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Die Welt von und nach Rafał Gikiewicz
Am 30. April meldete der 1. FC  Union Berlin, dass der Vertrag mit Rafał Gikiewicz nicht verlängert würde. Zur gleichen Zeit postete der Torwart auf Instagram und Twitter einen Brief an die Fans des Klubs: »Nach zwei wunderschönen Jahren, mit viel Herz und vielen, vielen Emotionen, muss ich leider Tschüss sagen. Das ist hart, aber so ist das Leben eines Profifußballers. Ich werde dahin gehen, wo man mit Gikiewicz spielen möchte, wo man mir eine neue Chance geben will. Ich werde immer einer von euch bleiben, ein Unioner!«
Seinen Vertrag bei Union zu verlängern, war für Gikiewicz zur Obsession geworden. Zwei Jahre zuvor war er aus Freiburg, wo er fast nur auf der Bank gesessen hatte, nach Berlin gewechselt. »Ich bin als kleine Nummer zwei aus Freiburg gekommen und habe alles akzeptiert, was mir Oliver Ruhnert damals angeboten hat. Ich war dankbar für die Chance und wollte nicht feilschen.« In der Aufstiegssaison war er zum »Unioner des Jahres« gewählt worden, und nun war er unumstrittener Stammtorhüter in der Bundesliga. Er hatte aber das Gefühl, zu schlecht bezahlt zu werden. In der Gehaltsrangliste bei Union, so vermutete er, lag er im Mittelfeld.
Das Problem bei der Bezahlung im Fußball ist, dass im Prinzip vergangene Leistungen honoriert werden. Insofern war es richtig, dass Gikiewicz als »kleine Nummer zwei« einen entsprechenden Vertrag unterschrieben hatte. Es gab darin zwar noch Erfolgsklauseln und die Siegprämie, wenn er gespielt hatte, aber vermutlich standen Leistung und Ertrag für ihn nicht in einem passenden Verhältnis. Außerdem ging es absehbar um den letzten Vertrag seiner Karriere, der nun opulenter dotiert sein und am besten über mehrere Jahre gehen sollte. »Ich bin 32 und will noch von zwei brutal guten Jahren profitieren«, sagte er. Es war aber nicht zwangsläufig im Interesse des Klubs, Gikiewicz über mehrere Jahre zu einem Spitzenverdiener zu machen .
An seiner Professionalität bestand kein Zweifel. In der Aufstiegssaison hatte er zwei Stunden vor einem äußerst wichtigen Spiel in Fürth erfahren, dass seine Oma gestorben war. Fischer hatte ihm angeboten, nicht spielen zu müssen. Aber Gikiewicz hatte abgelehnt, hatte nach fünf Minuten den Ball voll ins Gesicht bekommen und war kurz ohnmächtig geworden. Trotzdem machte er weiter und rettete seiner Mannschaft ein Unentschieden, ohne das sie nicht aufgestiegen wäre. Hatte Michael Gspurning zu Beginn der Saison noch vermutet, dass es im Laufe der Spielzeit durchaus zu einem Torwartwechsel kommen könnte, hatte Gikiewicz bislang jede Minute im Tor gestanden. »Meine besondere Stärke ist der Kopf«, sagte er, »aber ich bin nicht so ein Top-Torwart.« Er war außergewöhnlich gut im Eins gegen Eins und hatte Fortschritte mit dem rechten und linken Fuß gemacht. »Ich bin schnell, aber ich muss jeden Tag arbeiten. Und ich will lernen.«
Gikiewicz stammte aus Olsztyn, 200 Kilometer nördlich von Warschau in den Masuren. Sein Zwillingsbruder Ukas war ebenfalls Fußballprofi, er war Stürmer bei einem Klub in Jordanien. Auch sein Bruder Mariusz war Fußballspieler gewesen, arbeitet aber inzwischen bei einer Technikfirma in Warschau. Sein Vater war Busfahrer und Teambetreuer beim lokalen Fußballverein, nebenbei verdiente er Geld als Taxifahrer. Seine Mutter war Basketballspielerin gewesen und hatte als Putzfrau gearbeitet. »Ich putze meine Fußballschuhe auch heute noch immer selbst, weil mein Vater früher drei Tage Taxi fahren musste, um mir Schuhe zu kaufen. Wir haben sie immer eine Nummer größer genommen, damit sie länger halten.«
Sein Vater hatte die Fußballkarriere seiner Söhne immer gefördert. Er hatte sie mit einer Lunchbox im Gepäck von der Schule abgeholt, sie eine Stunde zum Training gefahren und wieder abgeholt. Er hatte darauf geachtet, dass sie keinen Alkohol tranken, und bis auf den heutigen Tag hatte Gikiewicz noch nie getrunken. Er kontrollierte, dass sie abends um 22 Uhr zu Hause waren, und kam dazu in seinem Taxi vorbeigefahren.
Mit 21 Jahren bekam er als Ersatztorwart in der ersten polnischen Liga 500 Euro brutto im Monat und gab seinen Eltern die Hälfte ab. Mit 22 Jahren lernte er seine Frau kennen, eine Zahntechnikerin, die mehr Geld verdiente als er und sich nicht für Fußball interessierte. »Nach drei Tagen habe ich zu ihr gesagt: Du wohnst alleine, ich wohne alleine, lass uns zusammenziehen. Entweder passt es oder nicht, so wie Lego. Aber ich wusste am ersten Tag, das ist die richtige Frau.« Inzwischen waren sie zehn Jahre lang zusammen, verheiratet und hatten zwei Söhne. Den größeren nannte Gikiewicz »der alte Sohn«.
Auch solche lustigen Fehler trugen dazu bei, dass ich ihn, der mich anfangs genervt hatte, inzwischen in mein Herz geschlossen hatte. Seine Sprache war immer dramatisch, er redete ohne Unterlass und musste manchmal selber darüber lachen. »Mein Vater ist auch so laut, mein Zwillingsbruder und mein Sohn ebenfalls. Wenn wir uns an Weihnachten treffen, denken die Nachbarn: Bei Gikiewicz ist Krieg.«
Gikiewicz war emotional und spontan. Als er in einer Spielpause nach Hause fahren wollte, stellte er fest, dass er in Warschau ein paar Stunden auf den Zug nach Olsztyn hätte warten müssen. Also suchte er via Twitter eine Mitfahrgelegenheit. »Das war eine spontane Idee: Komm, schreibst du, warum nicht? Ich habe 50 Nachrichten bekommen, und mit den beiden, die mich gefahren haben, stehe ich heute noch in Kontakt, sie waren schon zweimal in Berlin.«
Wie Polter war auch Gikiewicz dem Publikum auf eine besondere Weise verbunden, wenn auch mit einer leicht anderen Motivation: »Du musst zeigen, dass du ein normaler Mensch bist. Spieler bin ich drei oder vier Stunden am Tag und am Wochenende. Ansonsten haben wir aber die gleichen Probleme wie jeder Fan. Wir fahren unsere Kinder in die Schule und zum Sport, haben manchmal Probleme mit unseren Frauen und müssen Kompromisse suchen. Wenn du offen bist zu den Zuschauern, haben sie mehr Respekt.« In seinem lustigen Radebrechen sagte er: »Ein Mann ohne Bein fährt 700 Kilometer auswärts. Was kostet Trikot für mich? Ich geb es ihm, und er weinen wie kleines Kind. «
Als wir mal auf einen der Corona-Tests warteten, oben auf der Logenebene, wo Fotos von vergangenen Spielen hingen, sagte er zu Polter: »Hier wird unser Bild hängen, und die Fans von Union Berlin werden unsere Namen noch in 100 Jahren kennen.« Er wollte eine Legende des Vereins sein, aber er wollte auch Geld verdienen. »Wie die Verhandlungen zwischen Olli und mir gelaufen sind, bleibt ein Geheimnis zwischen uns. Ich will nicht mit meinem Verein kämpfen«, sagte er. Schon längst lief die Suche nach einem neuen Klub. Er hatte vom Interesse aus der Türkei berichtet und wohl auch aus anderen Ländern. Aber drei Tage später fuhr er nach Augsburg, um einen Drei-Jahres-Vertrag beim FC Augsburg zu unterschreiben, der so dotiert war, wie er sich das erhofft hatte. Und er schaffte es tatsächlich, das nicht auszuposaunen, so schwer es ihm vermutlich auch fiel.
Als publik wurde, dass er nicht bleiben würde, hatte Gikiewicz viele Nachrichten von Mitspielern bekommen, erzählte er. »Sie haben geschrieben: ›Schade, Giki, dass du nicht bleibst.‹ Aber sie wollten das nicht in unsere WhatsApp-Gruppe schreiben, sodass es alle sehen. Das ist Sieg für mich.« Doch nun hatte er bei Union keine Kriege mehr zu führen, weder mit dem Manager noch mit dem Trainer. Ich war überrascht, dass er unbedingt noch ein Lob auf Fischer loswerden wollte. »Ohne ihn ist diese Mannschaft null. Wenn du ihm ins Gesicht schaust, ist er im ersten Moment nicht so sympathisch. Aber er ist super Mensch, der trotzdem immer Druck macht. Ich bin manchmal total sauer, wenn er sagt, dass ich den oder den Ball spielen muss. Aber ohne ihn hätte ich keinen Schritt nach vorne gemacht, ich mag diesen Druck.« Ihn nervte es auch, dass Union immer noch das Etikett anheftet, simplen Fußball zu spielen. »Er ist unser Architekt, im Spiel ohne Ball ist er so gut wie Guardiola oder Mourinho. Jeder weiß, was er machen muss, und wir werden auf dem Platz nie überrascht.«