Ich hatte Karin und Mathias Kleinmann auf der Fanfeier im Trainingslager kennengelernt, wo sie Urs Fischer ein zweifelhaftes Kompliment gemacht hatten, als wir unten vor der Tür zufällig zusammenstanden. Es hatte damit begonnen, dass sich die beiden darüber beschwerten, dass es in der Bundesliga An der Alten Försterei dichter gedrängt zuginge als früher und die Leute rücksichtsloser geworden seien und einfach den Platz übernahmen, wenn man mal ein Bier holen ginge. »Aber das ist ja auch gar nicht mehr so nötig, weil man sich den Fußball schon anschauen kann«, hatte Karin Kleinmann gesagt, ich hatte laut losgelacht, und Fischer hatte auch schmunzeln müssen. Die Vorstellung, dass Tausende seit Jahren ins Stadion gegangen waren und sich den Fußball schön trinken mussten, nun zum Glück aber nicht mehr ganz so viel, das war schon komisch, und auch die beiden selbst mussten darüber lachen.
Karin und Mathias waren Schwaben und 1996 aus Konstanz nach Berlin gekommen, wo sie zunächst an den Prenzlauer Berg gezogen waren. Der Schwabe am Prenzlauer Berg ist in Berlin fast eine Karikatur, er gilt als die Speerspitze der Gentrifizierung, es gibt sogar einen Wikipedia-Eintrag zum Stichwort »Schwabenhass«. Dort wird daran erinnert, dass um 2010 Graffiti an den Wänden am Prenzlauer Berg gefordert hatten: »Schwaben töten«. Oder es hieß: »Wir sind ein Volk. Und ihr seid ein anderes« oder »Ostberlin wünscht dir eine gute Heimfahrt«. Doch zu der Zeit waren die Kleinmanns schon weiter nach Friedrichshagen gezogen, eine S-Bahn-Station von Köpenick entfernt.
Sie waren also Zugezogene, was in Berlin nicht weiter erwähnenswert ist, weil Berlin eine Stadt der Zugezogenen ist. Es gab die Zugezogenen auch in Köpenick und bei Union im Publikum, aber eigentlich hatte ich den Eindruck, dass hier fast alle schon
immer gelebt und Spiele angeschaut hatten. Die Kleinmanns waren ursprünglich Anhänger der Stuttgarter Kickers, deren Schicksal Mathias aus der Ferne weiterhin aufmerksam verfolgte. Aber als sie nach Berlin kamen, wollten sie am Wochenende weiterhin zum Fußball gehen. Sie probierten es mal mit Hertha oder Tennis Borussia, mit dem BFC
Dynamo oder dem Berliner AK
, sie waren auf der Suche nach einer neuen Fußballheimat. Union, damals ein Drittligist draußen in Köpenick, hatten sie zunächst nicht so richtig auf dem Schirm. Doch als sie dort zum ersten Mal ein Spiel sahen, klickte es gleich. »Ich war noch gar nicht richtig da, da hatte ich schon fünf Bier in der Hand«, erzählte Karin. Es wurde Liebe auf den ersten Blick.
Ich traf sie einige Wochen nach dem Trainingslager vor einem Heimspiel von Union in der »Abseitsfalle«, der großen Fankneipe in der Nähe des Stadions. Die Kleinmanns passten nicht in die typische Erzählung vom Union-Fan, weil sie keine Berliner oder Brandenburger waren. Außerdem waren sie Juristen, Karin niedergelassene Rechtsanwältin, Mathias arbeitete bei der Landesbank Hessen-Thüringen und pendelte zwischen Berlin und Frankfurt. Sie entsprachen also nicht dem Bild des Unioners, der Handwerker oder Facharbeiter ist und direkt von der Arbeit im Blaumann ins Stadion kommt. Ich wollte daher von ihnen wissen, ob es für sie schwer gewesen war, akzeptiert zu werden. »Nein, wir sind als Wessis gut aufgenommen worden. Union ist zwar ein Ostklub, aber ich empfinde das als nicht penetrant«, sagte Mathias. Vielleicht waren sie inzwischen auch zu lange dabei, um sich noch an etwaige Integrationsschwierigkeiten zu erinnern. Union war zu einem selbstverständlichen Teil ihres Lebens geworden und nahm darin nicht wenig Raum ein. Sie waren auch Mitglied in einem Fanklub, der »Ecke Nord« hieß, mit 65 eher gesetzten Mitgliedern. »Wir sind die Lieben«, sagte Karin.
Die Kleinmanns schauten alle Heimspiele an, aber reisten auch zu etlichen Auswärtsspielen. »Meine Lehre aus vielen Jahren mit Union unterwegs ist: Sportlicher Erfolg steht an fünfter Stelle«, sagte Mathias. Natürlich fiel in unserem Gespräch bald auch der
Satz, den alle Unioner sofort zur Hand haben, um das Besondere an ihrem Klub zu beschreiben: »Wir gehen nicht zum Fußball, wir gehen zu Union.« In der laufenden Saison hatten sie vor allem ihre Reise nach Bremen als großartig empfunden, weil die Bremer trotz der Niederlage so nett gewesen waren. In einer Kneipe waren sie mit Apfelkorn abgefüllt worden, und das war mindestens so schön gewesen wie der 2:0-Auswärtssieg.
Karin gab zu, dass der Fußball in ihren frühen Jahren mit Union mitunter richtig schlecht gewesen sei. Auf der anderen Seite war halt was anderes entscheidend. »Das blöde Wort von der Familie, hier trifft es wirklich zu«, sagte sie und erzählte von ihrem Cousin, der Anhänger von Borussia Dortmund war. Wenn sie sich trafen, schüttelte er immer den Kopf über das, was die Kleinmanns von Union erzählten, und sagte: »Ihr seht das so romantisch.«
Alle Fußballfans eint ja der letztlich rätselhafte Umstand, dass sie unbedingt wollen, dass die Roten gewinnen, die Blauen oder die Grünen und sie deshalb unerklärlich gute Laune bekommen (oder schlechte, wenn es nicht klappt) und dass diese Roten, Blauen oder Grünen in ihr Leben hineinwachsen, bis sie ein unauflöslicher Bestandteil dessen geworden sind. Darüber hinaus gibt es aber noch die reale Gemeinschaft derer, die das alles zusammen erleben, wenn sie ins Stadion gehen oder sich vorher zum Bier in einer Kneipe wie der »Abseitsfalle« treffen.
Geisterspiele bedeuteten also gerade für Unioner ein philosophisches Dilemma. Für den Verein, für seine Fans, für Spieler und Trainer. War es noch Union, oder war es nur noch Fußball? Eine sportliche Darbietung ohne weiter gehende Bedeutung? Und stimmte mein Eindruck, dass Union verdunstet war?
Mathias Kleinmann stimmte mir zu, als ich die beiden anrief. »Es war ein totaler Kulturschock«, sagte er. Die Spiele gegen Bayern und das Lokalderby wären zwei absolute Höhepunkte der Saison gewesen, und nun saßen sie zu Hause und starrten im Fernseher auf leere Ränge. »Das ist furchtbar«, sagte Mathias, und das galt auch für das, was aus ihrem Spieltag geworden war. Aus der Fahrt zum Stadion, dem Treffen vor dem Spiel in der Kneipe, dem
geduldigen Warten auf den Stehplätzen der Gegengeraden war ein Gang ins Wohnzimmer geworden. »Vorher überlegst du noch, ob du einen Tee, Kaffee oder ein Bier mitnimmst, und wenn das Spiel vorbei ist, schaltest du ab. Das war’s«, sagte er.
Wenn sportlicher Erfolg sonst an fünfter Stelle stand, rutschte er unter den neuen Bedingungen jetzt weiter nach vorne. »Ich habe mich über die Niederlage gegen Hertha viel mehr geärgert, als ich das wahrscheinlich sonst getan hätte«, sagte Mathias, denn es gab hinterher kaum noch die Gelegenheit, sie unter Freunden abzuarbeiten. Ein Bier in der Hand und das Spiel zerquatschen, bis die Niederlage nicht mehr so wehtut.
Ganz hatte sich die Gemeinschaft, in der sie sich sonst am Spieltage bewegten, aber doch nicht aufgelöst. »Es gibt ja WhatsApp und das Telefon«, sagte Karin. Also schickte man sich gegenseitig Fotos, wie man gerade das Spiel schaute, und Kommentare, während es lief. Aber eigentlich war es nicht auszuhalten.