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Union verdunstet
Wie lange war inzwischen eigentlich das Spiel in Freiburg her? Die Niederlage dort schien aus einer plötzlich untergegangenen Zeit zu stammen. Nur elf Tage waren vergangen, aber es hätten auch elf Monate sein können. Bundeskanzlerin Angela Merkel hielt eine Fernsehansprache, in der sie über die Corona-Pandemie sagte: »Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst. Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt.« Am Tag zuvor, während wir uns in der Loge zum Krisengespräch getroffen hatten, war verkündet worden, dass Bars, Klubs, Diskotheken, Kneipen geschlossen werden sollten. In Theatern, Kinos, Opern- und Konzerthäusern wurde der Spielbetrieb eingestellt, Museen, Messen, Freizeit- und Tierparks schlossen genauso wie Spielbanken, Spielhallen, Bordelle, Wettannahmestellen, Spielplätze, Sportanlagen, Schwimmbäder und Fitnessstudios. Sogar Gottesdienste durften nicht mehr stattfinden.
Unser solidarisches Handeln bestand ab sofort darin, genau das Gegenteil von dem zu tun, was man sonst tat, um Solidarität zu zeigen. Wir schlossen uns nicht zusammen, sondern vereinzelten uns. Wir zogen uns in unsere Wohnungen zurück und verließen sie nur noch für Einkäufe und gelegentliche Spaziergänge. Unsere Welt schrumpfte auf unser Zuhause zusammen, ein öffentliches Leben wie zuvor gab es nicht mehr.
Am 19. März, dem Tag nach der Ansprache der Bundeskanzlerin, schrieb Oliver Ruhnert per WhatsApp an Unions Profis, dass bis zum 30. des Monats kein Training stattfände. »Ich weise darauf hin, dass sich alle Spieler in Deutschland aufhalten sollen, um angesichts der Grenzsituation einer Zwangsquarantäne bei der Wiedereinreise zu entgehen.« Einige Grenzen waren noch offen, aber es war nicht klar, ob und für wie lange man nach der Rückkehr aus dem Ausland in Quarantäne musste. So fuhren die Frau und der kleine Sohn von Jakob Busk nach Dänemark zurück, er blieb allein in Berlin.
Einige Spieler, die in der Nähe des Stadions lebten, kamen weiterhin regelmäßig, um im Kraftraum ein paar Gewichte zu stemmen oder sich auf die Spinnningräder zu setzen. Es durften aber nicht mehr als drei gleichzeitig sein, weshalb sie sich bei Martin Krüger anmelden mussten, der als einziger Trainer täglich kam. Fischer und Hoffmann waren daheim in der Schweiz und in Österreich. Krüger schrieb auch Pläne fürs Hometraining der Spieler. Christopher Lenz war in Quarantäne und durfte nicht vor die Tür, weil er sich bei einem Zahnarztbesuch mit dem Virus infiziert hatte. Er zeigte keine Symptome, es war ihm nur furchtbar langweilig.
Auf Instagram nahmen einige Spieler an einer Challenge teil, bei der sie Videos darüber posteten, wie oft sie eine Rolle Toilettenpapier mit dem Fuß hochhalten konnten. Das war lustig, weil das Horten von Toilettenpapier ein großes Thema geworden war. Rafał Gikiewicz stellte komische Videos ins Netz, die eine Art Zimmerolympiade zeigten. Am besten gefiel mir der Clip, auf dem er in Badehose, mit Bademütze und Schwimmbrille auf dem Sofahocker liegend einen imaginären Schwimmwettkampf bestritt. Christopher Trimmel hingegen malte, man konnte ihm auf Instagram live dabei zusehen. Er benutzte als Vorlage das Foto einer jungen Frau, die in die Luft sprang, malte sie zunächst naturalistisch, um das Motiv dann mehrfach zu übermalen. Was seine Zuseher nicht wissen konnten: Es war jene schwer kranke Freundin, der er den Elefanten tätowiert hatte. Sie war inzwischen gestorben, das Bild war auch ein Stück Trauerarbeit.
Als ich in der ersten Woche nach dem Krisentreffen mit Zingler telefonierte, sagte er: »Mir ist langweilig.« Das war ein erstaunlicher Satz von einem Mann, den es erfüllte, neue Projekte anzuschieben oder Debatten anzuzetteln. Aber Union war inzwischen in einen Winterschlaf versetzt, der Klub lief im Notbetrieb. Seinem Unternehmen hingegen ging es gut, weil auf den Baustellen weitergearbeitet werden durfte. »Wir profitieren von der Krise«, sagte er, ohne glücklich zu klingen. Die Straßen waren leer, und seine Lastwagen schafften mehr Fuhren als sonst. Was ihn aber eigentlich belebte, Aufregung und Spaß in sein Leben brachte, der Fußballklub, den gab es nicht mehr.
Dieser Satz klingt seltsam. Es gab Spieler, die nicht spielten, und Trainer, die nicht trainierten. Es gab einen Manager, der keine Vertragsverhandlungen führte oder Transfers vorantrieb. Und es gab einen Präsidenten, der sich langweilte. Die meisten Büros am Stadion waren leer, die Mitarbeiter in Kurzarbeit oder im Homeoffice. Es gab Fans, die nicht mehr über Fußball reden konnten. Das letzte Spiel, das nächste Spiel und welcher Transfer möglich wäre, der Treibstoff aller Fußballgespräche, war verdunstet. Und eigentlich, so kam es mir vor, war der ganze Fußball verdunstet.
Inzwischen wurde fast auf der ganzen Welt nicht mehr gespielt. Und es interessierte mich auch nicht mehr, weil ich wie alle anderen zu begreifen versuchte: Was hatte es mit diesem Virus auf sich? War es richtig, dass wir alle zu Hause saßen? Würde es helfen, und welche Folgen würde es haben. Wie so viele Menschen räumte ich zu Hause auf, sortierte Bücher und Schallplatten, Töpfe und Teller, um zumindest auf diese Weise Ordnung in diese gewaltige Unordnung zu bringen.
Ab und zu telefonierte ich mit Christian Arbeit und Hannes Hahn, die am Stadion weitgehend einsam wachten, aber wir hatten uns nichts Neues zu erzählen, weil wir alle nur warteten. Auf Union, auf Godot. So kreisten wir um uns selbst, auf unterschiedliche Weise beeindruckt von dem, was unsichtbar vor unserer Tür passierte.
Nur Christopher Trimmel sah ich gelegentlich. Wir trafen uns an einer Bäckerei auf halbem Weg zwischen unseren Wohnungen, holten uns Kaffee und setzten uns auf eine Bank. Einmal gingen wir durch Mitte spazieren, was sich bizarr anfühlte, als wir da auf Halbdistanz mit unseren Kaffeebechern durch die leeren Straßen schlenderten und über das redeten, was ihn gerade besonders beschäftigte. Am Freitag nach dem abgesagten Spiel gegen Bayern hatte sich der Mannschaftsrat zum ersten Mal mit Zingler getroffen, um darüber zu reden, wie die Profis dem Verein finanziell entgegenkommen könnten. Auch Neven Subotic, der enge Beziehungen zur europäischen Spielergewerkschaft hatte, war dabei gewesen.
Die erste Gesprächsrunde mit dem Präsidenten hatte drei Stunden gedauert. »Ich bin vom Schlimmsten ausgegangen, aber das war topp. Ich war begeistert«, erzählte Trimmel. Zingler hatte ihnen die wirtschaftliche Situation erklärt und den Mannschaftsrat gebeten, einen Vorschlag zu erarbeiten. »Wie wir mit dieser Krise jetzt umgehen, das wird sich später auch sportlich ausdrücken«, sagte Trimmel. Es machte ihm sichtbar Spaß, sich auch in solchen Krisengesprächen zu erproben.
Wie immer war Gikiewicz einen eigenen Weg gegangen und hatte öffentlich mitgeteilt, dass er bereit sei, auf mehrere Monatsgehälter zu verzichten. Seine Kollegen hingegen hielten sich öffentlich zurück, und in den folgenden Wochen wurde das Thema immer komplizierter. Bald zog der Spielerrat eine Dortmunder Rechtsanwaltskanzlei hinzu, die ihn juristisch beriet. In der Mannschaft gab es ganz unterschiedliche Ausgangspositionen. Spieler, deren Verträge ausliefen, stellten sich die Frage, warum sie einem Verein helfen sollten, bei dem sie nur noch einige Wochen arbeiten würden. Auch sonst war die Verbindung zum Klub unterschiedlich stark und das Interesse am Verhandlungsprozess.
Immer wieder versuchten der Mannschaftsrat und Subotic, ihre Mannschaftskameraden auf dem Laufenden zu halten und in die Entscheidungen einzubinden. Doch einige hörten nicht richtig zu, lasen Benachrichtigungen nicht oder verstanden sie nicht richtig. Es mussten Übersetzungen ins Englische angefertigt werden, dann schalteten sich Spielerberater ein, es gab neue Diskussionen und weitere Klärungsversuche. Je länger das ging, desto schmallippiger wurde Trimmel, sein anfänglicher Enthusiasmus war weitgehend verflogen.
Letztlich einigten sich Spieler und Verein auf ein Modell, das man behelfsweise sowohl »potenziellen Verzicht« als auch »potenzielle Stundung« nennen könnte. Es bestand darin, dass der Klub für die Monate April, Mai und Juni gestaffelt nach Höhe der Bezüge bis zu 30 Prozent einbehielt und dies zum Ende Juni 2021, 2022 und 2023 wieder zurückbezahlen würde. Diese Rückzahlung war allerdings an die Bedingung geknüpft, dass Union zu dem Zeitpunkt auch jeweils in der Bundesliga spielte. Die Lösung war ein Sonderweg, denn die Profis bei anderen Klubs hatten in der Regel direkt auf Gehalt verzichtet, meist zwischen zehn und 15 Prozent. Unions Spieler hingegen hatten zwar die Aussicht auf volle Rückzahlung, gingen aber ein hohes Risiko ein: Im Abstiegsfall würden sie besonders viel Geld verlieren.
Dafür bekamen die normalen Angestellten des Klubs letztlich doch ihre vollen Bezüge. Nach der Ankündigung der DFL , dass die ausstehenden Fernsehgelder fließen würden, stockte Union das Kurzarbeitergeld auf, sodass sie keinen wirtschaftlichen Nachteil hatten.