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Schmerz sei mein Meister
Berufsfußballer führen ein Leben mit dem Schmerz. Dieser Umstand war mir zuvor nicht klar gewesen. Aber wenn man in anderthalb Stunden neun oder zehn Kilometer zumeist ziemlich schnell läuft, tut das Knie weh. Wenn der Gegenspieler einen tritt oder mit dem Fuß auf die Zehen steigt, hat man Schmerzen. »Es gibt keinen Tag, an dem du als Profi morgens aus dem Bett aufstehst und sagst: Mir geht es perfekt. Und selbst wenn nur die Hornhaut unterm Zeh drückt, der Fußnagel angeschlagen oder ein Muskel fest ist«, erklärte mir Max Perschk. Und der Physiotherapeut sagte auch, wer das nicht akzeptieren könne, wäre nicht in der Lage, den Beruf lange auszuüben.
Wenn aber das gute Gefühl generell so wichtig ist, dass beharrlich alles Störende weggehobelt wird, muss jeder Spieler einen Umgang mit Schmerzen finden, denn der ist das Gegenteil eines guten Gefühls. So kam Christopher Trimmel am Spieltag zu den Physios und holte sich eine Schmerztablette. Er hatte sich mal eine Sprengung des Eckgelenks in der rechten Schulter zugezogen, die eigentlich operiert hätte werden müssen. Weil das aber mit einer längeren Reha verbunden gewesen wäre, hatte er bislang darauf verzichtet und wollte bis nach dem Ende seiner Karriere mit dem Eingriff warten. Weil er in den Spielen häufiger Einwürfe machen musste, nahm er die Schmerzmittel, ansonsten hielt er das aus.
Trimmel war überhaupt gut darin, Schmerzen auszuhalten, weil er sie nicht so stark empfand. »Für ihn ist eine Prellung wie für andere ein Schnupfen«, sagte Perschk. Es gab in der Mannschaft noch mehr Spieler, die hart im Nehmen waren. »Wenn Seb zu mir kommt, haben wir wirklich ein Problem«, meinte Mannschaftsarzt Clemens Gwinner. Sebastian Andersson hatte ein paar Wochen lang mit einem gebrochenen Nasenbein gespielt, bevor er sich meldete. Auch über einen ausgerenkten Ellbogen war er lange kommentarlos hinweggegangen. Florian Hübner galt als ein weiterer Spieler mit hoher Schmerztoleranz – wobei es auch auf die Umstände ankam. »Wenn er nicht spielt, empfindet er Schmerzen deutlich intensiver, als wenn er im Flow ist. Dann lebt er sein Leiden auch aus«, sagte Perschk. Es gab also nicht die Harten und die Weichen, sondern es kam auch immer darauf an, in welcher Situation ein Spieler gerade steckte. Jakob Busk etwa hatte sein Probetraining bei Union Berlin im Januar 2015 nicht abgebrochen, obwohl die Nägel seiner großen Zehen entzündet und die Füße wegen der Kälte durchgefroren waren. Danach waren die Fußballschuhe voller Blut gewesen, aber er hatte durchgehalten, weil er seine Verpflichtung nicht gefährden wollte. Auch er hatte vorher eine Schmerztablette genommen.
In der Woche nach dem Spiel gegen Bayern lief im Fernsehen eine Reportage über den problematischen Umgang mit Schmerzmitteln im Fußball, und Neven Subotic war einer der Zeugen dafür gewesen. »Im Fußball kommen immer wieder auch diese Machosätze, um den Spielern ein schlechtes Gewissen zu geben, wenn sie sich nicht überwinden, mit Verletzung oder mit Schmerzmitteln zu spielen«, sagte Subotic dort. »Es heißt dann immer, wenn du spielen willst, kannst du das nehmen, dann fühlst du dich gut und dann spielst du. Und das war’s.« So jedenfalls sähe seine Erfahrung in 14 Jahren als Profi aus.
Union hatte er nicht erwähnt, und Perschk reagierte gelassen, als ich ihn danach fragte. »So etwas habe ich weder bei uns im Nachwuchs noch jetzt bei den Profis erlebt. Eine Schmerzmedikation gehört zwar dazu, doch ein Großteil unserer Spieler überlegt wirklich drei Mal, ob sie eine Tablette nehmen wollen, und sie wollen das immer begründet haben«, sagte er. Bei der Abwägung ging es darum, dass der Schmerz nicht einfach ausgeschaltet wurde und die Verletzung sich dadurch verschlimmerte, und es durfte der Schmerzmittel nicht zu viel werden. »Ich glaube, dass es eine Riesenwende mit dem Fall Klasnic gab«, erklärte mir Perschk. Der Bremer Stürmer Ivan Klasnic hatte im Laufe seiner Karriere so viele Schmerzmittel bekommen, dass er vermutlich deshalb eine Niereninsuffizienz erlitten hatte und mit 31 Jahren eine Nierentransplantation bekommen musste. Mit den Mannschaftsärzten von Werder stritt er sich deshalb noch immer vor Gericht um eine millionenschwere Entschädigung.
Ein besonders langes Leben mit dem Schmerz hatte Sebastian Bönig hinter sich. Der Co-Trainer hatte seine Karriere in der Jugendmannschaft des FC Bayern begonnen, Spieler wie Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger oder Thomas Hitzlsperger gehörten damals zu seinen Mannschaftskameraden. Er gewann mit den Bayern die Deutsche Meisterschaft, spielte in der Jugendnationalmannschaft und kam anschließend in die zweite Mannschaft der Bayern. Auch bei den Profis trainierte er gelegentlich mit. »Aber Ottmar Hitzfeld hat sich letztlich für den Richtigen entschieden – für Owen Hargreaves«, erklärte er lachend.
Bönig wechselte dann zum damals aufstrebenden Zweitligisten LR Ahlen, wo er als 21-Jähriger im ersten Jahr sofort Stammspieler wurde. Zu Beginn der zweiten Saison verletzte er sich beim Spiel in der ersten Pokalrunde bei den Sportfreunden Siegen am Knöchel, durch einen Tritt splitterte ein Stück des Knochens ab. »Damals habe ich mich überreden lassen, mich ein paar Wochen lang fit spritzen zu lassen. Mein Ehrgeiz war leider wahnsinnig groß, und danach war ich eigentlich kaputt«, erzählte er mir. Der Knochensplitter sorgte nämlich dafür, dass noch weitere Teile des Knochens in Mitleidenschaft gezogen wurden. Im Herbst musste er sich doch operieren lassen, es war die erste von insgesamt drei Operationen, die Schmerzen im Sprunggelenk gingen nicht weg.
Sein Vertrag in Ahlen wurde daraufhin nicht verlängert, und er musste ein halbes Jahr eine Reha bei Klaus Eder im bayrischen Donaustauf absolvieren, einem bekannten Spezialisten. »Das hat mich gebrochen.« Aus dem Spieler, der mit den Besten des Landes trainiert und am großen Fußball geschnuppert hatte, war ein arbeitsloser Profi geworden, der alleingelassen versuchte, wieder gesund zu werden. In Bayerns zweiter Mannschaft durfte er anschließend als Gast mittrainieren, deren legendärer Trainer Hermann Gerland vermittelte ihm den Kontakt zu Union Berlin.
Ähnlich wie Michael Parensen konnte Bönig sich mit den Anfang 2005 noch spartanischen Umständen und der Umkleidekabine im Container An der Alten Försterei anfangs kaum anfreunden. »Ich dachte, wo bin ich hier? Es war richtig schlimm.« Doch er blieb die verabredete Woche, an deren Ende es ein Testspiel in Dessau gab, wohin den damaligen Drittligisten über 100 Union-Fans begleiteten. Das signalisierte Bönig, dass es möglicherweise etwas Besonderes auf sich hatte mit diesem Klub. »Die Fans waren gleich sehr freundlich zu mir. Und ich hatte immer noch diesen Traum von der Bundesliga, also brauchte ich Spielpraxis.« Zunächst ging es mit Union zwar herunter in die Vierte Liga, aber dann direkt wieder zurück. Er gehörte auch zu der Mannschaft, die den Aufstieg in die Zweite Liga schaffte, danach aber wurde sein Vertrag nicht verlängert – und er beendete seine Karriere. Mit 27 Jahren.
Sebastian Bönig hatte die ganze Zeit über Schmerzmittel genommen. Es waren mehr an kalt-feuchten Trainingstagen und weniger an sonnig-warmen gewesen, aber an Spielen ohne Schmerzmittel war nicht zu denken. Manchmal versuchte er auch Pausen einzulegen, in denen er weniger Tabletten nahm. »Mir war schließlich schon klar, dass das nicht gut sein konnte, aber damals fehlte die Aufklärung«, erzählte er mir. Es hatte den Fall Klasnic noch nicht gegeben. Den Schmerz einfach auszuschalten, gehörte zur Fußballkultur noch dazu.
Als Union nicht mit ihm weitermachte, verließ Bönig Berlin. »Ich musste weg, um dem Traum, dem ich die ganze Zeit hinterhergehechelt hatte, endlich Tschüss zu sagen. Es hätte mich zerstört, wenn ich geblieben wäre.« Daheim in Erding betrieb er anderthalb Jahre erfolgreich eine Fußballhalle, bis er im Winter 2011 zurückkehrte und als Assistent der U19 bei Union seine Trainerkarriere begann. »Ich bin heute dort, wohin ich immer wollte, in der Bundesliga. Deshalb bin ich dem Verein unheimlich dankbar«, sagte er. Aber vielleicht wäre er in der Bundesliga viel früher angekommen, wenn er einst in Ahlen den Schmerz nicht weggespritzt hätte. Und weil es viele solcher Geschichten gab, die erzählt wurden, war es kein Wunder, dass Spieler inzwischen dreimal fragten, ob sie eine Tablette wirklich nehmen sollten.