Es gab Momente, in denen man merkte, dass der Präsident und sein Trainer auf unterschiedlichen Seiten des Planeten Fußball lebten. Wie etwa, als der Flughafenbus in Düsseldorf uns vom Gate zu unserem Charterflugzeug brachte. 1:4 hatte die Mannschaft nachmittags bei Borussia Mönchengladbach verloren, und danach hatte Zingler von einem Freund eine SMS
bekommen, in der auf rotem Grund in weißen Buchstaben zu lesen stand: »Wer seit 10 Jahren zu Union geht, leidet momentan. Wer seit 25 Jahren zu Union geht, hat Schlimmeres erlebt. Wer 40 Jahre und länger zu Union geht, lebt immer noch seinen Traum. EISERN
!«
Das war klassische Fußballfan-Lyrik, die man sich zur Erbauung schickte, wenn die eigene Mannschaft sportlich verprügelt worden war oder es in der Tabelle trostlos aussah. Zingler hatte sie erst mir gezeigt und dann Fischer, der seinen Präsidenten daraufhin ratlos anschaute, weil das gerade überhaupt nicht die Botschaft war, die ihm half. Er war nun mal kein Fan, sondern der Mann, der dafür sorgen musste, dass sich Fans solche Sprüche nicht schicken mussten.
Ihn beschäftigte etwas anderes. »Ich frage mich, was wir die ganze Woche gemacht haben«, hatte er beim Warten am Gate zu Adrian Wittmann gesagt, und dann hatten sie angefangen, sich die Szenen des Spiels anzuschauen. Wobei es auch in der Nachschau unübersehbare individuelle Fehler vor jedem der vier Gegentore gegeben hatte. Nach einer ratlosen ersten Halbzeit hatte Fischer zur zweiten Halbzeit zum ersten Mal seit Monaten wieder auf eine Viererkette in der Abwehr umgestellt, und das hatte dem Spiel zunächst gutgetan. Sebastian Andersson hatte den Anschlusstreffer zum 1:2 erzielt, aber Grischa Prömel verlor vor dem dritten Gegentor den Ball in der eigenen Hälfte, und Marvin Friedrich stand beim vierten falsch
.
Die Niederlage und die vier Gegentore, zum zweiten Mal innerhalb von acht Tagen, waren aber nicht der einzige Schaden des Tages. Christopher Lenz hatte verletzt ausgewechselt werden müssen oder hätte vermutlich gar nicht spielen dürfen. In der Woche nach dem Spiel gegen die Bayern hatte er sich verletzt, gegen Hertha und Mainz gefehlt, zwischendurch halb trainiert und halb nicht, sich aber für Mönchengladbach spielfähig gemeldet, wohin er einst als Jugendspieler gewechselt war, sich aber nicht hatte durchsetzen können. Mir war nicht ganz klar, ob Lenz sich für fit erklärt hatte, weil er den Wunsch seines Trainers spürte, oder ob er in Mönchengladbach unbedingt zeigen wollte, dass aus ihm ein richtiger Bundesligaspieler geworden war. Richtig schlimm wurde es, als sein Ersatz Julian Ryerson keine zwei Minuten nach seiner Einwechselung gefoult wurde, die Rückreise auf Krücken antrat und so für den Rest der Saison ausfiel.
Als wir in Mönchengladbach auf die Abfahrt der Busse zum Flughafen warteten, war Rafał Gikiewicz auf mich zugekommen. Entgegen seiner Gewohnheit rief er weder »Skandal« noch »Katastrophe«, sondern sprach beängstigend leise. »Schwierige Phase, du hast eigentlich ein gutes Gefühl und bekommst vier Gegentore«, sagte er. »Wir haben eine junge Mannschaft, und die Trainer müssten positiver sein.« Nun war die Mannschaft alles andere als jung, es gab auch wenig Gründe, um positiv zu sein, aber interessant war schon, was gerade so geredet wurde.
Auch der sehr beflissene Marius Bülter tutete in das Horn, als ich im Flugzeug mit ihm sprach. Vor allem beim Spiel gegen Mainz 05 war er immer wieder von Fischer ermahnt worden. »Büülllttiii«, hörte man es durch das leere Stadion hallen. Dass Union 50 Minuten lang in Unterzahl spielte, bedeutete vor allem für Bülter und Ingvartsen (»Maarrrccusss!«), dass sie zusätzliche Wege gehen mussten, um das gegnerische Spiel zu unterbinden. Als ich Bülter fragte, ob ihm das auf die Nerven gegangen wäre, schüttelte er den Kopf, sagte aber: »Ab und zu eine Ermutigung wäre aber auch ganz schön gewesen.«
Begann der Trainer gerade, seine Mannschaft oder zumindest
einige Spieler zu verlieren? Oder begann das Team, sich Erklärungen für die sportlichen Probleme zu suchen und sie ihrem Trainer in die Schuhe zu schieben? Aus den ersten vier Spielen seit der Wiederaufnahme der Bundesliga hatten sie nur einen Punkt geholt, der Abstand auf Platz 16 betrug nur noch vier Punkte. Der letzte Sieg lag über vier Monate zurück. Kein Zweifel: Nun begann die Crunchtime! Die Zeit der Entscheidung, in der es knirscht und kracht.
Fischer hatte mich vor dem Saisonbeginn gewarnt, dass es Momente geben könnte, in denen er »dünnhäutiger« würde. Nun war es so weit, wobei ich Fischer und auch Hoffmann eigentlich nicht als übermäßig empfindlich empfand. Ich nahm sie, als es auf das Heimspiel gegen Schalke zuging, eher als ungewöhnlich aggressiv wahr. Sie waren nicht laut, tobten nicht, eher schien eine dunkle Kraft in ihnen zu wirken, die vorher nicht da gewesen war, die ich übersehen hatte oder die sie vor mir verborgen hatten.
Zum ersten Mal fühlte ich mich unwohl und ging ihnen aus dem Weg. Ich war nicht der Einzige. Svenni stöhnte: »Hoffentlich ist die Saison bald vorbei, ich halte diese Anspannung nicht mehr aus.« Am Donnerstag und am Freitag führte Fischer mit allen Spielern noch mal Einzelgespräche. Donnerstags gab es auch ein gemeinsames Grillen, und davor setzte sich die Mannschaft noch mal zum Gespräch zusammen, weil wieder interne Themen aufgelaufen waren. Die Hotelzimmer in Mönchengladbach waren zu warm gewesen, und einer der Reservisten hatte angeblich keine Lust gehabt, nach Mönchengladbach mitzufahren. Puh!
Beim Abschlusstraining vor dem Spiel gegen Schalke kam Michael Gspurning zu mir und sagte: »Christoph, ich gebe dir den Rat: Halte dich ein wenig zurück.« Ich schaute ihn erstaunt an und fragte, ob ich mich falsch verhalten hätte, aber der Torwarttrainer schüttelte den Kopf. Er meinte das eher prophylaktisch, außerdem hatte er ein schlechtes Gewissen. »Vielleicht hätte ich dich nicht in die Übung einbauen sollen.« Ein paar Tage zuvor hatte er mich gebeten, bei der Arbeit mit seinen Keepern als menschliche Sichtblende zu fungieren. Ich hatte mich daraufhin neben einen
der Torhüter knien müssen, und gemeinsam verstellten wir dem jeweiligen Kollegen im Tor den Blick, wenn Gspurning aufs Tor schoss. Das war kein Unfug gewesen, aber vielleicht hatte sich jemand beschwert.
Als die Taktikübung im Abschlusstraining vorbei war, die reines Stückwerk gewesen war, drosch Adrian Wittmann wütend einen Ball aufs Feld. Ihm hatte nicht gefallen, was er gesehen hatte, aber das ging allen so. »Adi muss noch lernen, das nicht so persönlich zu nehmen«, kommentierte Martin Krüger aus dem Hintergrund. Und ich fragte mich, welche Geschichte in dieser Woche eigentlich Gestalt annahm. Ich fragte mich, was aus Fischers Strategie geworden war, in guten Phasen die Intensität zu steigern und in schweren demonstrative Gelassenheit zu signalisieren. Vor allem aber begann ich mich vor dem Spiel gegen Schalke zu fürchten.