittkäse, der so schnell trocken wurde und sich dann wellte, die hart gekochten Eier, die ewige Beerenmischung, das Bircher Müsli, die kleinen Marmeladengläschen mit Schraubverschluss, die Dinkel- und alle anderen Brötchen. Sie hatten sieben Monate lang mit unerschütterlicher Sicherheit in der immer gleichen Anordnung dort gestanden und kamen mir schon jetzt wie die Symbole einer untergehenden Zeit vor.
Bevor wir uns zusammensetzten, hatte Urs Fischer im Trainerzimmer die Straßenroute für den Weg nach Hause in die Schweiz angeschaut, knapp acht Stunden von Berlin nach Zürich. Zum ersten Mal in 19 Monaten bei Union würde er die Strecke mit dem Auto fahren, denn niemand wusste, wie lange noch Flugzeuge fliegen würden. Es war Zeit, zu seinen Familien zurückzukehren.
Doch vorher sprach Zingler zum Team. Er stellte sich an die Wand, und es wurde leise. »Wir haben alle eine schwierige Woche hinter uns. Alle haben sich Sorgen gemacht um Freunde und Familie«, begann er. »Ich finde es nicht gut, wenn wir uns in der Union-Familie in sozialen Medien unter Druck setzen.« Das bezog sich auf den Tweet von Gikiewicz, dass die Spieler keine Affen seien. »Niemand sagt, Gesundheit ist uns weniger wichtig als Geld.« Dann sprach er über die Sorge der 250 Angestellten und freien Mitarbeiter des Klubs um ihre Jobs und wie schwierig es wirtschaftlich würde, wenn die Saison nicht zu Ende gespielt werden könnte. Er rechnete vor, dass fünf bis sieben Millionen Euro
des Gesamtetats fehlen würden. »Wenn das Geld knapp wird, seid ihr zum Schluss dran. Wir kümmern uns erst um die, die es am nötigsten haben. Es ist nicht die Zeit, Ansprüche zu stellen, seid solidarisch, seid solidarisch mit der Kassiererin bei uns an der Stadionkasse oder im Fanshop.«
Ich schaute mich um, wie die Reaktion auf die kurze Rede des Präsidenten ausfiel, bekam aber kein Gefühl dafür. Vielleicht musste es zunächst einmal in die Spieler einsickern, dass Zingler sie darauf vorbereitete, dass die Coronakrise auch für sie wirtschaftliche Folgen haben würde. Es war nicht klar, was das genau bedeutete, aber in diesem Moment musste allen deutlich geworden sein, dass eine ganz andere Art von Abstiegskampf begonnen hatte.
Anschließend erklärte Manager Ruhnert, dass die Spieler keine größeren Reisen unternehmen sollten. »Wir sollten aber auch nicht den falschen Glauben haben, in fünf Tagen ist alles vorbei«, sagte er. Und Fischer sagte, dass man sich am kommenden Freitagnachmittag um halb drei wiedertreffen wolle. Bis dahin sollten die Spieler »den Motor nicht ganz runterfahren. Genießt ein bisschen die Zeit. Es ist wichtig, positiv zu bleiben.« Als Letzter erinnerte Christian Arbeit die Spieler daran, keine unabgesprochenen Interviews zu geben. Sie sollten die Situation auch bitte nicht in den sozialen Medien kommentieren und keine Urlaubsbilder posten, wenn sie wegfahren sollten. »Wir müssen die Ernsthaftigkeit der Situation beachten«, sagte er. Ich fuhr mit Busk und Trimmel zurück und sagte, dass ich mir kaum vorstellen könnte, dass die Saison noch zu Ende gebracht würde. Aber was wusste ich schon?
Zur Mythologie von Union Berlin gehört es, dass dem Verein besondere Momente der Weltgeschichte in die Quere kommen: 1968 gewann der Klub den FDGB
-Pokal, den einzigen Titel der Vereinsgeschichte, an den das Denkmal vor der Haupttribüne erinnerte. Doch als im August dieses Jahres die Truppen des Warschauer Pakts in die ČSSR
einmarschierten, um den Prager Frühling zu beenden, den Versuch, einen »Sozialismus mit
menschlichem Antlitz« zu schaffen, war es mit der Aussicht auf Europapokalspiele vorbei. Der Fußballverband der DDR
zog seine Mannschaften aus Protest zurück, nachdem der europäische Fußballverband UEFA
die Teams aus West- und Osteuropa voneinander getrennt hatte, um politisch aufgeladene Begegnungen zu vermeiden. Am Ende der Saison stieg Union auch noch aus der DDR
-Oberliga ab.
33 Jahre später gab es das europäische Debüt doch. Als unterlegener DFB
-Pokalfinalist durfte Union Berlin im UEFA
-Cup antreten. Doch weil am 11. September 2001 zwei Flugzeuge ins New Yorker World Trade Center geflogen worden waren, wurde die Erstrundenpartie Unions bei Haka Valkeakoski in Finnland verschoben, die für den Tag darauf angesetzt worden war. Die Coronakrise im Jahr der ersten Bundesligazugehörigkeit von Union passte also. »Irgendwas ist immer, wenn wir nach Höherem streben«, sagte Zingler.
Zwei Tage nach dem Treffen in der Kabine flog er nach Frankfurt, um an der Generalversammlung der 36 Profiklubs teilzunehmen. Wie sehr sich alles geändert hatte, merkte ich daran, wie verrückt es mir bereits vorkam, dass er eine Reise im Flugzeug unternahm. Bundesweit waren alle Schulen und Kindertagesstätten geschlossen worden, zunächst bis zum Ende der Osterferien. Viele Firmen schickten ihre Mitarbeiter ins Homeoffice, der Stillstand begann. Es musste verhindert werden, dass sich Hunderttausende Menschen mit einem Virus infizierten, von dem man noch nicht genau wusste, wie es funktionierte. Man wusste nur, dass das Virus weitergegeben wurde, bevor die Krankheit ausbrach, und dass sie für viele Menschen tödlich werden konnte.
Am Tag darauf trafen wir uns in jener Loge, in der ich mit Zingler das erste Bundesligaspiel erlebt hatte, und es fühlte sich bereits befremdlich an, mit einem Dutzend Menschen um einen großen Tisch zu sitzen, selbst wenn der Raum groß war und der Tisch auch. »Corona-Krise Kommunikations-Idee« stand auf dem Bildschirm.
Zunächst referierte Zingler den Vertretern der Abteilungen aber den Stand der Dinge aus seiner Sicht. »Wir befinden uns in einer
dramatischen Situation, denn Unsicherheit ist das Gefährlichste im Geschäftsleben. Daher werden wir Maßnahmen ergreifen, die vom schlimmsten Fall ausgehen«, sagte er. Gemeint war damit der Abbruch der Saison und der Verlust aller ausstehenden Fernsehgelder, Zuschauer- und Sponsoreneinnahmen.
Dann verkündete er, dass die Mitarbeiter der Veranstaltungsgesellschaft in die Kurzarbeit gehen müssten, weil es bis auf Weiteres keine Veranstaltungen im Stadion mehr geben würde. Das Gleiche sollte für die Mitarbeiter im Fanshop und im Nachwuchsleistungszentrum gelten. Die anderen Abteilungen des Klubs müssten im Einzelfall entscheiden. Er ließ es offen, ob der Klub die Einkommensverluste später wieder ausgleichen könnte. Bei Mitarbeitern mit sehr niedrigen Einkommen sollte auf Kurzarbeit möglichst verzichtet werden.
»Was wir uns in den letzten 15 Jahren erarbeitet haben, darf nicht gefährdet werden.« Deshalb sollten ausstehende Rechnungen ab sofort nicht bezahlt werden. »Bist du nicht flüssig, bist du überflüssig. Wir zahlen erst mal gar nichts«, sagte er. »Schon passiert«, sagte Finanzvorstand Oskar Kosche knapp. Es war weniger ein Gespräch, dem ich hier beiwohnte, sondern eine Ansage, und vielen am Tisch wurde erst in diesem Moment richtig klar, wie ernst die Lage war.
Danach stellte Christian Arbeit die Ideen vor, wie der Klub in den kommenden Wochen mit seinen Fans in Verbindung bleiben wollte, zumindest digital. Es gab dazu den Slogan »Warten auf Union«, zu dem mir naheliegenderweise das Theaterstück »Warten auf Godot« einfiel, nach dem Union nie wiederkommen würde.
Zu der Zeit, als eigentlich das Spiel gegen die Bayern ausgetragen worden wäre, war auf der Website des Klubs noch einmal der Aufstiegsfilm »Die Zeit ist nun gekommen« gezeigt worden. Man konnte zu dieser Gelegenheit virtuelles Bier kaufen und virtuelle Bratwürstchen (»Ich habe einen Kesselgulasch gekauft«, sagte Zingler). 4300 Fans hatten zugeschaut und 28000 Euro ausgegeben, also faktisch gespendet. Aber Arbeit war noch etwas wichtiger als die beeindruckenden Einnahmen: »Es war eine reale
Gemeinschaft, obwohl wir uns nicht treffen konnten.« Am kommenden Wochenende, an dem das Berliner Derby stattgefunden hätte, wollten sie noch einmal den Derbysieg von 2001 zeigen, wieder mit virtuellem Catering. Es hatten sich auch schon die ersten Fans gemeldet, die helfen wollten, Union zu retten, wenn das notwendig werden sollte. Einige hatten angeregt, eine Corona-Aktie aufzulegen, um durch die Krise zu kommen.
Zingler sagte abschließend noch, dass er fest davon ausgehe, dass die Saison zu Ende gebracht würde, zunächst ohne Zuschauer. »Es gibt eine positive Fortführungsprognose«, sagte er. Damit löste sich die Runde auf, um genaue Pläne für die Kurzarbeit zu machen und den Mitarbeitern nach und nach die schlechten Nachrichten zu überbringen.
Ich fragte mich, was Zingler wohl gesagt hätte, wenn er bei dieser Besprechung als Gewerkschafter mit am Tisch gesessen hätte. Die Frage war nicht absurd, denn zu DDR
-Zeiten war Zingler Gewerkschafter gewesen. Er hatte als junger Mann seinem Großvater nachgeeifert, dessen Bild er beim ersten Bundesligaspiel nicht nur hochgehalten hatte, weil der ihn als kleiner Junge zu Union mitgenommen hatte. »Ich hatte von ihm immer ein Idealbild und habe ihn zeitlebens auf einen Sockel gehoben.«
Willi Zingler war Bauarbeiter gewesen und in der Weimarer Republik Gewerkschafter geworden. 1934, er war damals 30 Jahre alt, hatten ihn die Nazis verhaftet und für elf Jahre im Zuchthaus Brandenburg inhaftiert. Im letzten Kriegsjahr hatte er noch in einem Strafbataillon in Griechenland kämpfen müssen und war dort in russische Kriegsgefangenschaft geraten. In der DDR
wurde Willi Zingler führender Funktionär in der IG
Bau und durfte als Mitglied der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes auch ins Ausland reisen. Er hielt Vorträge in Schulen und traf regelmäßig Erich Honecker.
»Opa hatte immer harte Diskussionen mit Honecker«, sagte Zingler. Als ich ihn fragte, ob sein Großvater nicht letztlich trotzdem zur Elite des Systems gehört hätte, schüttelte er den Kopf: »Dazu hätte er Karriere in der Partei und nicht in der
Revisionsabteilung der Gewerkschaft machen müssen. Opa war Humanist und kein Kommunist, er wollte sich für die Leute einsetzen, und da war er immer mein Vorbild.«
Zingler war in Eichwalde aufgewachsen, einer Gemeinde hinter der südöstlichen Stadtgrenze von Berlin, seine Mutter war Steuerberaterin für Staatsbetriebe, sein Vater Betriebsleiter in einem Unternehmen, das Kraftwerke baute. Sie hatten sich aber früh getrennt. Mit 16 Jahren zog Dirk Zingler zu seinem älteren Bruder in eine Wohnung in Berlin-Friedrichshain und machte eine Ausbildung zum Instandhaltungsmechaniker im Reichsbahnausbesserungswerk. Nach dem Ende der Ausbildung absolvierte er seinen Wehrdienst beim »Wachregiment Felix DzierŻyński«, das zum Ministerium für Staatssicherheit gehörte.
Als das 2011 durch einen Journalisten der »Berliner Zeitung« publik wurde, folgte eine heftige öffentliche Diskussion. De facto hatte Zingler lediglich während seines regulären Wehrdienstes vor einem Krankenhaus in Berlin-Buch Wache geschoben. Er war weder offizieller noch inoffizieller Mitarbeiter der Stasi gewesen. Aber seine Kritiker warfen ihm vor, dass man absolut linientreu gewesen sein musste, um in dieses Regiment aufgenommen zu werden, benannt nach dem Gründer der russischen Geheimpolizei Tscheka. »Ausgewählt wurde nur eine Elite, absolut regimetreue Bürger«, erklärte damals der Politologe Peter Joachim Lapp, der über das Wachregiment geforscht hatte. Außerdem passte das Reizwort »Stasi« nicht ins Umfeld eines Klubs, dessen großer Rivale der BFC
Dynamo war, der von Stasichef Erich Mielke unterstützte Fußballklub.
Es ging damals hoch her, und als unappetitlich hatte ich eine Ansprache von Christian Arbeit in Erinnerung, der jenen Journalisten, der das damals veröffentlicht hatte, vor einem Spiel über den Stadionlautsprecher kritisierte. Sie würden sich doch nicht von einem aus dem Westen die eigene Geschichte erklären lassen. Es gab auch eine Veranstaltung mit Zingler, zu der fast 500 Unioner kamen, in deren Folge sich die ganze Aufregung weitgehend legte.
Ich hatte schon früher mit Zingler über das Thema gesprochen,
und er hatte nie den Eindruck zu erwecken versucht, zu DDR
-Zeiten ein Dissident gewesen zu sein. Er war als junger Mann zweifellos linientreu: »Aber mir ging es darum, die DDR
zu verbessern, wie schon meinem Großvater.« So arbeitete Zingler bei der Organisation des »Festivals des politischen Liedes« mit, das zwar auch von der SED
gelenkt wurde, an das sich viele in der DDR
aber auch als ein Fenster zur Welt erinnern, weil dort viele Musiker aus dem Ausland auftraten.
Nach seiner Armeezeit wurde Zingler 1986 Schlosser beim Berliner Wohnungsbaukombinat, das damals jedes Wohnhaus in Ostberlin baute, und legte sich bald mit der Betriebsleitung an. »Es herrschte in der Werkshalle ohrenbetäubender Lärm, und ich bin zum Betriebsdirektor und habe gefordert: Hier muss Schallschutz rein.« Er war damals 22 Jahre alt, wurde abgewiesen, ließ sich aber nicht beeindrucken und wandte sich an die IG
Bau. Dort wurde er gefragt, ob er mit Willi Zingler verwandt wäre, und gemeinsam mit der Gewerkschaft setzte er den Schallschutz im Betrieb durch. Bald wurde er auch in die Betriebsgewerkschaftsleitung gewählt, in einer Zeit, als die DDR
zu wanken begann. »1988 verließen immer mehr Leute das Land, aber ich habe gesagt: Wer verlässt, der verrät.« Noch war sein Glaube daran, dass die DDR
reformiert und verbessert werden konnte, nicht erschüttert, obwohl Zingler in seinem Betrieb beobachten konnte, dass die Arbeitsmoral sank, viel getrunken und kritisch debattiert wurde.
Einige Wochen nach dem Mauerfall, im Dezember 1989, wurde er bei den ersten freien Betriebsratswahlen zum Vorsitzenden und sechs Monate später sogar zum Konzernbetriebsratsvorsitzenden gewählt. Er war Mitte 20, für Tausende von Mitarbeitern verantwortlich und musste aus der ersten Reihe miterleben, wie die DDR
-Wirtschaft abgewickelt wurde. »Seit dieser Zeit hasse ich Beratungsfirmen wie Roland Berger und McKinsey«, sagte Zingler. Die kamen nämlich, schauten sich an, was man noch gebrauchen konnte, und schlossen die Unternehmen. Für das Schicksal der Angestellten und Arbeiter interessierten sie sich nicht. Das Ende der DDR
-Wirtschaft ist noch heute ein Trauma, selbst drei
Jahrzehnte später sind im Osten Deutschlands nicht alle Wunden aus dieser Zeit geheilt.
1990 lernte Zingler ein bayrisches Brüderpaar kennen, das in Berlin ein Betonwerk errichten wollte, sie überzeugten Zingler, bei ihnen einzusteigen. »Sie haben zu mir gesagt: Wenn du was für die Leute tun willst, schaffe Arbeitsplätze, versuche nicht, welche zu retten, die nicht zu retten sind.« Am 1. März 1991 gab Zingler seinen Gewerkschaftsjob auf und wurde Betriebsleiter und Teilhaber des neu gegründeten Betonwerks, aus dem später ein Unternehmen für Transport und Logistik wurde, in dem inzwischen 200 Menschen arbeiteten. Der Mann, der den Sozialismus verbessern wollte, war Kapitalist geworden. Doch ich hatte den Eindruck, dass Zingler in jedem Gesellschaftssystem zu denen gehören würde, die etwas bewegen wollen. In der DDR
hätte er vermutlich eine große Karriere als Gewerkschafter gemacht, nach der Wende wurde er Unternehmer.
Union führte Zingler wie ein Unternehmen und formulierte es auch so: »Union ist genauso eine Firma wie meine Firma.« Die anderen Mitglieder im Präsidium und die führenden Köpfe des Aufsichtsrats waren mittelständische Unternehmer wie er und ebenfalls in der DDR
groß geworden. Als führende Köpfe im Union-Wirtschaftsrat, der als Verein außerhalb des Klubs organisiert war, hatten sie Mitte der Nullerjahre die Führung beim 1. FC
Union übernommen.
Ich fragte Zingler, was sie von ihren Kollegen aus dem Westen unterschied. »Wir sind keine Erben, wir sind die erste Generation. Wir mussten uns das alles selbst erarbeiten, deshalb gehen wir auch sorgsamer damit um«, antwortete er. Das erklärte die Entschlossenheit, mit der Union geführt wurde und mit der Zingler bereit war, das Erreichte in der Krise gnadenlos zu verteidigen.