Kurzer Versuch über den Wettkämpfer
Mit dem Sieg in Köln war die schwarze Wolke endgültig verschwunden. Die Stimmung war unversehens wieder so gut, dass ich mir fast die Frage stellte: Hatte es die Wolke überhaupt jemals gegeben? Drei Spieltage vor Schluss betrug der Vorsprung auf Platz 16 wieder sieben Punkte, und der Abstieg war nur noch eine theoretische Möglichkeit. Vielleicht konnte ich nun erfahren, was eigentlich los gewesen war, als die allgegenwärtige Anspannung mir die Luft abgeschnürt hatte. Ich kam am Dienstag ins Mannschaftshotel, abends würde das Spiel gegen Paderborn stattfinden, in dem ein Sieg den Klassenerhalt auch formal sichern würde. Ich wollte mit Markus Hoffmann darüber sprechen, und als wir uns nach dem Mittagessen zusammensetzten, erzählte ich ihm, wie unangenehm ich die Tage vor dem Spiel gegen Schalke empfunden hatte und dass ich auch bei ihm etwas Dunkles gespürt hatte, das ich behelfsmäßig »Wut« nannte.
Hoffmann wehrte nicht ab, fragte nicht nach, sondern nickte einfach. »In der Beziehung habe ich mich aber extrem weiterentwickelt. Als Spieler ist das ausgeartet. Ich habe Gegner beschimpft, getreten, geschlagen. Was ich an Strafen bezahlt und Rote Karten bekommen habe … Ich war untragbar! Ich hatte immer den Gedanken, gewinnen zu wollen – mit allen Mitteln. Aber was ich damit ausgelöst habe, war für meine Mannschaft positiv und für den Gegner katastrophal.« Er erzählte das nüchtern, es war ihm weder peinlich, noch war er stolz darauf. Es war, wie es war.
In der Deutlichkeit überraschte mich das Geständnis. Hoffmann war freundlich, mitunter nachgerade liebenswürdig. Er war zumeist demonstrativ gelassen, selbst wenn ihm während des Spiels Leuchtraketen um die Ohren flogen, wie beim Derby gegen Hertha An der Alten Försterei. Er war oft lakonisch, hatte Witz, und ich verdankte ihm einen tieferen Einblick in die Welt des
österreichischen Kabaretts, von Josef Hader bis zu Michael Niavarani, deren Humor, darauf wies Hoffmann gerne hin, abgründig war und eine dunkle Seite hat.
»Und heute brodelt immer noch was?«, fragte ich.
»Ja, das ist so.«
»Bei Urs auch, oder?«
»Ja, das gibt es bei ihm auch. Als Spieler konnte er böse werden und richtig wehtun.«
»Liegt es daran, dass ihr als Wettkämpfer bis heute keine Niederlagen ertragen könnt?«
»Das ist der Grundantrieb. Wie willst du den Job machen, wenn du den nicht hast?«
»Also war in dieser dunklen Phase der Instinkt geweckt: Da will mir jemand die Bundesliga wegnehmen?«
»Ich widerspreche dir nicht: Das lassen wir uns nicht wegnehmen.«
Fast alle Berufsfußballer sind fanatische Wettkämpfer. Natürlich gibt es bei ihnen auch ein Vergnügen an der Bewegung, sie haben eine archaische Lust am Umgang mit dem Ball und Spaß daran, sich körperlich auszupowern. Aber sie wollen sich auch miteinander messen und gewinnen, und wer im Profifußball ankommt, kann Niederlagen nicht ertragen. Sonst würden sie zu den Millionen gehören, die Fußball aus Spaß spielen, und nicht zu den Hunderten, die einen Beruf daraus gemacht haben. Inzwischen war ich sogar zu der Ansicht gekommen, dass es genauso ein Talent ist, Wettkämpfer zu sein, wie über Schnelligkeit zu verfügen oder ein hoch entwickeltes Gefühl für Raum auf dem Platz. Insofern gab es selbst unter diesen außergewöhnlichen Wettkämpfern noch Abstufungen. Es gab nämlich ebenjene, die Niederlagen abgrundtief hassten. Hoffmann gehörte dazu und Fischer auch.
Verlieren machte sie wütend. Als Trainer konnten sie diese Wut, ihren Hass auf Niederlagen, nicht ausleben, wenn sie am Seitenrand saßen. Außerdem wussten beide von vornherein, dass sie mit einer Mannschaft arbeiteten, die in der Bundesliga mehr Spiele verlieren als gewinnen würde. Aber sie wollten in jedem Spiel alles
versuchen, es trotzdem zu schaffen. »Den Anspruch, den ich an mich habe, stelle ich auch an andere. Sonst gefährdet er meinen Erfolg und dass ich meine Familie ernähren kann. Das kann ich nicht zulassen, und dafür haben sie uns geholt«, sagte Hoffmann. Deshalb konnte er schneidend unangenehm werden, wenn ein Spieler unkonzentriert trainierte, wenn der Rasen auf dem Trainingsplatz nicht richtig geschnitten war, wenn eine Reise zum Auswärtsspiel holprig verlief, das Essen zu spät kam oder zu früh. Wenn irgendetwas oder irgendwer den Erfolg gefährdete, entwickelte er eine bedrohliche Intensität.
Zum Anfang der Saison hatte Frank Placzek, der beim Training meistens mit auf dem Platz stand, um die Spieler im Notfall gleich behandeln zu können, Hoffmann darauf hingewiesen, dass Sheraldo Becker erkältet war. Es war ein regnerischer, unangenehm kühler Tag, und der Holländer tat sich sichtlich schwer. Placzi wollte wohl nahelegen, ihn zu schonen. Hoffmann funkelte ihn nur kurz an und sagte: »Er muss lernen, dass es Krieg ist.« Placzi sagte danach nichts mehr, und Becker kämpfte sich weiter durchs Training.
Hoffmann war von einem Spieler, der in Österreichs dritter Liga kickte und nebenbei für eine Versicherung arbeitete, zu einem Co-Trainer geworden, der mit dem FC
Basel fünf Schweizer Meistertitel gewonnen hatte, zweimal den Pokal und bei über 50 Europapokalspielen auf der Bank gesessen hatte. Er hatte auf dem Weg dahin größte Anstrengungen auf sich genommen. In einem Sommer war er, noch als junger Trainer in Österreich, mit dem Wohnmobil zum Trainingslager des FC
Basel gefahren und hatte zugeschaut, wie man eine Mannschaft auf eine Saison vorbereitet. Er hatte immer hart gearbeitet und mit Urs Fischer einen Partner gefunden, der das auch tat. Auch darüber waren sie Freunde geworden.
Hoffmann war sich über ihre Rollenverteilung absolut im Klaren, er wollte Co-Trainer sein: »Das Wichtigste ist, dass du deinem Cheftrainer gegenüber loyal bist.« Er mochte mit aller Kraft versucht haben, Fischer zu überzeugen, den Spielern nach dem Spiel gegen die Bayern freizugeben. Er war auch sonst nicht
selten anderer Ansicht als Fischer und hielt damit auch nicht zurück. Aber wenn die Entscheidung gefallen war, war es auch seine. »Wenn du Co-Trainer bist und immer den Gedanken hast, dass du Cheftrainer werden möchtest, mache es heute und nicht erst morgen. Es geht nicht gut, denn Co-Trainer ist ein eigener Beruf. Die Denkweise ist eine andere. Du entscheidest vieles mit, bist aber nicht der Entscheidungsträger. Du bist der Berater des Cheftrainers in allen Belangen und sein Unterstützer.« Und sein Bodyguard. Wer sich mit Fischer anlegte, würde es auch mit ihm zu tun bekommen.
Vielleicht hatte es in der Woche vor dem Spiel gegen Schalke wirklich dieses alttestamentarischen Grollens bedurft, um den Weg aus der schwarzen Wolke herauszufinden. Nach all den Diskussionen hatten sie den Fokus unbedingt wieder auf den Fußball lenken wollen. So erklärte es mir Hoffmann jedenfalls. In der Medizin heißt es immer: Wer heilt, hat recht. Im Fußball hat recht, wer gewinnt. Ich konnte gerne der Ansicht sein, dass es der negativen Intensität zu viel gewesen war und vielleicht besser gewesen wäre, die Schraubzwinge nicht so weit anzuziehen. Aber sie hatten es auf ihre Weise geschafft, und das war entscheidend. Dabei hatten sie die letzten Kräfte mobilisiert. »Das war in diesem Jahr eine Gratwanderung, mehr geht nimmer«, sagte Hoffmann. Nicht nur die Spieler hatte diese Saison ausgewrungen und erschöpft, für das Trainerteam und insbesondere den Cheftrainer galt das genauso.
»Was ist eigentlich die größte Stärke von Urs?«, fragte ich ihn.
»Sein Umgang mit Menschen ist außergewöhnlich, weil er jedem in seinem Bereich den vollen Einfluss gibt.« Hoffmann bestätigte, was Bönig und Gspurning, Wittmann und Krüger gesagt hatten. Fischer übertrug ihnen Verantwortung und gab ihnen Gestaltungsraum. »Urs sagt straight seine Meinung, auch wenn immer mal ein Spieler nicht gut damit umgehen kann. Und er hat einen ganz klaren Plan, was er auf dem Platz haben will«, sagte Hoffmann. Er machte eine Pause und schaute mich an: »Aber fragst du mich auch nach der größten Schwäche?«
Ich war erstaunt und nickte
.
»Er will und kann sich nicht verkaufen. Er will so bleiben, wie er ist. Er will niemanden erzählen, was er kann oder nicht kann.«
Hoffmann respektierte das, aber es frustrierte ihn manchmal auch. Ab und zu ahnte man, dass Hoffmann fand, dass der Mann, mit dem er nun schon seit vier Jahren zusammenarbeitete und mit dem er mehr Zeit verbrachte als mit irgendeinem anderen Menschen auf der Welt, unterschätzt wurde. Weil Fischer nicht eloquent über sich und seine Arbeit Auskunft gab, wurde seine Leistung unterbewertet.
»Weißt du, wir sind einfache Leute. Wir haben die Volksschule absolviert, eine Ausbildung gemacht und arbeiten seit vielen Jahren im Fußball«, sagte Hoffmann. Mir war klar, was er damit sagen wollte: Sie waren Arbeiter des Fußballs und keine Magier. Aber vielleicht lag die Magie ja gerade in der Arbeit.