Die zusätzliche Nacht im Hotel und die Debatten darüber, das Fehlen des Trainers beim ersten Spiel und der gestrichene freie Tag ließen das nervöse System wieder nervöser werden, obwohl zumindest das Spiel gegen die Bayern dazu keinen Anlass geliefert hatte. Es waren auch noch acht Spiele, um die fehlenden fünf oder sechs Punkte zu holen, die Ausgangsposition war weiterhin gut. Aber die Perspektive darauf begann sich zu ändern.
Es ist ausführlich erforscht worden, dass sich Menschen über einen Verlust stärker ärgern, als sie sich über einen Gewinn freuen. Wir ärgern uns mehr, wenn wir 50 Euro verlieren, als wir uns darüber freuen, wenn wir 50 Euro finden. Einen ähnlichen Effekt kann man im Fußball beobachten. Wenn eine Mannschaft einen Zwei-Tore-Vorsprung verspielt und eine Partie 2:2 ausgeht, wird das in aller Regel als äußerst frustrierend empfunden. Umgedreht ist es zwar schön, nach zwei Toren Rückstand noch den Ausgleich zu schaffen, aber der Gefühlsausschlag ist meist nicht so stark wie im umgekehrten Fall. Nicht selten wird eine Mannschaft gerade nach einer Führung nervös, weil sie plötzlich etwas zu verlieren hat. Oder ein Team an der Tabellenspitze stellt plötzlich fest, dass es nun nichts mehr zu gewinnen hat, weil es ja oben steht, aber zu verlieren.
Deshalb hatte Fischer seinen Spielern immer wieder gesagt, dass sie nichts zu verlieren und alles zu gewinnen hätten, ganz vehement vor und nach dem Spiel in Freiburg. Auch in Barsinghausen hatte er darüber gesprochen. Aber in der langen Pause, die Union mit einem komfortablen Abstand zu den Abstiegsplätzen verbracht hatte, war vielleicht in die Köpfe gekrochen, dass sie nicht mehr der struppige Außenseiter waren, der nichts zu verlieren hatte. »Sie hatten viel Zeit zum Nachdenken«, sagte Markus Hoffmann. Zeit zum Nachdenken darüber, was passierte, wenn
man den Vorsprung noch verspielte. Doch zunächst einmal verloren sie die viel besungene Position als Berlins Nummer eins.
Als Dirk Zingler am Samstagmorgen nach der Klatsche im Derbyrückspiel bei Hertha BSC
mit seinem E-Bike zum Stadion kam, grinste er. »Ich finde, wir sollten das abhaken und vergessen«, sagte er und wischte sich mit den Fingerspitzen über die Schulter, als wolle er eine imaginäre Fluse loswerden. »Hertha ist doch nur Geister-Stadtmeister.« 0:4 hatten Union am Vorabend im Olympiastadion verloren, alle Tore waren nach der Pause gefallen, die ersten beiden innerhalb von nicht einmal zwei Minuten. Adrian Wittmann konnte daraufhin seiner Beispielsammlung für falsches Verhalten nach ungewöhnlichen Momenten ein weiteres hinzufügen. Nach dem 1:0 für Hertha hatte Florian Hübner bei einem Zweikampf spekuliert. Er war ins Mittelfeld vorgerückt, um dort ein Kopfballduell zu gewinnen, anstatt nach hinten abzusichern, und hatte es prompt verloren. Spekulieren war im Regelwerk von Fischer streng verboten. Er hatte dadurch eine Fehlerkette ausgelöst, die zum 2:0 führte. Schwach spielten in der zweiten Halbzeit jedoch fast alle, und das war nicht das einzige Problem.
Akaki Gogia hatte mich eingeladen, das Spiel bei ihm zu Hause gemeinsam zu schauen, der gesperrte Keven Schlotterbeck und Florian Flecker waren auch da gewesen. Noch waren die Regeln für die Geisterspiele so streng, dass nicht einmal die Spieler ins Stadion durften, die nicht im Kader waren. Also hatten wir bei Gogia im Wohnzimmer gesessen, wo die Stimmung in der zweiten Halbzeit in den Keller gegangen war, zum Ende des Spiels wurde fast durchgeschwiegen.
Auch Markus Hoffmann und Sebastian Bönig saßen am Samstagmorgen schweigend an ihren Schreibtischen. Als ich sie fragte, ob sie schon sprechen würden oder ob ich lieber gehen solle, schwieg Bönig weiter. Hoffmann sagte: »Das ist eine Niederlage, und damit müssen wir umgehen.« Das war eine gute, weil professionelle Antwort. Sie wurden nicht dafür bezahlt, besonders sauer oder besonders frustriert zu sein, weil der Lokalrivale sie
vorgeführt hatte. Ihre Aufgabe war es nicht, die heftigsten Emotionen von allen zu zeigen, sondern die offensichtlichen Probleme zu lösen. Und die zweite Halbzeit im leeren Berliner Olympiastadion war die schlechteste der Saison seit dem aufgeregten Durcheinander am ersten Spieltag gegen Leipzig gewesen.
So war ich nicht überrascht, dass Oliver Ruhnert vor der üblichen Analyse am Tag nach dem Spiel zur Mannschaft sprach. Solche Auftritte von ihm waren selten, und dieser geriet zu einer fast halbstündigen Ansprache, die zwischendurch überraschend emotional ausfiel. »Die Nacht war sehr kurz«, sagte er, »du versuchst Dinge zu erklären, die du selber nicht verstehst.« Er fand, dass der Trend in der Saison nicht mehr stimmte. »Freiburg war schon scheiße, Bayern war okay, aber gestern haben wir etwas getan, was diese Mannschaft nie tut: Nach den Gegentoren habt ihr euch nicht mehr gegenseitig gepusht, unterstützt und geholfen.« Ruhnert erinnerte die Spieler an ihr Saisonziel, mehr als 40 Punkte holen zu wollen, und auf welche Weise sie bislang zu 30 Punkten gekommen waren. Er erinnert sie auch daran, dass alle gut verdienen würden, wenn die Mannschaft in der Klasse bliebe. »Jetzt geht es darum, den letzten Schritt zu machen.« Nur, so wie sie in der zweiten Halbzeit gegen Hertha gespielt hatten, würde das schwer werden.
Und es gab da noch etwas. Bevor Fischer in seine Analyse einstieg, sagte er: »Jetzt verlierst du mit 0:4, die Art und Weise ist eine Katastrophe. Und worüber wird nach diesem Spiel als Erstes geredet? Dass einer die Verzichtserklärung nicht unterschrieben hat.« Er nannte keinen Namen, aber Zingler erzählte mir, dass Sebastian Polter sich geweigert hatte. Er überlegte, ihn für die restlichen Spiele der Saison zu suspendieren.
Am Dienstag gab es bereits das nächste Abschlusstraining, denn am Mittwochabend würde es gegen Mainz 05 gehen. Ich schaute zu, wie die Spieler in Serie aufs Tor ballerten. Zwei Tore standen auf einem Platz, der so groß war wie zwei Strafräume, und in den verschiedensten Varianten schlossen sie ab, danach liefen sie an mir vorbei, und ich klatschte, wenn sie ein gutes Tor erzielt hatten. Urs Fischer stand am anderen Ende des Spielfelds, ich hörte nicht,
was er rief. Aber als Robert Andrich an mir vorbeilief, polterte er vor sich hin: »Immer nur negativ! Das kotzt mich an!« Wenn Andrich, der Mittelfeldspieler mit dem kantigen Schädel, genervt war, hielt er es nicht zurück. Er hatte eine mitunter rotzige Art, die mir gefiel, sowohl auf dem Platz als auch jenseits davon. Andrich war authentisch, und gerade schien ihm ganz authentisch sein Trainer auf die Nerven zu gehen, weil er die Spieler zu wenig lobte.
Ich war verblüfft über die Vehemenz seiner Reaktion. Fischer war unübersehbar frustriert von der Art und Weise gewesen, wie die Derbyniederlage zustande gekommen war, mehr noch aber von dem ganzen Gerede, den Krisensitzungen und der immer noch nicht beendeten Debatte ums Gehalt. Nachmittags würde es noch eine Sitzung mit Zingler und Ruhnert geben, um zu beschließen, wie es mit Polter weiterging. Aber eigentlich teilte ich den Eindruck von Andrich nicht. Als Trainer war Fischer unverändert, wenn auf dem Trainingsplatz etwas nicht funktionierte. Und wenn er zufrieden war, sagte er das auch. Doch nun schien sich die Mannschaft mehr Lob von ihm zu wünschen.
Beim Spiel gegen Mainz gab es die andere Seite von Andrichs Aggressivität zu sehen, noch vor der Pause flog er vom Platz, nachdem er die zweite Gelbe Karte gesehen hatte. Die erste Verwarnung war zu hart gewesen, die zweite war es nicht und hätte ihm nicht passieren dürfen. Zu diesem Zeitpunkt hatte Union den frühen Führungstreffer von Mainz zwar ausgeglichen, in Unterzahl ging es nun aber vor allem darum, nicht das vierte Spiel hintereinander zu verlieren. Das gelang auch mit viel Engagement und Kampf, es gab sogar kurz vor Schluss noch die Chance aufs Siegtor, aber die Gelegenheit, mit einem Sieg gegen einen Konkurrenten im Abstiegskampf einen großen Schritt weiterzukommen, war verpasst.
Während des Spiels hatten sich außerhalb des Stadions, hinter der Tribüne an der Waldseite, zwei Dutzend Fans versammelt. Da sie die Abstandsregeln einhielten, hatte die Polizei sie nicht vertrieben, und man konnte ihre Gesänge bis ins Stadion hören. Wie
dankbar die Spieler für ihre Unterstützung waren, war nach dem Schlusspfiff zu sehen. Geschlossen verließ die Mannschaft den Platz, um sich bei ihnen zu bedanken. Sie kletterten auf jene Holztische, an denen sonst Fans saßen, um Würstchen zu essen und Bier zu trinken, um sich den Fans auf der anderen Seite des Stadionzauns zu zeigen, der inzwischen mit einer Sichtblende versehen worden war. Der Dank war echt, das Publikum fehlte ihnen wirklich.
Am 28. Mai um 11.44 Uhr, am Tag nach dem Spiel gegen Mainz und drei Tage vor dem Auswärtsspiel bei Borussia Mönchengladbach, stellte der 1. FC
Union Berlin eine Stellungnahme von Zingler auf seine Website. Dort hieß es: »Es gehört zu den elementaren Werten des 1. FC
Union Berlin, dass wir Unioner eine solidarische Gemeinschaft bilden, in der wir füreinander und für unseren Verein einstehen. Sebastian tut das als einziger Spieler der gesamten Lizenzspielerabteilung mit Mannschaft, Trainer- und Betreuerteam leider nicht. Das ist für uns nicht nachvollziehbar und sehr enttäuschend. Es ist meine dringlichste Aufgabe, gerade in schwierigen Zeiten, den Zusammenhalt aller Klubmitarbeiter und Spieler zu schützen, um unsere sportlichen Ziele nicht zu gefährden. Wir haben deshalb entschieden, dass Sebastian ab sofort nicht mehr Teil unseres Spieltagskaders sein wird.«
Als ich mit Zingler über Polters Weigerung gesprochen hatte, die ausgehandelte Gehaltsvereinbarung zu unterschreiben, sagte ich ihm, dass ich es seltsam fände, Polter für etwas zu sanktionieren, das als freiwillig etikettiert worden war. Ich verstand aber auch seinen Wunsch, das Thema zu beenden, weil es innerhalb der Mannschaft noch für Unruhe sorgte. Dass einer ausscherte, gab anderen vielleicht doch das Gefühl, es sei blöd gewesen, die Einigung zu unterschreiben. Es war also kompliziert.
Seltsam an Polters Weigerung wiederum war, dass er als Mitglied des Mannschaftsrates von Beginn an zu den Profis gehörte, die die Vereinbarung mit ausgehandelt hatten. Als ich mich mit ihm darüber unterhielt, sagte er: »Ich finde es lobenswert, wie wir
uns darum gekümmert haben, und glaube, wir haben das Bestmögliche für die Mannschaft rausgeholt. Ich bin Teil der Mannschaft, aber insofern auch nicht Teil, weil ich etwas von dem ganzen Entwurf hinterfrage. Ich war nämlich von Anfang an dagegen, dass wir die Stundung über drei Jahre ziehen.« Letzteres leuchtete mir ein, aber wie er zugleich Teil der Mannschaft und kein Teil der Mannschaft sein konnte, überstieg meine Vorstellungskraft.
Auf jeden Fall hatte Polters Rechtsanwalt ihm dringend geraten, die Vereinbarung nicht zu unterschreiben und das ausstehende Gehalt nur über einen kurzen Zeitraum zu stunden, bis zum Ende der Saison etwa oder vielleicht auch bis zum Ende des Jahres. Das aber hatte der Verein nicht akzeptiert. Ihn bis zum Ende der Saison nicht mehr spielen zu lassen, hätte Polter aber gerne nicht mit seinem Verhalten in dieser Frage begründet gesehen. »Wenn du willst, dass ein Spieler dem Kader nicht mehr angehört, findest du andere Wege, das zu begründen. Ich hätte es nicht öffentlich gemacht.«
Seine Argumentation machte mich ähnlich ratlos wie schon die Diskussion über den fehlenden Vertrauensvorschuss durch den Trainer. Besonders irritierend hier aber war, dass Polter mir auch noch eröffnete, dass er das Geld, um das er so vehement stritt, nicht einmal für sich selbst haben wollte. »Ich werde das spenden, was ich wiederbekomme. Dann habe ich sogar verzichtet und nicht nur gestundet. Na ja, ich bekomme eine Spendenquittung und die Hälfte über die Steuer wieder, aber trotzdem.« Sebastian Polter, dieser freundliche Riese, ich verstand ihn nicht. Aber wie hatte Sebastian Bönig über den Stürmer gesagt, für den er sich im Trainerteam immer wieder starkgemacht hatte: »Der Polti ist der Polti.« Und vielleicht ging es Polti letztlich darum, das noch einmal klargemacht zu haben. Aber klar war auch, das nervöse System war durch ihn noch einmal nervöser geworden, und helfen würde er im aufziehenden Abstiegskampf auch nicht mehr.