Am Dienstagmittag hielt ich es nicht mehr aus. Ich schrieb Mannschaftsarzt Clemens Gwinner eine Nachricht, wann und auf welchem Weg ich das Ergebnis meines Corona-Tests bekommen würde. Ein paar Minuten später rief er an: »Ich hätte mich schon längst bei dir gemeldet, wenn der Test positiv ausgefallen wäre.« Es sei aber alles in Ordnung, auch meine Blutwerte seien gut, ich solle mir keine Sorgen machen. Zwei Leute seien positiv getestet worden, wer, das dürfe er mir nicht sagen, aber es seien keine Spieler dabei. »Ich hatte auf drei positive Fälle getippt«, sagte er.
Am Tag zuvor, dem 30. März, inzwischen waren über drei Wochen seit dem abgesagten Spiel gegen die Bayern vergangen, hatte es einen großen Corona-Test im Stadion gegeben. Im Abstand von fünf Minuten waren die Spieler und Trainer, die Mitglieder des Staff, die Wäscherin und die Putzfrau, die Mitarbeiter der Medienabteilung, der Präsident und auch ich, fast 60 Leute insgesamt, zur Anmeldung gegangen, die im Arztzimmer im Kabinentrakt aufgebaut war. Vor der Tür waren Streifen als Markierung auf dem Boden geklebt worden, damit wir Abstand hielten. Eine Mitarbeiterin der Universitätsklinik Charité nahm unsere Namen auf und gab uns eine dünne, durchsichtige Plastiktüte, die man mit einem Faden zuziehen konnte. Darin war ein Glasröhrchen mit dem Corona-Test, zwei weitere Röhrchen zur Blutabnahme sowie Zettel mit unseren Namen und ein Fragebogen zur Anamnese. Durch die Hintertür des Zimmers ging es ins Treppenhaus der Tribüne, hinauf in die dritte Etage. An den Betonwänden hingen Zettel, die den Weg wiesen. Auf dem Geländer klebten weitere Zettel: »Bitte nicht berühren«. Oben hatten Gwinner und ein Kollege in zwei Logen zwei provisorische Behandlungsräume aufgebaut.
Da ich als einer der Letzten dran war, lag hinter ihm schon ein Berg von Tüten mit den Tests. Ich musste den Fragebogen ausfüllen,
der nach für eine Corona-Infektion typischen Symptomen fragte: Fieber, Husten, Durchfall usw. Gwinner erzählte mir lachend, dass einer der Spieler ihm nach dem Abstrich mit einem Wattestäbchen im Rachen gesagt hatte: »Das kenne ich vom Vaterschaftstest.«
Es stellte sich die Frage, wie sinnvoll es war, diese Tests zu machen, konnte doch schon eine unglückliche Begegnung zwei Stunden später dafür sorgen, dass das Ergebnis hinfällig war. Andererseits war es gut, sich vor der Rückkehr ins Training, und sei es zunächst auch in Kleinstgruppen unterteilt, einen Überblick zu verschaffen. Es fehlte nur Yunus Malli, der daheim in Kassel noch in Quarantäne war, weil er Kontakt mit einem infizierten Mitglied seiner Familie gehabt hatte. Später würde er sich selbst infizieren, noch einmal in Quarantäne müssen, um dabei eine rätselhafte Abfolge positiver und negativer Tests zu haben, sodass er letztlich erst fünf Wochen später wieder zur Mannschaft stieß.
Kurz nachdem mir Gwinner das Ergebnis mitgeteilt hatte, schrieb Sebastian Bönig in die WhatsApp-Gruppe der Lizenzmannschaft: »Liebe Susi und Kollegen, sehr überraschend wurde ich positiv getestet und muss nun in Zwangsquarantäne. Ich zeige keine Symptome und fühle mich gut. Passt auf euch auf …« Ich schrieb ihm eine kleine Ermutigung und merkte an der Reaktion, wie frustriert er war. »Wahnsinn, ich habe extrem aufgepasst.« Weil er mit Fischer und Hoffmann zusammen in einem Raum gesessen hatte, mussten die beiden am folgenden Tag noch einmal getestet werden. Wie sollte hier wieder normal Fußball gespielt werden können?
Fischer war bei seiner Familie in Zürich gewesen, und Hoffmann hatte sich in Salzburg die Zeit damit vertrieben, in einem kleinen Stück Wald hinter seinem Haus Holz zu machen. Gerührt erzählte er mir, wie traurig seine Frau gewesen sei, dass er wieder wegfuhr. Zwei Wochen am Stück sahen sie sich sonst nur in den Saisonpausen.
So schön es war, dass nun wieder trainiert werden konnte, so zersplittert war es auch. Nur vier Spieler – in zwei Zweiergruppen – durften mit den Trainern auf den Platz gehen. Je zwei Spieler
waren in der bisherigen Kabine untergebracht, die beiden anderen in der Kabine, die an Spieltagen für die Gastmannschaften vorgesehen war. An der Tür klebte noch das Vereinsemblem des FC
Bayern. Mitten im Raum hatte Sebastian Polter auf eine Flipchart geschrieben: »Fühlt euch umarmt. LG
– Polti.« Ein schöner Gruß in einer Zeit, in der Umarmungen zu einer Gefahr geworden waren.
Vor den Spinden lagen blaue Matten als Markierungen auf dem Boden, nur dorthin durften sich die Spieler setzen. Nach dem Training sollten sie ungeduscht nach Hause fahren, mussten vorher aber noch Svenni sagen, wo sie gesessen hatten, damit er die Plätze für das nächste Duo desinfizierte.
An den beiden ersten Tagen absolvierten alle Spieler einen Yo-Yo-Test, um zu wissen, wie fit sie waren. Als ich Martin Krüger nach dem Ergebnis fragte, rollte er mit den Augen. »Wir haben schon was aufzuholen«, sagte er. Er hatte keine Zweifel daran, dass sich die Spieler weitgehend an seine Trainingspläne gehalten hatten. »Aber selbst wenn du eine Stunde trainierst, hängst du die restlichen 23 Stunden des Tages trotzdem ab.«
Am letzten Tag der ersten Trainingswoche stand jene Lautsprecherbox, die ich bei meinem ersten Spiel in Halberstadt aus dem Bus in die Kabine geholt hatte, auf dem Platz. Krüger hatte sie mit einer App verbunden, und nun kamen aus der Box Befehle. »Work«, sagte eine Computerstimme, und die Spieler mussten in zehn Sekunden rund 50 Meter zwischen zwei Stangen laufen. Dann sagte die Stimme »Rest«, und 20 Sekunden Pause waren angesagt. Das wurde mehrfach wiederholt, wobei Krüger den Abstand zwischen den Stangen vergrößerte. Danach wurde mit dem Ball trainiert.
Als ich der Trainingsgruppe, die aus Florian Hübner und Neven Subotic bestand, zuschaute, musste ich über Subotic lachen. Die beiden Spieler sollten sich Flugbälle über 40 Meter zuspielen, seine flogen gerade mal einen halben Meter hoch durch die Luft und kamen meist auch schon vorher wieder auf. Das sah erbarmungswürdig aus. Markus Hoffman kam kopfschüttelnd auf mich zu und sagte leise: »Neven hat mir gerade erklärt, dass er noch
nicht wieder so weit schießen kann.« In der anderen Hälfte des Spielfelds bei Urs Fischer arbeiteten Michael Parensen und Marius Bülter, dessen Bälle wild in der Gegend herumflogen. Es würde wohl einige Zeit dauern, diese Spieler wieder in konkurrenzfähige Berufsfußballer zu verwandeln.
In der Woche darauf erlaubte das Gesundheitsamt, in größeren Gruppen zu trainieren, nun durften immerhin acht Spieler zur selben Zeit auf den Platz. Noch immer war nicht klar, wohin die Planungen zur Wiederaufnahme der Bundesliga führen würden, aber die Trainingspläne waren so ausgerichtet, dass die Mannschaft fünf Wochen später, am 9. Mai, wieder fit sein würde. »Wenn wir eine oder zwei Wochen später spielen sollten, ist das kein Problem«, erklärte mir Krüger.
Weiterhin standen Fitnessdrills im Vordergrund, und mir taten die Spieler leid, Krüger führte sie an den Rand der Erschöpfung. Selbst am Freitagmittag, dem letzten Training vor dem Wochenende, mussten sie noch ein hochintensives Intervalltraining absolvieren, das aus einer endlos erscheinenden Folge von Sprints bestand, unterbrochen von Pausen, die so lang dauerten wie diese Sprints. »Wer kritisiert, wie wenig Fußballspieler leisten, der sollte so was einfach mal selber versuchen«, sagte Markus Hoffmann, als er an der Spielfeldumfassung lehnte und die Spieler durch die Hitze japsten, für einen Apriltag war es sehr heiß.
Krüger trieb die Spieler immer wieder an: »Los, beißt euch durch!« – »Ich weiß, ihr liebt mich nicht dafür.« – »Ihr habt jetzt Ziegelsteine an den Beinen, aber pusht euch noch mal.« – »Schön auf die Zähne beißen.« – »Wenn ihr vorne den Kopfball nicht versenkt habt, müsst ihr sofort wieder zurück, und dafür lauft ihr jetzt.« Es war eine Schinderei, aber sie erfüllte die Spieler auch mit einer vagen Zufriedenheit. Das merkte man, als wir vom Platz zurück in die Kabine gingen. Sie hatten ihren Job gemacht, und jetzt ging es ins Wochenende. Auch Fischer hatte gute Laune. Er trug die Box vom Trainingsplatz in die Kabine, und unterwegs ließ Krüger darüber Dance-Musik laufen. »Hey, den Grill an, eine Wurst und ein Bier, etwas Musik«, sagte Fischer und lachte
.
Mir war bei Fischer eine erstaunliche Veränderung aufgefallen, er benutzte das Wort nicht mehr, das man am meisten mit ihm verband: »schlussendlich«. Erst fiel es mir nur zufällig auf, dann begann ich darauf zu achten, dann war es unabweislich, er hatte es schlussendlich aus seinem Vokabular gestrichen. Ich fragte ihn danach, und er bestätigte gewohnt trocken, dass es eine bewusste Entscheidung war: »Es war einfach zu viel.« Dann wandte er sich mir zu und sagte lachend: »Ich glaube nur, dass ›ich glaube‹ das neue ›schlussendlich‹ ist.«
Als ich mich umzog, merkte ich, wie gut es auch mir tat, unter Menschen zu sein, jenseits von Buchregalen und Küchenschränken. Auch ich vermisste die Mannschaft, aber als ich mich anschließend noch ein wenig mit Florian Hübner unterhielt, wurde klar, dass selbst die kleine Fußballblase von einer Normalität weit entfernt war. »Im Moment sind wir keine Mannschaft«, sagte er, und das war kein lapidarer Hinweis. Sie waren jetzt Einzel- oder Kleingruppensportler, die körperlich fit gemacht wurden. Es konnte sein, dass man Mitspieler tagelang nicht sah oder selbst dann nichts mit ihnen zu tun hatte, wenn man in derselben Trainingsgruppe, aber in einer anderen Kabine untergebracht war. Das Zusammenspiel auf dem Platz war nur reduziert möglich, Zweikämpfe waren verboten. Sie waren keine Mannschaft, es war kein Fußball.