Am Samstagmorgen um kurz nach acht kam die Nachricht von Clemens Gwinner, dass auch mein zweiter Corona-Test innerhalb von zwei Tagen negativ ausgefallen war. Ich musste also meine Tasche nicht wieder auspacken und mich in Heimquarantäne begeben, sondern durfte mit der Mannschaft in die Sportschule des Norddeutschen Fußballverbandes nach Barsinghausen reisen, dort würde sie die einwöchige Quarantäne verbringen, die für alle Bundesligisten vorgeschrieben war. Als ich meine Tasche am Vorabend gepackt hatte, hing daran noch ein Gepäckanhänger vom Flughafen Basel, von wo aus wir am 7. März nach Berlin zurückgeflogen waren. Seitdem hatte ich die Stadt nicht mehr verlassen, und so fühlte es sich wie ein Abenteuer an, bis nach Niedersachsen zu fahren.
Der Verein hatte entschieden, mich ins Testprogramm aufzunehmen, weil es anders kaum möglich gewesen wäre, sich weiterhin unangestrengt zu begegnen. Eine Headline wie »Corona-Schock wegen Buchautor. Union muss in Quarantäne« wollte ich auf keinen Fall über mich lesen und beim Klub auch niemand. Also würde ich wie alle Mitglieder der Mannschaft, der Trainer- und Betreuerteams fortan zweimal in der Woche getestet werden, wenn es wochentags ein Spiel gab, noch häufiger.
Nach dem Vormittagstraining würden wir uns aufmachen, allerdings mussten ein paar Spieler zurückbleiben, die verletzt oder in der Reha waren. Dazu gehörte auch der Holländer Sheraldo Becker, der sich am Vortag im Training eine Muskelverletzung zugezogen hatte. Es wurde in der Öffentlichkeit viel darüber diskutiert, ob man die Profis mit der Rückkehr zum Mannschaftstraining und vor allem in den Bundesligaspielen nicht einem unverantwortlichen Risiko aussetzen würde, sich mit dem Virus zu infizieren. Die meisten Spieler beschäftigten indes mögliche Verletzungen
viel mehr. Sie fühlten sich nach dem intensiven Training der vorangegangenen vier Wochen fit, waren aber mehr oder weniger nur geradeaus gelaufen. Ihre Körper mussten sich erst wieder an die speziellen Fußballbewegungen erinnern: die kurzen Antritte und abrupten Stopps, die plötzlichen Richtungswechsel, die Koordination im Zweikampf. Beckers Verletzung war die Bestätigung dafür, wie gefährdet sie waren.
Mittags vor der Abfahrt hingen einige Spieler auf dem Parkplatz herum oder saßen in ihren Autos und aßen. Noch gab es für sie im Stadion kein Essen, also hatten sie einen Lieferservice bestellt. Weil sie das Essen auch nicht in die Kabine mitnehmen durften, aßen sie es nun hier. Warum das so war, war mir so wenig klar wie ihnen, aber es sollten nicht die letzten Regeln sein, über die sich alle wunderten.
Die Fahrt in die Nähe von Hannover dauerte gut dreieinhalb Stunden, und es waren zwei Busse im Einsatz, um während der Fahrt Abstand wahren zu können. Alle mussten Schutzmasken tragen, obwohl jeder im Bus negativ getestet worden war. In Barsinghausen bekamen die Spieler anders als sonst Einzelzimmer. Wir stellten bald fest, dass wir nicht auf einer Insel der Seligen gelandet waren, wo wir abstandsfrei miteinander leben und uns ohne Restriktionen bewegen konnten. Das lag auch daran, dass die Mitarbeiter im Hotel nicht getestet worden waren. Selbst wenn sie es gewesen wären, hätte das nicht viel geändert, weil sie nicht in Quarantäne blieben, sondern abends nach Hause gingen. Wir waren die ersten Hotelgäste unter den neuen Bedingungen, und alle gaben sich unheimlich viel Mühe mit uns, aber mühselig war es schon.
Nach der Ankunft war für den Abend gemeinsames Grillen angesetzt, aber wo ich mir eine gemütliche Geselligkeit vorgestellt hatte, gab es eine komplizierte Choreografie der Essensbeschaffung. Jeder hatte an seinem Platz, anderthalb Meter vom Nebenmann entfernt, einen Teller stehen, mit dem man sich in der Warteschlange anstellte, die nur wenige Leute umfassen durfte und in der der Abstand untereinander gewahrt werden musste. Mit dem
Teller trat man an die Ausgabestellen für Gegrilltes und Beilagen, gab ihn vorbei an einer Plexiglaswand, die unschön als »Spuckschutz« bezeichnet wurde, auf einen silbernen Teller, den einem die Köche entgegenhielten. Er wurde entsprechend den Wünschen beladen, und man nahm ihn anschließend wieder an sich. Auf einem vorgegebenen Weg ging es so zum Platz zurück, dass man nicht an der Schlange der Wartenden vorbeikam. Dabei mussten wir unsere Schutzmasken tragen. Der Tisch mit dem Trainerteam und den Betreuern musste eine halbe Stunde warten, bis er an der Reihe war.
So umständlich das war, freuten sich alle, hier zu sein. Die Mannschaft trainierte endlich wieder auf ein Ziel hin, und dass es im ersten Spiel gleich gegen den Rekordmeister aus München gehen würde, half auch. Außerdem erwies es sich schnell als richtige Entscheidung, nicht in Berlin zu bleiben. Ich stellte es mir auch seltsam vor, nur ein paar Minuten von zu Hause entfernt im Hotel zu wohnen, beim Klub zu trainieren und wieder ins Hotel zurückzukehren. Unterkunft und Essen hier waren gut, der Trainingsplatz lag direkt vor der Tür, es konnte losgehen.
Mit dem Spiel gegen die Bayern würden sechs Wochen mit neun Spielen beginnen, in denen ein Vorsprung von acht Punkten auf den drittletzten Platz verteidigt werden musste. Das klang komfortabel, aber nach dem Start gegen die Bayern würde es eine Woche später das Derby bei Hertha BSC
geben, die mit Bruno Labbadia in der Saisonpause einen erfahrenen Trainer verpflichtet hatten. Mit Borussia Mönchengladbach, Schalke und Hoffenheim gab es noch drei weitere namhafte Gegner. Aus der Gewichtsklasse von Union warteten Mainz, Köln, Paderborn und Düsseldorf. Das war zu schaffen, aber niemand konnte wissen, welche Auswirkungen es haben würde, wenn bei den Spielen keine Zuschauer im Stadion waren und wie gut die Mannschaft mit den veränderten Umständen umgehen würde.
Am Sonntagmorgen, gleich zu Beginn des ersten Trainings in Barsinghausen, drang plötzlich das Vereinslied von Union durch die an einem Hang dicht am Trainingsplatz stehenden Bäume. Es
war eher zu ahnen als zu hören, doch als ich ins Unterholz ging, sah ich oben an einem Spazierweg, 40 Meter entfernt, vier Leute in Union-Trikots an einem Jägerzaun stehen. Sie waren die ersten Fans, die ich seit vielen Wochen gesehen hatte. Ich winkte ihnen zu, sie winkten zurück.
Am Montagabend kam jener Motivationstrainer in unser Hotel, der schon anfangs der Saison vor dem Spiel gegen Freiburg zur Mannschaft gesprochen hatte und damals bei den Spielern gut angekommen war. Steffen Kirchner war mit dem Zug aus Landshut angereist und wirkte nicht nur von der Reise erschöpft. Sein Geschäft war in den letzten Wochen komplett eingebrochen, weil er keine Vorträge mehr hatte halten können.
»Ihr seid megageil, aber jetzt sind wir in einer anderen Situation als beim letzten Mal, uns allen wurde der Stecker gezogen«, sagte er zu Beginn seines Vortrags. »Die Frage ist, wer sich auf die Situation am besten einstellen kann.« In der folgenden Stunde versuchte Kirchner, mit den Spielern eine positive Perspektive auf die unsichere Situation zu entwickeln. Er bat sie zunächst, auf Zetteln für sich zu notieren, wofür sie im Leben dankbar waren, und schrieb anschließend ein paar Punkte auf, die sie ihm nannten. »Familie, Gesundheit, Erlebnisse, finanzielle Sicherheit« gehörten dazu. Er versuchte seinem Publikum klarzumachen, dass sie sich nicht auf das konzentrieren sollten, was sie nicht beeinflussen konnten: »Dadurch verliert man Energie und wird zum Opfer.«
Von da aus kam Kirchner zu der interessanten Frage, die man sich in Krisen immer stellen kann: »Was ist gut daran, dass …?« Sie sollten aufschreiben, was an den Geisterspielen gut sein könnte, die auf die Mannschaft zukamen. Wieder ließ er sich einiges zurufen und schrieb es an die Flipchart: »Neue Erfahrung« – »Erkennen, wie privilegiert man ist« – »Dass trotzdem noch Geld kommt« – »Besseres Coaching auf dem Platz, weil es nicht so laut ist« – »Wertschätzung für den Nebenmann« – »Auswärtsspiele können zu Heimspielen werden« – »Man kann einen Unterschied für die Leute machen, die im Moment viele Sorgen haben«
.
Während des Vortrags war Urs Fischer immer wieder zum Telefonieren vor die Tür gegangen. Als Kirchner fertig war, sagte er den anderen im Trainerteam leise: »Der Schwiegervater will nicht mehr.« Er lag in der Schweiz im Sterben, und Fischer hatte beschlossen, noch am selben Abend mit dem Auto zu ihm zu fahren. Ruhnert hatte bei der Deutschen Fußball Liga eine Ausnahmegenehmigung erwirkt, dass der Trainer die Quarantäne verlassen durfte. Vorher würde er bei Hannover 96 vorbeifahren und dort noch einen weiteren Corona-Test machen. Fischer sprach mit Trimmel, damit er die Mannschaft informierte. Spätestens zum Spiel am Sonntag würde er wieder da sein, bis dahin würden Hoffmann und Bönig das Training leiten.
Am nächsten Morgen stand ein Spaziergänger mit zwei Kindern am Trainingsplatz und schaute zu. Eigentlich war die Sportschule abgeschlossen, aber nicht hermetisch abgeriegelt. Es machte den Eindruck, als käme der Mann aus der Nachbarschaft, angelockt vom Klang der Bälle. Hannes Hahn ging zu ihm und sagte: »Sie wollen sich bestimmt nicht das ganze Training anschauen.« Der Mann sagte, dass er gleich wieder gehen würde, doch kurz danach fand Hahn ihn hinter einem Baum versteckt, mit einem Notizzettel in der Hand. »Bayern oder Bild«, fragte Hahn scharf. Der Mann gab sich sofort als Mitarbeiter der Bild-Zeitung aus Hannover zu erkennen, am nächsten Tag meldete die Zeitung: »Fischer reist aus Quarantäne-Lager ab. Verein spricht von privaten Gründen. Trainer verpasst internes Testspiel.« Das sollte noch Folgen haben.
Das interne Testspiel zwischen dem A-Team und der Mannschaft, die den FC
Bayern simulieren wollte, gewannen die Bayern-Darsteller mit 2:1. Wittmann, der seinen Plastiksarg mit dem Mast für die Videokamera auch nach Barsinghausen mitgebracht hatte, war dennoch begeistert: »Dadurch haben wir jetzt gute Themen.« Mir leuchtete das ein, weil das Trainerteam gezielt an Schwächen arbeiten konnte. Die Spieler würden ihnen genauer zuhören, als wenn auf dem Platz alles leidlich gut gelungen wäre. Andererseits war die Leistung sehr weit weg von dem gewesen, wozu sie in der Lage waren
.
Abends holte Ruhnert alle zusammen, um einige Bestimmungen des »Sonderspielbetriebs« zu erklären, wie der Rest der Saison offiziell hieß. Es würde stets in zwei Bussen zum Stadion gehen, jeder in einer Sitzreihe für sich und mit einer Schutzmaske auf. Am Eingang des Stadions würde Fieber gemessen, bevor sie die Kabine betreten durften. Bei über 38 Grad Körpertemperatur würde der Zutritt verwehrt. Spieler, die in der Startelf standen, und Reservisten durften sich nicht gemeinsam umziehen. In der Kabine mussten sie Masken tragen, auf der Bank auch. Die Reservisten würden hinter der Bank auf der Tribüne sitzen, mit Abstand voneinander. Balljungen würden die Bälle während des Spiels ständig desinfizieren. Susi würde den Spielern nichts anreichen dürfen, kein Trikot und keine Wasserflasche. Und sie würden sich beim Torjubel nicht um den Hals fallen dürfen, sondern nur mit den Unterarmen, Ellbogen oder Beinen »abklatschen«.
Ich sah, wie einige Spieler den Kopf schüttelten und andere ihn sinken ließen.
»Rudelbildung wird zwingend mit einem Platzverweis bestraft«, erklärte Ruhnert weiter. »Gibt es für Mauerbildung auch eine Rote Karte?«, fragte Gikiewicz dazwischen. Einige Spieler lachten, aber ich war mir nicht sicher, ob der Pole das als Witz gemeint hatte. Einen Gegenspieler anzuspucken, erklärte Ruhnert, konnte als Körperverletzung bewertet werden und strafrechtliche Folgen haben, wenn sich dadurch ein Spieler mit dem Corona-Virus infizierte. »Eben habe ich noch eine Mail bekommen, dass wir uns im Stadion nicht duschen dürfen. Das war mir neu, und wir werden das morgen unter den Sportdirektoren noch mal besprechen«, sagte Ruhnert und wirkte alles andere als glücklich darüber. Es gab noch ein paar Nachfragen, aber die meisten Spieler mussten das erst einmal sacken lassen. Unter diesen Bedingungen war Fußball zu einer Verrichtung geworden. »Das ist wie früher, als der Geschlechtsverkehr in der Ehe eingeklagt werden konnte«, sagte Svenni auf dem Weg nach draußen.
So war es vielleicht ganz gut, dass sich die Mannschaft auf Anregung des Mannschaftsrats anschließend intern zusammensetzte,
wie das sowieso geplant gewesen war. Das Treffen dauerte über zwei Stunden, es war in den letzten Wochen einiges aufgelaufen. »Es war uns wichtig, dass wir uns die Mannschaft noch mal packen«, sagte Trimmel hinterher. Sie hatten beschlossen, sich nicht an dem freudlosen Regelwerk abzuarbeiten. Sie wollten, das war eine der Lehren aus Kirchners Vortrag, keine Energie an Dinge verschwenden, die nicht zu ändern waren. Es ging auch noch einmal ausführlich darum, wie der Prozess zu den Gehaltsabschlägen abgelaufen war. Außerdem hatten sie gemeinsam überlegt, was ihnen in den kommenden sechs Wochen helfen könnte. Sie wollten Ruhnert darum bitten, die Physios und Masseure durch Kollegen aus der Nachwuchsabteilung zu entlasten. Außerdem sollten die Reisen und Hotels so komfortabel wie möglich sein, die kommenden Wochen würden viel Kraft kosten.