Dem Rat von Gspurning folgend hielt ich mich zurück, ging am Sonntag nicht ins Mannschaftshotel und fuhr mit der S-Bahn nach Köpenick. Wie absurd es war, dass ich dort der einzige Mensch auf dem Weg zum Spiel ins Stadion war! Überall entlang des Weges vom Bahnhof, auf Stromkästen, an Straßenlaternen und Schildern waren Fußballaufkleber und Graffiti diverser Fangruppen zu sehen. Ich kam auch an dem Nest vorbei, in dem schon seit einigen Wochen ein Schwanenpaar nistete, das heute nun nicht von Fußballfans gestört wurde, die aufgeregt dem Stadion zustrebten.
Dieser Spaziergang machte mir noch einmal klar, wie sehr die Mannschaft auf sich zurückgeworfen war und dass sie seit dem Re-Start ins Leere hineinspielte. Es fehlten nicht nur die Zuschauer im Stadion. Zum Fußballerleben gehörte es auch, dass ihnen Vereinsmitarbeiter über den Weg liefen, mit denen sie ein kurzes Wort wechselten. Besonders traurig war es, Achim außerhalb des Zauns zu sehen. Zingler nannte ihn »eine unserer Spezialkräfte«, man hätte ihn auch als Faktotum bezeichnen können. Achim war steinalt und dem Klub viele Jahre zuvor quasi zugelaufen, nachdem seine Frau gestorben war. Seither kam er jeden Tag, fegte den Platz vor der Kabine und machte andere kleine Arbeiten. Doch inzwischen durfte auch er nicht mehr aufs Gelände, und so stand er nicht nur am Spieltag, sondern auch sonst außen vor dem Zaun.
Es fehlten aber auch die Autogrammjäger, die nach dem Training mit ihren Mappen und Heften vor der Tür standen. Die Fans, die nach dem Spiel ein kurzes Wort mit den Spielern wechseln wollten. Selbst die kleine Presserunde unter der Woche gab es nicht mehr und die Gespräche mit Journalisten nach Abpfiff in der Mixed Zone auch nicht. Kontakt fand nur noch digital statt. Susi hatte mir erzählt, wie schlimm sie es fand, dass im Tageshotel jeder
an einem Einzeltisch saß. »Ich komme aus einer Familie mit sieben Geschwistern, und wir haben immer alle zusammen an einem Ecktisch gesessen, und jetzt sitzt hier jeder für sich.«
Einerseits führten die Unioner nun ein gleichsam entkerntes Dasein. Andererseits wurde trotzdem Fußball gespielt, weshalb es seltsam war, den Slogan »Warten auf Union« aufrechtzuerhalten. Er leuchtete auf der digitalen Werbebande im Stadion auf, dazu der kleine Reim: »Kein Virus kriegt uns klein, was zählt, ist der Verein.« In einem stillen Protest dagegen hatte Adrian Wittmann für das Trainerteam T-Shirts gemacht, auf denen »Warten auf Martin« stand. Warum gerade Martin, wollte er mir nicht erklären. Es nervte ihn aber, dass weiter auf Union gewartet wurde, obwohl der Sport längst wieder auf Hochtouren arbeitete.
Zingler hatte es gesagt und Ruhnert und Fischer und der Motivationscoach im Trainingslager und die Spieler selbst auch: Sie durften sich nicht mit dem beschäftigen, was nicht zu ändern war. Es waren halt keine Zuschauer da, daran würde auch die bitterlichste Klage nichts ändern. Aber ein Problem war es doch. Dass gerade diese Mannschaft bislang so gut durch die Saison gekommen war, lag auch daran, dass die Unioner im Stadion eine besondere Energie herstellen konnten, die einige Spieler dorthin trug, wo sie noch nicht gewesen waren. Diesen Ort aber ohne Hilfe von außen wiederzufinden, war unglaublich schwer.
Als ich in die Kabine kam, fiel mir das Atmen schwer. Man hätte die Atmosphäre in Blöcke schneiden und nach draußen tragen können. Ich ging herum, wünschte allen Glück, aber sie waren irgendwo, wo ich sie noch nicht gesehen hatte. Ja, sie verwandelten sich gerade wieder in Krieger, wie sie das vor jedem Spiel taten. Aber vor dieser Schlacht spürte ich zum ersten Mal ihre Angst. Sebastian Bönig sprach mit Anthony Ujah und Sebastian Andersson, die gemeinsam im Sturm spielen würden, und sie nickten ergeben wie kleine Kinder. Marvin Friedrich war so fern, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. Und Rafał Gikiewicz, der im Kraftraum auf dem Fahrrad saß und sich warm radelte, schaute gequält zu mir
herüber. Ich sagte nichts, schlug mir aber mit beiden Händen vor die Brust, streckte sie vor und reckte das Kinn nach vorne. Gikiewicz richtete sich auf dem Fahrrad auf, straffte sich demonstrativ und lächelte kurz.
Schon die Mannschaftssitzung im Hotel war seltsam ins Leere gelaufen, wurde mir hinterher erzählt. Der Spannungsbogen von Fischer hatte sich angeblich nicht geschlossen, und als er zum Abschluss gefragt hatte, ob sich alle bereit fühlten, war das Schweigen bleiern gewesen. Auch beim Aufwärmen vor dem Spiel war auf dem Platz von einem guten Gefühl weit und breit nichts zu bemerken. »Es war grausam, die waren so in ihrem Kopf unterwegs«, sagte Bönig und schüttelte den Kopf.
Und dann spielten sie vom Anpfiff weg Schalke 04 in Grund und Boden, gingen nach elf Minuten durch Andrich in Führung, und eigentlich hätte es zur Halbzeit 3:0 stehen müssen gegen einen ersatzgeschwächten Gegner, der noch länger als Union nicht gewonnen hatte. Was im Training überhaupt nicht funktioniert hatte, ging nun auf. Zum ersten Mal seit dem Pokalspiel in Verl stellte Fischer von Beginn an zwei Mittelstürmer auf, wieder Andersson und Ujah, und diesmal funktionierte das Duo. Dennoch stand es am Ende nur 1:1, weil Schalke glücklich ausgeglichen hatte und Union Pech vorm gegnerischen Tor hatte. Das Warten auf einen Sieg ging weiter, aber ich fuhr trotzdem mit dem Gefühl nach Hause, dass die schwarze Wolke langsam verschwand.