Auch im Trainingslager musste ich manchmal schmunzeln, wenn Christopher Trimmel an mir vorbeisprintete, oder soll ich sagen: -wetzte? Er hatte erstaunlich dünne Beine, und beim Laufen vermittelte er weit vorgebeugt und laut schnaufend den Eindruck, als würde er richtig schuften. Es war schon zutreffend, dass ihn der Fan als »Rennschwein« bezeichnet hatte. Bereits in der Aufstiegssaison war Trimmel Stammspieler und Mannschaftskapitän gewesen, doch in der Vorbereitung zu seinem ersten Jahr in der Bundesliga hatte Urs Fischer ihm gegenüber Zweifel daran geäußert, dass es so bleiben würde. Im Sommer-Trainingslager hatte erst der Trainer ihm gesagt, woran er arbeiten müsste, anschließend auch Ruhnert. Daraufhin hatte sich Trimmel am 14. Juli 2019 in sein Smartphone notiert:
»Trainer
Entschlossenheit offensiv wie defensiv
Nicht schwimmen sondern aktiv sein
Linie rauf und runter laufen!!!
Oli
Erster Kontakt
Standards
Stellungsspiel
Abstand 4er Kette«
Es war eine To-do-Liste dessen, was er besser machen sollte. »Ich liebe solche Herausforderungen«, sagte er. Die Notiz speicherte er ab und schaute in den folgenden Monaten immer mal nach, wie weit er die Punkte abgearbeitet hatte. Fischer hatte sich am Ende der Vorbereitung doch dazu entschieden, Trimmel wieder zum Kapitän zu machen. Trimmel hatte das gefreut,
denn er war gerne Kapitän. Aber wie führte er die Mannschaft eigentlich?
Seine Autorität kam nicht über seine sportlichen Leistungen, auch wenn er sich im Laufe der Saison als einer der besten Vorlagengeber des europäischen Fußballs erwies. Seine Freistöße und Eckbälle waren inzwischen spektakulär gut. Als ich im Trainingslager in Barsinghausen ein Video in Slow Motion davon machte, konnte man sehen, wie sein ganzer Körper durch den Ball schwang und wie präzise er dabei zugleich war. Er war im Laufe der Saison auch in die österreichische Nationalmannschaft zurückgekehrt, aber er überragte seine Mannschaftskameraden sportlich nicht, wie das kein Spieler tat.
Trimmel war bei den Fans beliebt, auch weil es sie faszinierte, dass er nebenbei noch tätowierte, manchmal auch Fans. Aber er war kein Star wie Polter oder Gikiewicz, deren Extrovertiertheit die Leute mochten. Innerhalb des Teams gehörte er nicht zu den Spielern, die als Musterprofi auffielen. Er ging fast nie in den Kraftraum und selten zu den Physios, um sich pflegen zu lassen. Er vermied es sogar, weil er das Gefühl hatte, von Massagen müde zu werden. Trimmel gehörte auch nicht zur Fraktion der Optimierer und Ernährungsfreaks. Er machte sich relativ wenig Gedanken darum, was er aß, schmecken sollte es halt. Ab und zu ging er mit Freunden ein Bier trinken, keine große Sauferei, aber eben auch keine Askese. Trimmel war nicht sonderlich laut, weder auf dem Platz noch jenseits davon. Und er gehörte nicht zu den Spielern, die nach einer Niederlage demonstrativ den Eindruck vermittelten, das Ende der Welt sei gekommen.
Aber wenn ihm Lautstärke, Dramatik und Dringlichkeit so sehr abgingen, wie führte er die Mannschaft?
Mein Bild davon setzte sich erst im Laufe der Zeit zusammen. Wenn wir gemeinsam zum Training fuhren, erzählte er dann und wann beiläufig, dass er sich mit diesem oder jenem Spieler unterhalten müsse, weil der gerade einen frustrierten Eindruck machte. Regelmäßig sprachen er und sein Vertreter Marvin Friedrich mit Fischer, wenn es irgendwo knirschte, weil eine Reise nicht gut
verlaufen war, die Mannschaft sich müde fühlte oder aus anderen Gründen kein gutes Gefühl entwickelte. Manchmal entschied Trimmel auch, es Fischer nicht zu sagen, weil er ahnte, dass es den Trainer nerven würde.
Er kümmerte sich darum, dass die Geselligkeit im Team nicht zu kurz kam. Mit zehn anderen Spielern war er zum Oktoberfest nach München gefahren, wo sie fleißig Bier getrunken hatten. »Da passieren Dinge, von denen eine Mannschaft wochenlang zehrt«, erzählte mir Christian Gentner hinterher. Keven Schlotterbeck hatte sich wohl relativ spektakulär betrunken, wobei mir das niemand ganz genau erzählen wollte. Zuletzt hatten Trimmel die Verhandlungen mit Zingler über die Gehaltsabschläge massiv beschäftigt. Doch den meisten Raum, so war mein Eindruck, nahmen Kleinigkeiten und alltägliche Konflikte ein.
Trimmel war kein Leitwolf, sondern ein Hütehund. Er umkreiste seine Mannschaft, um sie wie eine Herde zusammenzuhalten. Er tat das nicht laut bellend, sondern einfühlsam und leise. In den US
-Sportarten, vor allem im Basketball, hat sich der Begriff des »Glue Guy« etabliert, desjenigen, der für den Kleber zwischen den einzelnen Spielern sorgt. Bei Union war das Trimmel. Er tat das bewusst nicht allein, sondern bezog die Mitglieder des Mannschaftsrats so oft mit ein wie möglich. Dazu gehörten Friedrich und Felix Kroos, der selber mal Kapitän gewesen war, Sebastian Polter, Manuel Schmiedebach, Michael Parensen und der Neuzugang Christian Gentner. Jeder von ihnen hatte einen besonderen Zugang zu einer anderen Gruppe im Team, und alle wollten, dass daraus keine Grüppchen wurden. Vor allem sollte keine Allianz der Frustrierten entstehen, die den Rest mit ihrer Enttäuschung runterzogen. Trimmel registrierte aufmerksam Kleinigkeiten wie den morgendlichen Gruß, wie viel jemand noch redete oder wie schnell er nach dem Training ging. »Man sieht sofort, wenn Spieler, die gerade keine Chance haben, sich mit anderen zusammenschließen, die in einer ähnlichen Situation sind«, sagte er. Dann war es Zeit zu reden, für eine Aufmunterung oder vielleicht auch ein kritisches Wort. Trimmel selbst kümmerte sich oft um die
Jungprofis, die hintendran waren und enttäuscht, weil sie kaum einmal in den Kader kamen.
Der Mannschaftsrat bildete eine interne Selbstverwaltung, die von Fischer gefördert wurde, weil er sich etwa nicht damit verschleißen wollte, Strafen auszusprechen. Es war in seinem Interesse, dass die Spieler vieles untereinander klärten. »In der Aufstiegssaison ist die Kabine unsere Stärke gewesen«, hatte Fischer mal gesagt. Ich hatte den Eindruck, dass es immer noch so war.
Als ich Trimmel sagte, dass ich ihn als Hütehund sah, legte er den Kopf zur Seite, wie er das meist tat, wenn ihn was besonders interessierte. Dann nickte er und sagte: »Aber der Leitwolf muss der Trainer sein. Wenn er das nicht ist, hat selbst der beste Kapitän keine Chance, eine Mannschaft zusammenzuhalten.«
Am Freitagmorgen, dem Tag unserer Rückreise nach Berlin, kam Trimmel zu mir und fragte: »Hast du schon gehört, mit Urs?« Ich nickte. Er winkte ab und schüttelte den Kopf. Er sagte nichts, aber ich verstand. Die ganze Situation war sowieso schon bizarr und wurde nun noch absurder dadurch, dass die Mannschaft gegen den FC
Bayern auf ihren Leitwolf würde verzichten müssen. Am Vorabend hatte Markus Hoffmann noch angekündigt, dass Fischer in Berlin wieder zur Mannschaft stoßen würde. Am Donnerstagmittag hatte ein Kollege von Fischer diesen Plan durchkreuzt. Augsburgs Trainer Heiko Herrlich, der erst kurz vor Beginn der Saisonunterbrechung den Job übernommen hatte, erzählte in einer Videopressekonferenz des Klubs ausführlich und mit launigen Details darüber, wie er das Quarantänehotel seines Klubs verlassen hatte, um Zahnpasta und Hautcreme zu kaufen. Das war sehr komisch, aber auch ein klarer Verstoß gegen die Bestimmungen. Noch am selben Tag musste er das Trainingslager verlassen und durfte auch beim Spiel nicht bei seiner Mannschaft sein.
Fischer wurde aufgrund dieses Vorfalls nun genauso behandelt wie Herrlich, obwohl er eine Sondergenehmigung hatte, die Quarantäne zu verlassen. Die DFL
stand nämlich unter gewaltigem Druck, weil quasi die ganze Welt darauf schaute, wie die Bundesliga
als erste Liga in Europa überhaupt wieder zu spielen begann. Hätte sich der Reporter nicht eingeschlichen und von Fischers Fehlen berichtet, hätte das keine Rolle gespielt. So aber galten nach dem Auftritt von Augsburgs Trainer die gemachten Zusagen nicht mehr, weil es nach Ungleichbehandlung ausgesehen hätte.
Als ich mit Christian Arbeit telefonierte, der in Berlin mithalf, das erste Geisterspiel im Stadion An der Alten Försterei unter dem neuen Regelwerk vorzubereiten, klang er fürchterlich, wie ein Mann tief drunten in einem dunklen Schacht. Dabei war er sonst inmitten seiner Unioner, die mitunter zur Skepsis neigten, für den Optimismus zuständig. Doch im Laufe der Woche waren die Bundesligisten mit immer neuen Mails aus der DFL
-Zentrale bombardiert worden, in denen die Einhaltung immer neuer Bestimmungen, deren Korrektur oder schlichtweg ihr Gegenteil gefordert wurde. Dazu bekam er auch den Unwillen jener Journalisten und Fotografen ab, deren Akkreditierungswünsche er nicht erfüllen konnte, weil nur zehn Presseplätze und drei für Fotografen zu vergeben waren.
Er hätte mit seiner Frustration gut zu der Stimmung gepasst, die sich abends im Mannschaftshotel in Berlin, in das wir inzwischen wieder umgezogen waren, explosionsartig breitmachte. Bislang waren die Spieler reichlich geduldig mit allen Zumutungen umgegangen, das änderte sich aber, als Ruhnert sie um 20 Uhr zusammenholte, um zu verkünden, was sich schon herumgesprochen hatte. Eigentlich hätten sie am nächsten Morgen nach dem Abschlusstraining nach Hause gehen dürfen, auch das war mit der DFL
so abgesprochen gewesen, um sich am Sonntagmorgen zum Spiel wieder zu treffen. Damit wäre Union die einzige Mannschaft gewesen, die nicht direkt aus der Quarantäne auf den Platz gegangen wäre. Also war auch diese Zusage am Freitagmittag wieder zurückgezogen worden, weshalb Ruhnert nun in der unerfreulichen Situation war, ihnen sagen zu müssen, dass sie auch am Samstag zusammenbleiben müssten. Und das nervte gewaltig.
Grischa Prömel und Rafał Gikiewicz waren die Ausnahme, sie freuten sich. Beim einen war die Freundin nicht da, beim anderen
die ganze Familie, und bei beiden war der Kühlschrank leer. »Hier bekommen wir gutes Essen, für mich ist das besser«, sagte Prömel leise, aber die meisten seiner Kollegen sahen das anders. Selbst Christopher Trimmel, sonst in allen Krisenmomenten ein Mann des Ausgleichs, war so sauer, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. »Wir sind im Moment nur Marionetten«, sagte er.
Ruhnert kündigte an, der Klub würde sich noch in aller Form beschweren. Er erzählte, dass er noch eine Stunde zuvor die letzte von fünf Mails von der DFL
zum Ablauf des Spieltags bekommen hatte. Es war völlig klar, dass in der Zentrale des Verbandes helle Aufregung herrschte, dass beim Restart etwas schiefging oder sich auch nur der kleinste Angriffspunkt bot, denn noch immer stand die Öffentlichkeit der Wiederaufnahme der Bundesliga mehrheitlich ablehnend gegenüber. Es musste also alles klappen, in diesem Fall auf Kosten der Spieler von Union Berlin.
Nachdem Ruhnert gegangen war, besprach sich die Mannschaft noch einmal untereinander, nun schon zum zweiten Mal in dieser Woche. Neven Subotic forderte dabei seine Kollegen auf, das Hotel aus Protest zu verlassen. Dieser Protest richtete sich nicht gegen den Klub, sondern gegen die DFL
. Ein paar Tage zuvor hatte Subotic bereits mit einem Interview für Aufsehen gesorgt, in dem er beklagte, dass bei der Entwicklung des Konzepts für die Wiederaufnahme der Bundesligaspiele keine Vertreter der Spieler am Tisch gesessen hatten. Inzwischen hatte er auch begonnen, eine neue Spielervereinigung zu gründen, weil er die deutsche Spielergewerkschaft zu zahnlos fand. Auch innerhalb der Mannschaft warb Subotic dafür. Die Resonanz darauf war übersichtlich, wie ich überhaupt den Eindruck hatte, dass Subotic und Union sich etwas entfremdet hatten. Ich war bei der Diskussion nicht dabei, hörte aber, dass darüber abgestimmt wurde, ob die Spieler bleiben oder gehen wollten. Der Mannschaftsrat sprach sich dagegen aus, und letztlich neigte die Stimmung nicht zur Rebellion, nur zwei oder drei Spieler schlossen sich Subotic an. Damit war die Entscheidung gefallen: Sie blieben.
Aber den Eindruck, es ginge bei der Wiederaufnahme der
Bundesliga um die Spieler am wenigsten, hatten nun alle. »Ich bin während der Corona-Pause in einem Interview zu einem möglichen Neustart der Bundesliga gefragt worden, ob wir uns da nicht wie Laborraten vorkommen«, erzählte mir Michael Parensen spät am Abend. »Damals habe ich das nicht so empfunden, aber jetzt schon.« Die Frage war nun, ob der Leitwolf und der Hütehund die Mannschaft unter diesem Eindruck zusammenhalten konnten.